Michael Lüders – Krieg ohne Ende?

Buchbesprechung

Michael Lüders am 01. Oktober 2024

Wir beginnen die Buchbesprechung mit einem Zitat aus dem hinteren Teil des Buches, dem Kapitel „Ausblick: Wie geht es weiter?„, darin dem Abschnitt: „Auf der falschen Seite der Geschichte„, Seite 358:

Die hier (in den vorausgehenden Seiten des Buches, F/HU) exemplarisch aufgeführten Ereignisse und Erfahrungen ergeben sich nahezu zwangsläufig aus der ‚Selbsterniedrigung‘ (Varoufakis) deutscher Politik, die sich ohne Not in eine geistig-moralische Sackgasse begeben hat, aus der herauszufinden der Gesellschaft insgesamt sehr schwerfallen dürfte. Die hiesige ‚Ursünde‘ besteht in der Annahme, die richtigen Lektionen aus der jüngeren deutschen Geschichte habe gelernt, wer sich ohne Wenn und Aber hinter die jeweilige israelische Regierung stelle. Daraus ergibt sich die eher reflexhafte denn reflektierte Übernahme der IHRA-Definition[1] von Antisemitismus, deren Anliegen es ist, wie bereits wiederholt ausgeführt, Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichzusetzen. Im Grunde sitzt Deutschland damit in der Falle, denn der ‚israelbezogene Antisemitismus‘ ist nichts anderes als eine politische Waffe in den Händen der Großisrael-Verfechter, die sich in Politik und Medien wie zu Hause fühlen dürfen. Gibt es einen einzigen Wunsch, der ihnen nicht bereits von den Lippen abgelesen würde?“ Das ist die Argumentationsrichtung, der Michael Lüders konsequent im Buch nachgeht.

Zur sogenannten Staatsraison

Der erste Schwerpunkt dieses Buches ist die Abhandlung der deutschen „Staatsraison“, den zionistischen Macht- und Unterdrückungsstaat Israel unter allen Umständen zu verteidigen bzw. zu unterstützen. Die Voraussetzung hierzu liegt, wie bekannt, im von deutschen Nazis in Deutschland und im besetzten Europa angerichteten Holocaust. Das Bestreben der deutschen Bourgeoisie nach dem Zweiten Weltkrieg ging dahin, die „Wiedergutmachung“ für Israel als Eintrittskarte in die neue Phase der „Weltpolitik“ des Kalten Krieges zu nutzen, diesmal an der Seite der „Westmächte“ (statt allein). Daraus folgte in der herrschenden Politik der BRD, in den Medien, in der Bildungspolitik und damit in weiten Teilen der Bevölkerung eine Doppelmoral im israelisch-palästinensischen Konflikt, die weltweit (mit Ausnahme vielleicht in den USA) ihresgleichen sucht. Mit Kollektivschuld und Staatsraison im Gefüge der deutschen Politik bis in die Medien und die Bildungspolitik haben wir uns schon in früheren Artikeln befasst, auf die wir hier verweisen können[2].

Michael Lüders Buch „Krieg ohne Ende?“ ist eine gelungene Verbindung von historischer Darstellung und Diskussion der aktuellen Lage. Sie zeigt den roten Faden der zionistischen Politik und des daraus abzuleitenden siedlerkolonialistischen Projekts im ehemaligen Völkerbundsmandat Palästina bis zur Situation im gegenwärtigen Gazakrieg.

Das Buch beginnt mit dem Kapitel „Die Suche nach Vergebung: Israel und die deutsche ‚Staatsräson‘„. Der erste Satz lautet: „Deutschlands kollektive Identität beruht wesentlich auf dem öffentlichen Erinnern an die Verbrechen des NS-Regimes, wobei der Holocaust im Vordergrund steht (S. 19).“ Diese politische Festlegung war eine nicht zu umgehende Voraussetzung für die Einordnung der im Zweiten Weltkrieg geschlagenen deutschen Bourgeoisie und ihres neu gegründeten Staates BRD in das Lager der westlich-kapitalistischen Demokratien in der Systemauseinandersetzung mit dem sozialistischen Lager. Der „Westen“ wurde zwar eindeutig durch die USA dominiert. Doch in der Anerkennung dieser Gegebenheiten suchte auch das deutsche Kapital samt seinem westdeutschen Staat eine möglichst einträgliche Rolle in der Hierarchie der „westlichen“ Staatsordnung. Die Lasten der jüngeren Geschichte einzugestehen, war unabdingbar.

Weil die „Bundesrepublik … so schnell wie möglich wieder in den Kreis der zivilisierten Nationen aufgenommen werden“ wollte, musste „gesühnt„, d. h. Wiedergutmachungszahlungen geleistet werden. Adenauer und Ben Gurion wurden sich einig. Dabei galt es in Bonn „nicht als Widerspruch„, einerseits Entschädigung zu zahlen, andererseits aber „verbrecherischen Funktionseliten“ (z. B. Hans Globke im Bundeskanzleramt) zu erlauben, „ihre Kriegs- und Vorkriegskarrieren im Beamtenapparat, in Politik und Wirtschaft ungebrochen fortzusetzen“ (S. 21). Ebenso war es kein Problem, volles Verständnis für den Suezkrieg zu haben, in dem Großbritannien und Frankreich gemeinsam mit Israel gegen Ägypten unter Gamal Abdel Nasser vorgingen, der es gewagt hatte, den Suezkanal zu verstaatlichen, dessen zentrale Aktionäre eben diese westeuropäischen Mächte waren. Adenauer erwies sich hier als „Kolonialherr alter Schule„, wie sein Biograf H. P. Schwarz schrieb.

Lüders zitiert Theodor Adorno mit der Aussage, „über Aufarbeitung zu reden bedeute nicht, sie auch zu betreiben … sie könne auch von dem Wunsch geleitet sein, … die eigene Verantwortung zu relativieren oder sie schlicht vergessen zu machen (S. 23)“. Damit, so Lüders, lag er richtig. Aber auch in der israelischen Führung gab es dafür Verständnis. Im Eichmann-Prozess von 1962 in Jerusalem z. B. intervenierte Ben Gurion auf Wunsch Adenauers, damit -trotz des Eingeständnisses einer angeblichen „Kollektivschuld“ der Deutschen (s. auch hierzu unsere Broschüre) – das mühsam erreichte Ansehen der BRD nicht international beschädigt werde. Immerhin war die BRD bereits der wichtigste Handelspartner Israels in Europa.

Das Bündnis wurde damit immer enger. Der Holocaust wurde umgekehrt auch Teil der Staatsraison Israels. Übrigens wurde der Begriff „Staatsraison“ bewusst wohl erstmals von Angela Merkel in der Knesset 2008 geprägt, die reale Politik beider Länder bestimmte er schon seit den Zeiten Adenauers und Ben Gurions. Es gelang der bundesdeutschen Politik nicht, davon loszukommen, auch nicht durch die Kohl’sche Wendung von der „Gnade der späten Geburt„. Bundespräsident Richard von Weizsäcker zog daraus die Konsequenz, als er in der Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes dafür plädierte, den 8. Mai nicht mehr als Tag der Niederlage zu beklagen, sondern als „Tag der Befreiung“ zu erinnern. Damit war für die BRD eine Ausgangslage erreicht, mit dem Eingeständnis der nicht verjährbaren Verbrechen der Nazi-Vergangenheit dennoch das Streben nach politischer und wirtschaftlicher Führungsmacht in Europa zu verbinden. In unserer Gegenwart kommen auch militärische Aufrüstung und „Kriegsertüchtigung“ dazu.

Auf den folgenden Seiten beschäftigt sich Lüders unter dem Stichwort „Antisemitismus richtig verstehen“ mit der oben schon genannten IHRA-Definition, die die „wirkmächtigste in westlichen Staaten“ sei, obwohl sie nirgendwo Gesetzeskraft erreicht habe. Er kritisiert die Auffassung als „Weißwaschung des von Israel begangenen Unrechts“ (S. 37). In Deutschland stehe „jede Kritik an Israel … potenziell unter Antisemitismusverdacht„.  Das ist völlig richtig.
Lüders setzt dagegen die „Jerusalemer Erklärung“ (Text auch auf Deutsch), die von israelischen und anderen kritischen Wissenschaftler:innen ausdrücklich gegen die IHRA-Definition ausgearbeitet wurde (S. 44 im Buch). Hier wird streng unterschieden, was antisemitisch ist und was nicht: „Sie definiert Antisemitismus als ‚Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Juden als Juden (oder jüdische Institutionen als solche)‘ und zeigt anhand von Beispielen den Unterschied zwischen israelkritischen und antisemitischen Aussagen auf. Obwohl führende Holocaust-Forscher die Erklärung mitverfasst haben, spielt sie im Kontext westlicher Politik keine Rolle. Zu wirkmächtig sind die anderweitigen Akteure.

Die Jerusalemer Erklärung ist für niemanden rechtsverbindlich, sondern als Dokument von privat agierenden Autor:innen als Handreichung für die politische und wissenschaftliche Auseinandersetzung gedacht – als Leitfaden, den man sich zunutze machen kann, um Orientierung zu finden und zu vermitteln. Die immer wieder auftauchende einschränkende Formulierung „nicht per se antisemitisch“ soll besagen, dass etwa Kritik am Staat Israel und seinen Handlungen sehr wohl aus einer bestimmten Ecke aus antisemitischer Motivation erfolgen kann und in diesem Fall, in dieser Verbindung antisemitisch wäre. Das bedeutet, dass man sehr wohl darauf achten muss, in welchem Kontext und in welchen Zusammenhängen man welche Aussagen tätigt und wo man ggf. nachschärfen muss, um die eigene Absicht zu verdeutlichen.

Die derzeit in Politik und Medien wieder verstärkte Diskussion über Antisemitismus lenkt ab von der Klärung des Grundsatzkonflikts, nämlich der vom Staat Israel im wesentlichen verursachten Lebenslage der palästinensischen Bevölkerung in Israel und den besetzten Gebieten.

Weitere Themen

Der weitere Verlauf im Buch ist eine Darlegung der geschichtlichen Ereignisse über den Kampf der zionistischen, von der britischen Kolonialmacht unterstützten Guerillatruppen um die dann erfolgte Gründung des Staates Israel, die Kriege gegen arabische Staaten, die Bildung (und den Niedergang) der PLO (Palästinensische Befreiungsfront), das Oslo-Abkommen zur endgültigen Etablierung des Apartheidregimes, den Aufstieg der Hamas etc., bei der immer wieder eine gelungene Verbindung zur Gegenwart gezogen wird.

Die Nakba ist der ‚Geburtsfehler‘ Israels, der sich zwingend aus der ‚Transfer‘-Ideologie ableitet (S. 136).“ Warum hätten die Palästinenser:innen dem zustimmen sollen? Warum sollten sie den Preis für den Holocaust zahlen? Sie lehnten die Balfour-Erklärung verständlicherweise ab, und in den Jahren 1936 bis 1939 sah das Land den ersten großen „Arabischen Aufstand“ gegen die britische Kolonialmacht und die zionistischen Kampfverbände. Der Zionismus ist ein Produkt der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Er entstand einerseits als Reaktion auf antisemitische Pogrome, vor allem im Einflussbereich des zaristischen Russlands, andererseits war er nur denkbar im Zusammenhang mit den sich herausbildenden bürgerlichen Nationalstaaten. Da er sich aber bewusst nicht auf diese bezog, sondern auf ein „jüdisches Volk“, bildete er einen eigenen Nationalismus heraus. Diese Absonderung wandte sich auch gegen die Erfolge, die für die Emanzipation des Judentums als Teil der sie umgebenden Gesellschaften erkämpft worden waren.

Die von Europa ausgehende jüdische Besiedlung Palästinas begann bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Dieser Siedlerkolonialismus war und ist ein Projekt besonderer Art: Es ging im Wesentlichen nicht um die Ausbeutung billiger ortsansässiger Arbeitskraft, sondern um deren massenhafte Vertreibung. Der Holocaust in Europa setzte hier nur den endgültigen Maßstab.

In der „Nakba“, der Katastrophe des palästinensischen Volkes, verloren in der Gründungsphase Israels 750000 Palästinenser:innen ihre Heimat, viele ihr Leben durch Terror und Vertreibung durch die zionistischen Kampfverbände, unterstützt durch die britische Kolonialmacht bis zu ihrem Abzug und der Übergabe der „Schutzmacht“-Position an die USA. Doch wie wir im aktuellen Gaza-Krieg im Gazastreifen selbst wie auch im Westjordanland beobachten müssen, findet die Nakba auch weiterhin statt.

In den deutschen Medien aber ist Israel „ein ewig in seiner Existenz bedrohter Staat, der immer wieder verzweifelt um sein Überleben kämpfen muss“ (S. 176). An arabischen Friedensangeboten habe es seit 1948 nicht gefehlt, so Lüders. Doch könne Israel seinen regionalen Großmachtstatus nicht in Frage stellen lassen, denn allein das „garantiert die Durchsetzung und Beibehaltung des Projektes Groß-Israel in seinen heutigen Grenzen„. Der gegenwärtige Gaza-Krieg mit seiner Ausweitung auf Libanon und Iran belegt das erneut. Anzumerken wäre aber noch, dass die Grenzen Israels durchaus nicht feststehen, sondern in rechtszionistischen Kreisen permanent als unzureichend und damit offen dargestellt werden, in Äußerungen, die auch mehr befürchten lassen als „nur“ die Annexion des Gazastreifens und des Westjordanlandes. Israel setzt darauf, Fakten zu schaffen, die der „Westen“ mehr oder weniger zähneknirschend anerkennt.

Andererseits findet Lüders aber auch deutliche Worte zur Hamas. Deren Aufstieg erklärt er vor dem Hintergrund einerseits der Nöte der Bevölkerung durch Vertreibung und Terror seitens der zionistischen Siedler:innen, ihres Staates und des israelischen Militärs, andererseits durch das Versagen und die Einbindung der PLO in das Oslo-Verfahren und die Verwaltung des Westjordanlandes. Die Hamas wird unter diesen Umständen als Befreiungsorganisation verstanden. Wir müssen das hierzulande nicht teilen, sondern die Hamas als im Kern reaktionär eingestellte Richtung ansehen, weil sie in ihrer Programmatik von einer Anschauung ausgeht, die nicht die gesellschaftliche Verfasstheit des Menschen in den Mittelpunkt stellt, sondern die Religion. Das Leben soll von religiösen Regeln bestimmt werden.

Wir müssen sie aber als bestehende Realität zur Kenntnis nehmen. Die sozialen Kämpfe in einer Region können nur mit den jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln geführt werden und folgen den gegebenen, aus historischen Verläufen entstandenen Voraussetzungen. Die Palästinenser:innen waren aufgrund des Rückstandes in ihrer gesellschaftlichen Entwicklung, der Produktivität ihrer Arbeit, der Unterlegenheit an Organisation etc. schon zur Mandatszeit den zionistischen Verbänden nicht gewachsen. Sie sind es heute nicht gegenüber dem hochgerüsteten und vom „Westen“ unter Führung der USA unterstützten israelischen Staat. Zum Problem für Israel kann aber perspektivisch werden, dass es im globalen Süden (BRICS +) an Unterstützung verliert. Die Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof ist ein deutliches Signal, ebenso die Nicaraguas gegen Deutschland.

Auch in der deutschen Bevölkerung schwindet wohl das bisherige Verständnis: In Deutschland werden weitere Waffenlieferungen an Israel offenbar kritisch gesehen. In einer Forsa-Befragung für das Magazin „Stern“ lehnten 60 % Rüstungsexporte nach Israel ab, 31 % finden sie richtig, 9 % äußerten keine Meinung. Für die repräsentative Erhebung fragte Forsa am 17. und 18. Oktober telefonisch 1007 Teilnehmerinnen und Teilnehmer: „Wie in der Vergangenheit wird Deutschland auch in Zukunft Waffen an Israel liefern. Finden Sie das grundsätzlich richtig oder nicht richtig?“ Die mögliche Fehlerquote liegt bei plus/minus drei Prozentpunkten.

Im Jahre 1994 hat die PLO folgendes unterzeichnet: „Das Pariser Protokoll hält fest, dass Israel in allen Fragen der palästinensischen Wirtschaft das Sagen behält. Israel kontrolliert weiterhin alle Außengrenzen, alle für die besetzten Gebiete bestimmten Waren und Dienstleistungen, den Export sämtlicher palästinensischer Güter; Tel Aviv entscheidet allein über Währungsfragen und vor allem kassiert die israelische Seite alle Steuern, Sozialabgaben und Zölle in den besetzten Gebieten, die erst im nächsten Schritt an die PN (Palästinensische Nationalbehörde mit Sitz in Ramallah, F/HU) weitergeleitet werden – oder auch nicht. Das entspricht einer Militarisierung der Wirtschaftsbeziehungen, denn diese Regelung öffnet der politischen Erpressung Tür und Tor. Und davon haben alle israelischen Regierungen als Strafmaßnahme gegenüber der PN auch umfassend Gebrauch gemacht, bis heute.„(S. 230).

Diese Regelung kennzeichnet die Situation bis heute. Sie deformiert die angeblich international als „einzige Vertretung des palästinensischen Volkes“ anerkannte PLO als „Dorfsheriffs“ im Auftrag der Besatzungsbehörden im von komplizierten Strukturen des in A-, B- und C-Zonen, privilegierte israelische Straßen und eine Unmenge von Checkpoints unterteilten Westjordanlands, vom blockierten und inzwischen zertrümmerten Gazastreifen ganz abgesehen.

Ausblick

Lüders plädiert für eine Zweistaatenlösung, die er aber mit viel Skepsis verbindet. Der Weg dahin ist verstellt. Viele Expert:innen unterschiedlicher politischen Orientierung halten eine Zweistaatenlösung aus politischen und ökonomischen Gründen inzwischen nicht mehr für machbar. Als Haupthindernis gilt die Realität der Siedlerbewegung im Westjordanland, die – anders als vor Jahren im kleinen und ökonomisch unergiebigen Gazastreifen – niemals aufgegeben werden kann, ohne die zionistische Identität des Staates Israel zur Disposition zu stellen.

Lüders schreibt, dass es im Grundsatz um dauerhaften Krieg oder Frieden ginge und dass es für die Option Frieden zwei Möglichkeiten gebe: „Entweder das Land wird geteilt, in den 1967 von Israel besetzten Gebieten Gazastreifen und Westjordanland einschließlich Ostjerusalems entsteht ein unabhängiges Palästina (S. 348).“ Dies sei aber „kaum vorstellbar“ angesichts einer von Ultrarechten und Siedlern dominierten israelischen Politik mit mächtigen Verbündeten. Allerdings steht er auch einer binationalen, also einem gemeinsamen Land für jüdische und nichtjüdische Menschen auf der Basis von Gleichheit skeptisch gegenüber, nicht, weil er das für falsch hält, sondern für utopisch angesichts der realen Kräfteverhältnisse. Die Zeichen stünden vielmehr auf anhaltende und dauerhafte Gewalt. Seine weiteren Überlegungen lassen nicht viel Raum für Optimismus, auch wenn er mit Verweis auf den Untergang des Apartheidregimes in Südafrika davon ausgeht, dass auch das zionistische Gebilde untergehen wird. Wann und wie, bleibt jedoch offen.

Und in Deutschland? Hier herrscht im Mainstream von Politik und Publizistik eine unglaubliche Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden der palästinensischen Bevölkerung. Das ist nicht die „Übernahme der Verantwortung“ für den Holocaust, den deutsche Nazis angerichtet haben. Es dient auch nicht der Sicherheit Israels. In diesem Zusammenhang kommt Lüders auch auf den Palästina-Kongress in Berlin zu sprechen, der im April 2024 dort stattfinden sollte, von der Polizei aber brutal geräumt wurde[3]. Er verurteilt dieses Vorgehen scharf und meint, „dass hier etwas gefährlich ins Rutschen geraten ist (S. 357)“.

Eine Lösung des Grundkonflikts kann nur darin bestehen, dass der Staat Israel auf der Grundlage der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen die Gleichberechtigung aller Menschen in Israel/Palästina anerkennt. Solange man in den Debatten den Staat Israel in den Mittelpunkt stellt statt des Ausgleichs der Interessen der beiden Bevölkerungsteile, wird man keine Lösung finden, die zum Frieden führt. Nicht nur die jüdische Verfolgungsgeschichte (Shoa), auch die palästinensische Vertreibungsgeschichte (Nakba) müssen ihren Platz finden.

Bei Fortsetzung des zionistischen Regimes und dessen nicht hinterfragter Unterstützung in der großen Mehrheit der israelisch-jüdischen Bevölkerung, wovon auf lange Sicht auszugehen ist, sind weder die Ein- noch die Zweistaatenlösung umsetzbar, realistisch erscheinen allein die Gewalt, die Unterstützung Israels durch den „Westen“ und andererseits seine zunehmende Isolierung im globalen Süden. Das sind keine friedlichen Aussichten.

Das Buch ist auf jeden Fall sehr zu empfehlen, nicht zuletzt, um wirksame Argumente gegen die unsägliche deutsche „Staatsraison“ zu haben:

Michael Lüders, Krieg ohne Ende? Warum wir für Frieden im Nahen Osten unsere Haltung zu Israel ändern müssen, München 2024, 400 Seiten.

F/HU, 27.10.2024


[1] Die International Holocaust Remembrance Alliance ist eine zwischenstaatliche Organisation zur „Aufklärung, Erforschung und Erinnerung des Holocaust weltweit“ mit 35 Mitgliedstaaten, Verbündeten Israels, darunter natürlich USA und BRD. Die IHRA-Definition, was Antisemitismus sei, findet sich z. B. hier. Kennzeichen der Definition ist, dass sie nicht wesentlich zwischen Antisemitismus und Israel-Kritik unterscheidet.
[2] vgl. „zur Entstehung der deutschen Staatsraison“ in Arbeiterpolitik Nr. 2/3 2024 und Broschüre „Zionismus, Faschismus, Kollektivschuld“, April 1989.
[3] vgl. Arbeiterpolitik Nr. 2/3 2024


 

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