Es gibt weitere alarmierende Meldungen, die belegen, dass oppositionelle Meinungen von Regierungen brutal unterdrückt werden. Nein, nicht nur in Ländern der Peripherie, der „Dritten Welt“, mitten in Europa! Wir reden hier wieder von Gewalt gegen Mitglieder außerparlamentarischer Gruppen, wieder sind Antifaschisten betroffen.
Dieses Mal geschah es in Ungarn unter der Rechts-Regierung von Viktor Orbán. Der Beginn der Ereignisse liegt bereits mehr als ein Jahr zurück, nämlich im Februar 2023.
Die Leidtragende ist die italienische Grundschullehrerin und antifaschistische Aktivistin Ilaria Salis, 40 Jahre, aus Mailand. Sie nahm damals an einer Demonstration gegen den sog. „Tag der Ehre“ (diesen deutschen Begriff benutzen allen Ernstes die ungarischen faschistischen Veranstalter!) in Budapest teil. Jedes Jahr versammeln sich dort Faschisten aus ganz Europa, um an eine Aktion der Waffen-SS sowie ungarischer Soldaten im Jahr 1945 zu erinnern, die sich gegen Soldaten der Roten Armee richtete. Und jedes Jahr protestieren dagegen antifaschistische Gruppen, die ebenfalls aus ganz Europa kommen.
Am 11. Februar 2023 kam es also zu Auseinandersetzungen zwischen den Faschisten und Mitgliedern der Antifa. Dabei wurden neuen Menschen verletzt, zwei davon schwer. Salis wurde von den ungarischen Behörden beschuldigt, zwei Faschisten angegriffen zu haben. Beweise dafür hatten diese offensichtlich nicht, auch eine Strafanzeige wurde nicht erstattet! Trotzdem kam sie sofort in Haft. Sie verbrachte laut der italienischen Medien Monate in „der Hölle dutzender ungarischer Gefängnisse“. Die Bedingungen dort sind katastrophal: nach eigener Aussage war Salis gezwungen, „schmutzige und stinkende Kleidung“ zu tragen und musste ertragen, sich nicht richtig waschen zu können, Seife gab es nicht! In der Mini-Zelle gab es überall Mäuse, das Bett verseucht mit Wanzen. Nur maximal eine Stunde am Tag konnte sie sich an der frischen Luft aufhalten. Und auch monatelang war ihr verboten, mit ihren Eltern in Monza Kontakt aufzunehmen.
Der Gipfel der Demütigung durch die ungarische Justiz neben den unmenschlichen Haftbedingungen waren die Bilder aus dem Gerichtssaal anlässlich der Verhandlung gegen Salis am 28. März 2023. Die Angeklagte wurde in Handschellen und Ketten an den Füßen vorgeführt, eine Polizistin führte sie an einer um ihre Schultern geschlungenen Leine in den Saal, als „handele es sich um ein Tier“. Daneben war ein Polizist in Kampfuniform postiert. Nach ungarischem Recht drohten der Angeklagten bis zu 24 Jahren Haft.
Diese Tatsache und Bilder aus dem Gericht sorgten in der italienischen Öffentlichkeit für mächtige Empörung und führten zu Solidaritätsbekundungen einzelner Politiker, auch durch Staatspräsident Mattarella. Den ungarischen Ministerpräsidenten Orbán störte das reichlich wenig. Noch dazu, weil sich die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in diesem für sie unangenehmen Fall auffällig zurückhielt.
Wie würde sie reagieren? Auf keinen Fall mochte sie, die in ihrer Jugend Mitglied der Nachwuchsorganisation des faschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) war, ihren ungarischen Kollegen und Gesinnungsfreund Orbán vor den Kopf stoßen, indem sie sich für eine – wenn auch italienische – Antifaschistin ins Zeug legte. Also blieb es bei formellen Protesten. Bezeichnender hierzu ist die Meinung ihres Stellvertreters Matteo Salvini, Präsident der ebenfalls stramm-rechten Lega. Er kritisierte Ilaria Salis wörtlich: „Wer an solch antifaschistischen Demonstrationen teilnimmt, kann auf keinen Fall eine Arbeit als Grundschullehrerin ausüben.“
Da haben wir es: Die Meinungsfreiheit in Europa wird nicht nur durch Polizeigewalt und Justiz-Willkür stark angegriffen, Berufsverbote, wie sie aktuell auch in Deutschland diskutiert werden, sind in Reichweite. Die älteren werden sich sicher noch an die Siebziger Jahre in der alten BRD erinnern…
Im Übrigen ist es auch verräterisch, wenn ein bürgerliches Blatt wie die „Zeit“ Meloni für die beschriebene „Intervention“ bei Orbán fast schon lobt: „Sie bewegt sich außenpolitisch innerhalb des vorgegebenen Rahmens. ,Ich bin nicht das Problem, ich bin Teil der Lösung´. Das ist die unausgesprochene Botschaft der Frau, die aus dem Rechtsextremismus kommt. Auch im Fall Salis gelingt es ihr, den Verdacht zu zerstreuen, sie sei aufgrund ihrer eigenen politischen Herkunft voreingenommen. Sie tut, was man von einer Ministerpräsidentin eines Mitgliedslandes der EU erwarten muss.“ Unerwähnt bleiben bei der „Zeit“ die sich aufgrund der Regierungspolitik verschärfenden innenpolitischen Zustände Italiens wie offener Rassismus, Feindlichkeit gegen Migranten, eine angestrebte Präsidialdiktatur usw.
Der Ausgang dieser Affäre mutet fast wie ein Märchen an:
Ilaria Salis wurde in Abwesenheit von ihrer Gruppierung, in der sie aktiv ist, der Alleanza verdi sinistra (Grüne Linke), als Spitzenkandidatin für die Europawahl nominiert und gewann das Mandat für das EU-Parlament. Grund dafür war die große Solidarität, die ihr in der italienischen Wählerschaft entstanden war. Damit erlangte Salis als künftige Abgeordnete Immunität. Ihrem Antrag auf Freilassung gab die Justiz in Ungarn inzwischen statt. Ilaria Salis ist am 15. Juni 2024 wieder in ihre Heimat zurückgekehrt.
Machen wir uns nichts vor: auch wenn dieser „Fall“ vergleichsweise glimpflich ausgegangen ist, können andere Kritiker und Gegner der herrschenden Klasse nicht mit einem „guten“ Ende rechnen. Nicht jeder hat diese sagenhafte Möglichkeit, einen Abgeordnetensitz zu erhalten. Die Anfeindungen, Herabsetzungen und Verfolgungen politischer Kontrahenten nehmen in der „Zeitenwende“ so richtig Fahrt auf.
M2.B., 17.07.2024
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