Jürgen Schramm (1949 – 2024)

Am 27.01. 2024 starb nach langer schwerer Krankheit in Köln unser Genosse und Mitstreiter Jürgen Schramm.

Jürgen Schramm wurde am 10. Dezember 1949 in Berlin geboren. Er wuchs in einem kommunistischen Elternhaus auf. Sein Vater war Mitglied der SEW und der Partei trotz der antikommunistischen Atmosphäre in Westberlin verbunden geblieben. Jürgen schätzte die Standhaftigkeit seines Vaters und dessen Bekenntnis zu kommunistischen Grundsätzen, doch sah er, dass die SEW keinen Spielraum für eine selbständige Politik besaß. Sie war der Westberliner Ortsverband der SED.

Gleiches traf auch auf die DKP zu, die sich Ende der 60er Jahre in der Bundesrepublik gründete. Sie musste, um offen politisch arbeiten zu können, eine Vielzahl von Zugeständnissen machen, damit sie nicht als Nachfolgepartei der 1953 verbotenen KPD eingestuft werden konnte. Zum einen musste sie akzeptieren, sich nur im legalen Rahmen zu bewegen. Ihre Programmatik hatte sie darauf abzustimmen. Zum anderen war sie bedingt durch ihre ideologische Ausrichtung und finanzielle Abhängigkeit von der SED, der Verwaltungspartei der DDR, nur deren westdeutsche Regionalpartei. Die DKP besaß in zentralen Fragen der Politik wie die SEW keine Eigenständigkeit, musste die Interpretation der kommunistischen Geschichte durch die SED akzeptieren und streng den außenpolitischen Interessen der DDR wie der Sowjetunion folgen.

Beide Parteien boten für einen Heranwachsenden wie Jürgen keine Ansatzpunkte, um politisch zu arbeiten. Die Studentenbewegung und die Ende der 60er Jahre beginnenden Aktivitäten in den Betrieben setzten neue Fragen auf die Tagesordnung, denen sich SEW und DKP nur eingeschränkt zu stellen vermochten. So kam Jürgen auf der Suche nach Antworten schon während seines Ingenieurstudiums in die Nähe der Gruppe Arbeiterpolitik, der Nachfolgeorganisation der KPO. Er schloss sich ihr schließlich in Berlin an.

Nach seinem Studium nahm er eine Stelle als Ingenieur bei KHD in Köln an und trat der örtlichen Gruppe bei. Sie hatte Kontakte vor allem zu Kolleg:innen des Öffentlichen Dienstes und zu Gewerkschafter:innen verschiedener Groß- und Kleinbetriebe (u.a. Druckereien, Metall und Chemie in der Region). Sie hatten sich innerhalb des DGBs als oppositioneller Kreis organisiert und bezeichneten sich als „Gewerkschaftler gegen Sozialabbau und gegen Aufrüstung“.
Das Ende der Kölner Arpo Gruppe, zu dessen Kern Jürgen bis zum Schluss zählte, erfolgte nach dem Zerfall der Sowjetunion. Die regelmäßigen Treffen der Gruppe „Linke Gewerkschafter“ im DGB-Haus wurden immer weniger. In den folgenden Jahren löste er sich auf. Damit schwanden die Wirkungsmöglichkeiten der Kölner Gruppe nach außen. Sie schlief langsam ein.

Mitte der achtziger Jahre hielt sich Jürgen aus beruflichen Gründen für einige Monate in der Sowjetunion auf. Für den Kölner DGB organisierte er nach seiner Rückkehr eine Reise dorthin. Anfang der 90er Jahre folgte ein „privater“ Besuch Russlands, dem sich Mitglieder der Kölner Gruppe anschlossen. Jürgen brachte die gewonnenen Erfahrungen in die politische Diskussion über die Sowjetunion sowohl in gewerkschaftlichen Kreisen als auch in der Kölner Gruppe ein.

Mit dem Einzug der Digitalisierung in die Betriebe stellte Jürgen sich die Frage, ob die neuen Möglichkeiten der Datenverarbeitung und Speicherung auch für die politische Arbeit genutzt werden könnten. Schnell war ihm klar, dass die Arbeit mit dem Computer, vor allem aber die Vernetzung der PCs über das Internet, neue Möglichkeiten für die politische Arbeit erschlossen. Die Kommunikation untereinander wurde dadurch deutlich erleichtert, der Austausch von Informationen und Texten enorm beschleunigt.

Seiner Einschätzung nach brauchte es zukünftig keine privaten Archive mehr. Archivalien, ältere Broschüren, Zeitungen und Zeitschriften konnten digitalisiert und allen Interessierten im Internet zur Verfügung gestellt werden. Print-Medien, so seine Vision, würde es schon bald nicht mehr geben.

Für die Gruppe Arbeiterpolitik entwickelte er eine Homepage und ein elektronisches Archiv. Dieses frühe Engagement von Jürgen wurde von vielen Mitgliedern der Gruppe Arbeiterpolitik zu Beginn belächelt und mit Kopfschütteln begleitet. Aber wie Jürgen so war, ließ er sich nicht beirren. Er archivierte alle von der Gruppe herausgegebenen Broschüren und fast alle nach 1947 erschienenen Ausgaben der Zeitung ‚Arbeiterpolitik‘. Sie sind bis heute zugänglich. Ferner scannte er die Zeitung der KPO‚ „Gegen den Strom“, die Zeitschrift der IVKO „Der Internationale Klassenkampf“ und fast alle Jahrgänge des Organs der KPO Elsass „Arbeiterpolitik“.

Jürgen pflegte die Homepage in den folgenden Jahren, stellte neue Ausgaben der Arbeiterpolitik ein und beobachtete die Zugriffe auf die Artikel. Stolz vermerkte er in seinen Quartalsberichten, dass das Interesse am Archiv ständig wuchs.

Mit dem Zerfall der linken Zusammenhänge begann sein Engagement bei den Naturfreunden. Anfang des Jahres 2000 trat er der Organisation bei. Schon bald übernahm er Funktionen. Von 2004 bis 2006 war er in der Kölner Ortsgruppe Beisitzer für den Bereich Kommunikation, von 2006 bis 2012 deren 2. Vorsitzende und von 2012 bis 2021 deren 1. Vorsitzende. Er prägte eine Vielzahl von sozialpolitischen Veranstaltungen in Köln, sorgte für die Stabilisierung des Mitgliederbestandes und den nicht immer einfachen Übergang von der älteren zur jüngeren Generation. Er setzte sich für den Erhalt der Häuser des Verbandes ein und stemmte sich erfolgreich gegen jeden Versuch, sie zu privatisieren.

Auch das scheinbar Private war für Jürgen ein Teil des gemeinschaftlichen Lebens. Eine weite Reise nach Italien und Griechenland mit der Vespa dokumentierte er auf seiner Homepage. Über seine Erlebnisse schrieb er einen längeren Text, ganz gegen seine Gewohnheiten. Alle anderen Beiträge auf seiner Homepage zeichneten sich durch einen spartanischen Informationsstil aus. Z. B. waren die Hinweise auf seine sonstigen Interessen und Lebensgewohnheiten äußerst knapp formuliert.

Jürgen hatte, nunmehr Mitarbeiter der Bayer-AG in Leverkusen, die Möglichkeit, frühzeitig aus dem aktiven Berufsleben auszuscheiden. Mit 55 Jahren nahm er ein Abfindungsangebot seines Arbeitgebers an. Er wollte die letzten Jahre seines Lebens selbstbestimmt nutzen.

Er betreute u.a. im heimischen Köln die Homepage alternativer Gruppen und vermittelt seine Computerkenntnisse im Seniorennetzwerk Holweide an Rentner.

Jürgen wurde von seinem Vater so erzogen, dass er sich im Leben auf das Wesentliche konzentrieren solle und das war die Eigentumsfrage. Dies hieß für ihn, dass er das alltägliche Leben als politisches verstand. Nach seiner Überzeugung konnte man selbst im „falschen“ Leben etwas „Richtiges“ machen. ‚Richtig‘ war für Jürgen das Engagement in einem Wohnprojekt und später in einer Genossenschaft. Hier konnte man lernen, gemeinschaftlich Entscheidungen in einer wesentlichen Frage des Lebens zu treffen und sich bis zu einem gewissen Grad den unerbittlichen Zwängen der kapitalistischen Verwertungslogik entziehen. Beide Engagements betrieb Jürgen in gewohnt konsequenterweise. Seine hier gewonnenen Erfahrungen und sein fachliches Wissen gab er in Kursen an der VHS sowie in anderen Initiativen weiter.

Vor etwa fünf Jahren erkrankte Jürgen schwer. Seine Kommunikationsmöglichkeiten waren stark eingeschränkt. Die Kontakte zur Gruppe Arbeiterpolitik schwanden. Jürgen Schramm starb am 20. Januar 2024.

H.B. und Kölner Genoss:innen, 23.05.2024


 

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