Am 28. Februar 2023 stießen auf der Strecke Saloniki-Athen bei Tempi ein Passagierzug und ein Güterzug zusammen. 57 Menschen starben, 25 weitere wurden schwerverletzt. Viele bezeichnen das schwerste Bahnunglück Griechenlands als „Zugverbrechen“, da sie die Vernachlässigung der griechischen Bahn durch den Staat verantwortlich machten.
In der vierten Januarwoche 2025, zwei Jahre nach dem Unglück, kochte die Stimmung erneut hoch und entlud sich in der größten Mobilisierung seit den Anti-Troika-Protesten von 2012. In den letzten beiden Jahren wurden die Schutzbehauptungen der Regierung über das Zugunglück immer wieder in Zweifel gezogen. Als unglaubwürdig galt vor allem die Behauptung, dass der in den Unfall verwickelte Zug keine Gefahrgüter transportiert habe. Während der letzten Solidaritätsreise nach Griechenland, bei einem Treffen mit Bahnbeschäftigten erfuhren wir im Oktober 24 Folgendes:
„Die beiden Kollegen kennen wir schon seit zwei Jahren, sie sind beide bei der noch nicht privatisierten Bahngesellschaft, die für die Infrastruktur zuständig ist (defizitär, deshalb noch staatlich; der profitable Fahrbetrieb wurde an die italienische Eisenbahngesellschaft RAI verkauft). Dazu kam jetzt noch ein Kollege von der Ingenieurgewerkschaft (auch Infrastruktur) (früher mal Syriza-nahe). A., die für uns übersetzte, berichtete zuerst über neuere Nachrichten zum schrecklichen Eisenbahnunglück letztes Jahr mit über 50 Toten („Bahnverbrechen“): Der Güterzug, mit dem der Personenzug zusammengestoßen war, hatte Sprengstoff (wahrscheinlich für die Ukraine) geladen. Deshalb waren 30 der Toten verbrannt. Die Regierung versucht das zu vertuschen.“[1]
Massenmobilisierung zum 26. Januar 2025
Selbst die Zeitung „Kathimerini“ – das griechische Pendant zur deutschen „FAZ“ – kam nicht umhin auf die Bedeutung der Kundgebung vom 26. Januar hinzuweisen: „Bei einer der größten Demonstrationen der letzten Jahre auf dem Syntagma-Platz in Athen versammelten sich am Sonntag Zehntausende von Menschen, um Gerechtigkeit für die Zugkatastrophe von Tempi zu fordern. […] Die Proteste folgten auf die Veröffentlichung einer neuen, erschreckenden Tonaufnahme, die darauf hindeutet, dass Dutzende von Opfern bei der Katastrophe im Februar 2023 möglicherweise durch ein Feuer unbekannten Ursprungs und nicht durch den Zusammenstoß selbst ums Leben kamen.“
Was die „Kathimerini“ hier nur nebulös andeutete, wurde durch die Veröffentlichung für große Teile der Bevölkerung zur Gewissheit. Hunderttausende – nicht Zehntausende, wie die „Kathimerini“ behauptete – folgten landesweit den Aufrufen von Angehörigen der Opfer des Zugverbrechens. Allein in Athen waren es mehrere hunderttausend.
Das Volk vergisst nicht – es fordert „Sauerstoff“ und Gerechtigkeit
Die Forderung nach „Sauerstoff“ bezieht sich auf veröffentlichte Telefonmitschnitte von Verunglückten, die unmittelbar vor ihrem Tod über Atemnot und fehlenden Sauerstoff klagten.
„Maria Karystianou, eine Vertreterin der Vereinigung der Familien der Opfer von Tempe, dankte den Anwesenden. Sie beschrieb den Vorfall als Teil einer ‘mafiösen Operation zur Vertuschung der Wahrheit‚ und präsentierte eine detaillierte Zeitleiste der Ereignisse nach der Katastrophe. […] ‚Wir wollen sicherstellen, dass kein Verbrechen ungestraft bleibt‘, schloss sie und fügte hinzu: ‘Danke an Sie alle, wir werden Erfolg haben.‘ […] Dimitris Vervesos, Präsident der Athener Anwaltskammer, wandte sich ebenfalls an die Menge und erklärte: ‚Wir sind hier auf der Suche nach Sauerstoff. Wir sind hier, um die Ära der Vertuschung hinter uns zu lassen‘.“[2]
Die Empörung und Wut erfassten ganz Griechenland. In über 180 Städten und Orten gab es Kundgebungen. In der zweitgrößten Stadt des Landes bot sich ein ähnliches Bild wie in Athen: Es wurde eine der größten Versammlung in Thessaloniki seit mehreren Jahrzehnten. „Studenten, Arbeiter, ältere Menschen, Familien, Institutionen, Verbände und andere folgten dem Aufruf des Verbands der Angehörigen der Opfer mit großer Beteiligung. Auch Eltern von Kindern, die bei dem Unglück ums Leben gekommen sind, waren anwesend. In ihren Erklärungen dankten sie den Menschen für ihre Unterstützung und forderten Gerechtigkeit. Es folgte ein Marsch zum Neuen Bahnhof, an dessen Spitze die Fahne der Eisenbahnergewerkschaft stand. Ein Teil der Demonstranten bewegte sich in Richtung des Verwaltungsrats.“[3]
Aus der drittgrößten Stadt Griechenlands wurde gemeldet: „Patras erlebte historische Momente mit einer Kundgebung auf dem Georgsplatz und einem Marsch durch die Hauptstraßen der Stadt. An der großen Versammlung nahmen Vertreter der lokalen Regierung, politischer Parteien, Institutionen, Verbände, Gewerkschaften, Kollektive, Studenten, Schüler und normale Bürger teil, während der anschließende Marsch vor dem Bahnhof von Patras vorbeiführte. In den Erklärungen des Bürgermeisters von Patras, Kostas Peletidis[4], betonte er unter anderem, dass ‘dieses Verbrechen nicht vergessen ist und wir heute hier sind, um zu rufen, dass wir es nicht vergessen lassen werden‘“[5].
Selbst auf abgelegenen und kleineren Inseln beteiligten sich beispielsweise 50 von 200 Einwohner:innen. Gegen Ende der Kundgebung in Athen kam es zu den meist üblichen Auseinandersetzungen, nachdem die Bereitschaftspolizei mit Tränengas und Blendgranaten angegriffen hatte, um die Menschenmenge aufzulösen.
„Ein beschämender Tag für den Journalismus“
Unter dieser Überschrift berichtete die „efsyn“ weiter: „Abschließend ist anzumerken, dass die Berichterstattung über die heutigen massiven Proteste einen beunruhigenden Eindruck hinterlassen hat, da die überwiegende Mehrheit der regierungsnahen Medien das Thema zumindest zu Beginn der Proteste auf tragische Weise herunterspielte.“
Während in den staatsnahen griechischen Medien die Vorgänge heruntergespielt wurden, nahmen die bundesdeutschen Medien die Ereignisse überhaupt nicht zur Kenntnis. Das steht im krassen Gegensatz zu deren “Berichterstattung“ über Griechenland von vor über zehn Jahren. Damals versuchten die Pressehäuser mit ihrer Hetze gegen die „faulen Griechen, die über ihre Verhältnisse leben würden“, die deutsche Bevölkerung zu gewinnen für ihre Spardiktate.
Damals war das Interesse am Klassenkampf in Griechenland, am Abwehrkampf gegen die Troika-Diktate auch im linken Spektrum Deutschlands noch groß. Davon ist zurzeit nichts mehr zu spüren und selbst in der „Jungen Welt“ oder im „nd“ wurde über die Demonstrationen in griechischen Städten kaum berichtet.
Der folgende Videoclip der KKE zeigt die riesige Dimension der Kundgebung:
[1]„Gegen Spardiktate und Nationalismus“ · Solidaritätsreise nach Griechenland Herbst 2024, Seite 19: Treffen mit Eisenbahngewerkschaftern: Weiterhin lebensgefährliche Defizite
[2]„Kathimerini“ vom 26.01.25. Dort wird weiter angedeutet: „Aus dem jüngsten Ereignis geht hervor, dass diese Fahrgäste später starben, möglicherweise durch Erstickung oder Verbrennungen, da der Zusammenstoß eine massive Explosion und einen Brand verursachte. Nach Ansicht von Experten, die von den Familien beauftragt wurden, hatte der Güterzug möglicherweise brennbare Stoffe geladen, die im Frachtbericht nicht aufgeführt waren.“
[3]„Zeitung der Redakteure“, efsyn vom 26.01.25
[4]Seit 2014 ist Kostas Peletidis Bürgermeister von Patras. Er ist Mitglied der KKE (Kommunistische Partei Griechenland).
[5]„Zeitung der Redakteure“, efsyn vom 26.01.25
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