
„Liebes ver.di-Mitglied, am 23. Februar kommt es auf Dich an„, schreibt Frank Werneke, Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di, in deren Mitgliederzeitschrift „publik“, Ausgabe 1/2025. Es ist ein Appell, sich an der Bundestagswahl zu beteiligen, die „demokratischen Parteien“ zu stärken und damit „Einfluss darauf (zu nehmen), wie wir zusammenleben und arbeiten„, denn mit „Deiner Stimme gestaltest Du unsere Gesellschaft aktiv mit„. Als Gewerkschaft, so Werneke, sind wir „parteipolitisch unabhängig, aber ganz bestimmt nicht unpolitisch„. Es gehe darum, „neben unserer Tarifarbeit und unserer gewerkschaftlichen Arbeit in den Betrieben auch Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen„.
Demokratische Rechte verteidigen
Als Aufgaben benennt er die Stärkung des Tarifvertragssystems, die Forderung, dass öffentliche Aufträge nur an Betriebe mit Tarifbindung vergeben werden dürfen, sowie die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 15,- Euro noch in diesem Jahr, notfalls durch Gesetzesbeschluss, wenn die „Tarifpartner“ sich nicht einigen können. Er erinnert an die laufenden Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen, in Verkehrsbetrieben, im Gesundheitswesen, bei der Post und „vielen anderen Branchen„. Dabei gehe es nicht nur um die bspw. 2,5 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen, sondern generell um die Sicherung der Daseinsvorsorge und das Zusammenleben in der Gesellschaft. Dafür brauche es Investitionen in Bildung, Gesundheit, bezahlbaren Wohnraum, Infrastruktur in Verkehr, Ver- und Entsorgung etc. Das sei eine „hochpolitische Frage„. Die Verkehrs- und Energiewende müsse weiter vorangetrieben werden. Die Schuldenbremse sei eine „Zukunftsbremse“ und müsse weg. Die Reichen und Superreichen müssten stärker zur Kasse gebeten werden.
Es ist gleichzeitig ein Aufruf zur Verteidigung der bürgerlichen Demokratie: „Solidarität statt Spaltung. Demokratie statt Populismus. Soziale Gerechtigkeit statt Steuervorteile für Vermögende. Und eine Politik, die Angriffe auf unsere Kolleg*innen wegen ihrer Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht oder sexuellen Orientierung bekämpft statt sie zu befeuern.“ Eine konkrete Wahlempfehlung für eine bestimmte Partei folgt am Ende nicht, nur ein Appell, wählen zu gehen für eine „widerstandsfähige Demokratie„. Es liegt auf der Hand, dass es bei der Verteidigung der Demokratie um die Rechte der Lohnabhängigen am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft geht, auch darum, sich um deren Wahrung und Verbesserung zu organisieren. Die Parlamentswahl ist einer der Bereiche, in denen darum gekämpft wird. Im Zeichen des hiesigen (AfD) wie auch globalen Rechtstrends (nicht nur USA) ist es wichtig, aber nicht ausreichend, dem Rechtstrend entgegenzutreten.
Wahlverhalten von Gewerkschaftsmitgliedern
Wie sieht es mit dem Wahlverhalten von Gewerkschaftsmitgliedern aus? Der „einblick“ ist der vierzehntägig erscheinende Newsletter des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Er richtet sich an haupt- und ehrenamtliche Beschäftigte des DGB und seiner Gewerkschaften sowie an Multiplikator:innen in Politik, Medien, Verbänden und Wirtschaft. Nach Bundestagswahlen bringt er regelmäßig Grafiken heraus, die das Wahlverhalten der Gewerkschaftsmitglieder mit dem der Gesamtbevölkerung vergleichen. Für unseren Zusammenhang interessant sind die Einschätzungen zum Ergebnis der AfD. Demnach geben in der Gewerkschaftsmitgliedschaft mehr Menschen ihre Stimme für die AfD ab als in der Gesamtbevölkerung: 2021 waren das von allen Wähler:innen 10,3 %, von den Gewerkschaftsmitgliedern 12,2 %. Bei letzteren gibt es einen markanten Unterschied: weibliche Gewerkschaftsmitglieder haben zu 8,3 %, männliche dagegen zu 14,6 % AfD gewählt.
Dazu gibt es am rechten Rand gewerkschaftsähnliche Bestrebungen wie das „Zentrum Automobil“ von Oliver Hillgruber, gegründet 2009 in Stuttgart-Untertürkheim und 2022 in „Zentrum“ umbenannt. Es ist ein in Deutschland eingetragener Verein mit einem rechtsextremen Hintergrund, der sich selbst als Gewerkschaft für Beschäftigte der Automobilindustrie bezeichnet. Der thüringische Verfassungsschutz schätzte es 2021 als rechtsextrem ein. Die AfD ist allerdings klar gewerkschaftsfeindlich eingestellt, weshalb diese und einige weitere Miniorganisationen dieser Art keine wichtige Rolle spielen. Darin spiegelt sich der neoliberale Ursprung der AfD-Gründung zu Zeiten von Bernd Lucke und Olaf Henkel wider (im Unterschied zu Gruppierungen, die sich als „nationalsozialistisch“ bezeichnen).
Lohnabhängige unter dem Nazi-Regime
Weil auch die AfD inzwischen als zumindest „in Teilen rechtsextrem“ anerkannt ist, führt uns dies zunächst einmal zu der Frage, wie das Wahlverhalten von Arbeiter:innen und Angestellten in der Vergangenheit war, konkret mit Blick auf die NSDAP. In der Weimarer Republik war die Situation freilich signifikant anders als gegenwärtig. Das gilt zum einen ganz objektiv: Große Teile der Arbeiterklasse waren aufgrund des Weltkrieges, den Deutschland begonnen und verloren hatte, der Reparationsforderungen der Siegermächte und schließlich der Weltwirtschaftskrise ab 1929 in einer verzweifelten Lage (zwölf Millionen Beschäftigten standen 6 Millionen Arbeitslose gegenüber, deren Absicherung wesentlich schlechter war als heute). Andererseits gab es in Gestalt von zwei großen Arbeiterparteien sowie einer starken Gewerkschaftsbewegung eine Alternative, von denen zumindest die KPD auf den revolutionären Sturz der kapitalistischen Produktionsweise orientierte.
Die NSDAP wurde bekanntlich (als DAP 1919) von Eisenbahnarbeitern im Raum München gegründet und entwickelte teilweise ein Programm mit sozialpolitischen Forderungen. Mit der Führung durch Hitler wurden diese Ansätze schon ab 1920 rassistisch und demagogisch umgedeutet. Arbeiter:innen als Parteimitglieder gab es, aber sie waren im Vergleich zur Gesamtbevölkerung deutlich unterrepräsentiert. Mit dem Ausbruch der Großen Depression sollen es in den frühen dreißiger Jahren dann etwa 40 % gewesen sein: Landarbeiter, Beschäftigte aus Handwerks- und kleineren Industriebetrieben sowie aus dem öffentlichen Dienst. Dass sie eine gewisse Bedeutung gewinnen konnten, zeigte etwa der Streik der Berliner Verkehrsbetriebe 1932, der jedoch keineswegs, wie in der bürgerlichen Geschichtsschreibung oft behauptet, eine gemeinsame Aktion von Kommunisten und Nazis war, sondern sich von Seiten der KPD gegen die Untätigkeit der ADGB-Gewerkschaften richtete.
Bei den Wahlen zeigte sich ein ähnliches Bild. Die NSDAP wurde zu einer „Volkspartei“, weil sie im Verlauf der der Großen Depression Mitglieder und Wähler:innen aus allen Volksschichten, wenn auch in unterschiedlichem Maße, anzog. Den Kern der großstädtischen Industriearbeiterschaft aber betraf das zunächst nicht. Das zeigte sich noch in der Anfangszeit des NS-Regimes bei den sogenannten Vertrauensleutewahlen von 1934 und 1935, die zwar keine „Niederlage des Faschismus“ (KPD) bedeuteten, aber bei weitem nicht die vom Regime erhoffte Zustimmung zu dessen Listen erbrachten, so dass sie für 1936 abgesagt und dann nie wieder durchgeführt wurden. Erst der umfassende Terror des Naziregimes und die Nöte des wiederum von Deutschland angezettelten Krieges führten zwangsweise zur Schließung der Reihen hinter dem Regime.
Das Hauptproblem in der Phase der Machtübertragung hatte vielmehr darin bestanden, dass kommunistische und sozialdemokratische Arbeiterbewegung gegeneinander standen und keine gemeinsame Gegenwehr gegen die faschistische Bewegung und diejenigen herrschenden Kreise aus Industriebourgeoisie und Junkertum zustande brachten, die das Nazi-Regime schließlich in den Sattel setzten.
Historischer Einschnitt
Das sogenannte „Dritte Reich „bedeutete einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der Arbeiterbewegung und ihr Aufgehen in der „Volksgemeinschaft“. Hieran konnte im Westen Deutschlands der Antikommunismus des Kalten Krieges anknüpfen, der durch den wirtschaftlichen Wiederaufstieg Westdeutschlands und die mangelnde Attraktivität des bürokratisch organisierten sozialistischen Lagers in Osteuropa neue Nahrung bekam. Im Ergebnis dieser historischen Lasten können wir uns heute keinen Illusionen mehr hingeben. Wir dürfen uns aber den Verhältnissen, d. h. dem vorläufigen (ein Ende der Geschichte gibt es nicht) Sieg der kapitalistischen Produktionsweise und der bürgerlichen repräsentativ gemeinten Demokratie, nicht fügen.
Kundgebungen gegen Rechts
Frank Werneke hat grundsätzlich recht, wenn er den Gewerkschaften eine wesentliche Rolle in der Verteidigung demokratischer Rechte zuweist. Aber wie füllen wir sie aus? Wie begegnen wir z. B. der Spaltung durch die Hetze in der Migrationsfrage?
Die großen Demonstrationen etwa Anfang des letzten wie auch diesen Jahres müssen wir hier nicht aufzählen. Ihr Charakter war allgemein der eines breiten Spektrums der Bevölkerung und von Versammlungen von Menschen, die im wesentlich eine Empörung über das Anwachsen der Zustimmung zur AfD bei Parlamentswahlen und Umfragen (derzeit bis zu 20 %), das angebliche Potsdamer Geheimtreffen (unter der Parole „Remigration“) und das Zusammengehen von Unionsparteien und AfD bei den Abstimmungen im Bundestag zu Beschlüssen unterschiedlichen Rechtscharakters zum Ausdruck brachten. Solche großen Zusammenkünfte und Aktionen sind wichtig als Manifestation der Ablehnung solcher Bestrebungen, vor allem aber als Gelegenheiten, mit Menschen in politische Diskussionen zu kommen. Denn wichtig ist doch am Ende die Frage, was zu tun ist, damit die herrschende Politik zu Veränderungen gezwungen wird, dies zu besseren Lebensverhältnissen und Zusammenleben in diesem Land führt und wie politische Einsichten über diese Klassengesellschaft vermittelt werden können. Es sind soziale Fragen am Arbeitsplatz, im Alltag, in der Pflege, im Alter etc., die den Menschen am Herzen liegen und für die sie eine Orientierung brauchen.
Die von den Parteien der erklärten „Mitte“, SPD, CDU/CSU, Grüne, FDP, behauptete „Brandmauer“ ist längst löcherig. Sie wird nicht erst seit den von der Union als angeblich „leichtfertig“ herbeigeführten, im Falle des „Zustrombegrenzungsgesetzes“ sogar verlorenen Abstimmungen mit der AfD in Frage gestellt. Es ist auch nicht so, dass diese Politik der Migrationsbegrenzung erst die Wähler:innen dazu veranlasst, für das „Original“, also die AfD, zu stimmen. Ausländerfeindlichkeit (bis hin zum Rassismus) und entsprechende Gesetzgebung (das als „normal“ empfundene Staatsbürgerrecht bis zu Formen von Diskriminierung und von Apartheid) haben ihre historischen Grundlagen im bürgerlich-kapitalistischen Nationalstaat.
Die Staatsräson
Es liegt sozusagen in der DNA dieser Staatsgebilde, die eigenen Bürger:innen zu bevorzugen. Dem Kapital ist egal, welche Nationalität bzw. Staatsangehörigkeit seine lohnabhängig Beschäftigten haben, Hauptsache, sie lassen sich ausbeuten und bringen den erwarteten Profit. Nationale Spaltungslinien entlang der unterschiedlichen Bedingungen auf internationaler Ebene lassen sich aber politisch gut ausnutzen, um den Ärger über schlechte bis prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen, über Abstiegs- und Ausgrenzungsängste der Lohnabhängigen auf vermeintliche „Sündenböcke“ abzuwälzen. Dagegen hilft nur die Solidarität der Lohnabhängigen, die zu diesem Zweck ihre eigene Konkurrenz untereinander, also gerade solche Spaltungslinien, überwinden müssen. Gewerkschaftliche Zusammenschlüsse und gemeinsame Arbeitskämpfe müssen diese Verständigung fördern.
Es wurde zur deutschen Staatsräson, dass in Deutschland „Nie wieder!“ so etwas wie der Faschismus und der Holocaust passieren soll. Auch für die herrschenden Kreise war klar, dass es eine bedingungslose Niederlage im Krieg, die vorübergehende Auslöschung des Staates, die Gefährdung der ökonomischen Existenz der Bourgeoisie zumindest zeitweise und in einem Teil des Landes nie wieder geben durfte. Diese Konsequenz reichte bis hin zur bedingungslosen Unterstützung Israels, das seinerseits die palästinensische Bevölkerung unterdrückt; vgl. hierzu Arbeiterpolitik 2/3 2024). Parteien, die in der Nachfolge der NSDAP gesehen wurden (wie „Sozialistische Reichspartei“, SRP), wurden verboten oder mit Verbot bedroht. Freilich galt dies auch nach links: KPD-Verbot 1956, Radikalenerlass 1972. Jahrzehntelang haben sich Regierungen, Parteien und Bevölkerung in Deutschland kaum vorstellen können, dass rechtspopulistische bzw. rechtsextreme Bewegungen und eine solche Partei wieder einen wahrnehmbaren Masseneinfluss gewinnen könnten. Mit der AfD scheint es wieder soweit zu sein.
Zur Migrationsfrage
Eine faschistische Massenbewegung wie in Weimar samt deren Machtübernahme ist dennoch nicht abzusehen. Die Situation ist nicht gleichzusetzen. Auch die gegenwärtige ökonomische Krisenlage einer Volkswirtschaft, die als die drittgrößte der Welt (nach USA und China, s. DIW) gelistet wird, ist nicht annähernd so existenzbedrohend wie die Lage in der Großen Depression der dreißiger Jahre. Und es gibt keine revolutionäre Arbeiterbewegung, gegen die die Herrschenden eine faschistische Massenbewegung bräuchten, um ihre ökonomische Existenz zu sichern. Dennoch sind auch bei uns heute politische Rechte immer in Gefahr, zur Zeit jedenfalls für bestimmte Lebenswelten.
Ausländerrecht benachteiligt prinzipiell die betroffenen Personen gegenüber anderen (Statusfragen, Polizeikontrollen, Abschiebungen, Alltagsrassismus, Morde in Hanau etc.). Das Asylrecht wurde in Deutschland in den neunziger Jahren massiv verschlechtert, gegenwärtig geschieht es durch EU-Gesetzgebung (GEAS), die diskriminierende Einführung der „Bezahlkarte“ und die Vorstöße der Unionsparteien zur „Zustrombegrenzung“ im Bunde mit der AfD. Weitere Beispiele sind die Diskriminierungen, Auflösungen, Verbote von Veranstaltungen und Kundgebungen, die die Lage der palästinensischen Bevölkerung unter israelischer Besatzung und im gegenwärtigen Gazakrieg thematisieren (Arbeiterpolitik 2/3 2024). Und was bei bestimmten Gruppen ausprobiert werden kann, könnte auch dazu reizen, es bei weiteren anzuwenden. Zur Zeit sind die USA ein Beispiel dafür.
Zum „Zustrombegrenzungsgesetz“ der Union gab es Zustimmung außer der jeweiligen Mehrheit von CDU/CSU und FDP sowie allen AfD-Abgeordneten auch mit 7 Stimmen aus dem BSW, dazu nur drei Enthaltungen. Warum stimmte das BSW mehrheitlich dafür, trotz seines Anspruchs, als Friedenspartei aufzutreten? Es entspricht seiner Haltung in der Migrationsfrage. „Wer die Frage der Migration lösen will, der muss als erstes die Fluchtursachen bekämpfen. Das kann man nicht, wenn man gleichzeitig systematisch die Kriegspolitik und Eskalation der Kriege vorantreibt, Kriege mit Waffenlieferungen anheizt und Sanktionen verhängt. Diese Politik ist mitverantwortlich für die weltweiten Fluchtbewegungen“ (Soziale Politik & Demokratie Nr. 523, 14.2.2025, S. 11; diese Zeitschrift wirbt für die Unterstützung des BSW). Die verquere, geradezu heuchlerische Position des BSW lautet also: Wir sind nicht verantwortlich für die Politik der Herrschenden, also müssen wir im Sinne unserer Klientel (wer immer das sein mag) die Folgen abwehren helfen zulasten derjenigen, die „irregulär“ zu uns kommen und uns auf der Tasche liegen.
Wer wählt die AfD?
Zum Wahlverhalten der Lohnabhängigen kommen regelmäßig Studien heraus, auch in jüngster Zeit. So heißt es etwa, dass „13 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder … ein manifest rechtes Weltbild“ haben (Klaus Dörre, Soziologe an der Universität Jena). Er ist der Auffassung, dass die AfD ihre Kader „auffällig häufig aus dem Handwerk und dem verarbeitenden Gewerbe“ rekrutiere, jedenfalls im Vergleich zu den „demokratischen Parteien„. Er erinnert auch beispielhaft an Didier Eribon, der in seinem autobiografischen Buch „Rückkehr nach Reims“ darstellt, wie in ökonomisch abgehängten Regionen Frankreichs Arbeiterwähler:innen von der Kommunistischen Partei zur Le Pen-Partei wechselten. Solcherart betroffene Gruppierungen fühlen sich „gesellschaftlich ungesehen und abgewertet„. Sie reagieren unterschiedlich: Teils wählen sie weiterhin „Parteien der Mitte„, etwa die SPD, teils gehen sie nicht mehr zur Wahl, nur der genannte Prozentanteil wendet sich nach rechts.
Woran es fehlt, ist demnach eine Politik, die die Interessen der Lohnabhängigen eindeutig formuliert, gleichzeitig aber auch in der öffentlichen Wahrnehmung als durchsetzungsfähig gilt. „Man selbst erlebt,“ so Dörre weiter, „wie die soziale Infrastruktur bröckelt. Zuerst schließen Geschäfte, dann die Schule und die Kita. Es fehlt an Ärzten, die Buslinie wird eingestellt und der Jugendclub geschlossen. Für nichts scheint noch Geld da zu sein. Doch während man selbst vergeblich ansteht und auf Besserung hofft, werden – so die Erzählung – andere, etwa migrantische Minderheiten, die angeblich nichts in die Sozialkassen eingezahlt haben, bevorzugt. Das wird als zutiefst ungerecht empfunden und motiviert dazu, den Kampf um Statuserhalt oder Statusverbesserungen mit dem Mittel des Ressentiments auszutragen.“ Hinzu kommen weitere Problemlagen wie Maßnahmen für Klimaschutz, die die einzelnen überfordern, wenn sie nicht sozial ausgeglichen werden, die damit verbundenen Umstruktierungen in der Ökonomie, die auch die Arbeitsplätze betreffen, speziell im Osten Deutschlands die immer noch bestehende Ungleichbehandlung.
Auf dem Weg, „eine Arbeiterpartei zu werden„, sieht Dörre die AfD dennoch nicht, „denn programmatisch handelt es sich noch immer um eine geradezu marktradikal ausgerichtete Formation„. Das soll keine Entwarnung darstellen, weil die rechten Ideologen sich ein politisches Vakuum zunutze machen, das die bürgerlichen Parteien der sogenannten „Mitte“ und insbesondere die Linke hinterlassen haben.
Dem Rechtsruck entgegentreten
Kehren wir wieder zu der Frage zurück: Was ist insbesondere in und mit den Gewerkschaften zu tun, um demokratische Rechte zu verteidigen?
Bekanntlich sind Gewerkschaften keine politisch gleichgerichteten Organisationen wie Parteien. Das verbindende Merkmal ihrer Mitglieder ist die Lohnabhängigkeit, marxistisch gesprochen: der Zwang, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, weil sie eben nur diese haben, um am ökonomischen Prozess teilzunehmen und ihre Reproduktion zu sichern. Es geht also darum, sich gegen das Kapital für die Höhe ihrer Löhne und die Qualität ihrer Arbeitsbedingungen einzusetzen. Welche politischen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind, ist – von der konkreten Situation abgesehen – von der politischen Einstellung der Mitglieder, der Einflussnahme politischer Organisationen usw. abhängig, kurz: von den Auseinandersetzungen in einem weiten Spektrum vom Klassenkampf bis zur Sozialpartnerschaft. Eine wahrnehmbare und wirksame kommunistische Organisation, die hier im großen Maßstab orientierend wirken könnte, fehlt. Man muss an dem ansetzen, was ist.
In den Gewerkschaften ist durchaus ein Problembewusstsein zur Migrationsfrage vorhanden. Die Mitgliedschaft spiegelt in ihrer Zusammensetzung grob die der Gesellschaft. „Willkommenskultur könne nicht nur die meinen, die neu zuwandern. Sie müsse auch denjenigen gelten, die schon hier sind. Jeder fünfte Einwohner Deutschlands habe einen Migrationshintergrund und alleine in der IG Metall seien 185 000 Mitglieder ohne deutschen Pass organisiert. Benner ließ keinen Zweifel aufkommen: ‚Deutschland ist ein Einwanderungsland. Eine echte Willkommenskultur bedeutet die Anerkennung aller hier lebender Migrantinnen und Migranten.‘ Dazu gehört nach ihrer Ansicht, den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und ihnen Perspektiven zu bieten,“ heißt es auf der Website der IG Metall. Die Gewerkschaften haben Arbeitskreise und andere Bildungsinstrumente zum Thema „Migration“ in ihren Strukturen. Sie melden sich auch anlassbezogen zu Wort. Dennoch bleibt die Frage, ob das wirklich reicht und es angesichts des gegenwärtigen Rechtstrends nicht mehr Anstrengungen geben müsste, an die Öffentlichkeit zu gehen, das Thema präsent zu halten und klar zu machen, dass den spalterischen Angriffen „rechter“ Parteien, aber vor allem auch denen der „Mitte“ (SPD, Grüne, CDU/CSU, FDP) Solidarität auf Klassenbasis entgegengesetzt werden muss. Die Realität ist so, dass es vereinzelt ist und von lokalen Bedingungen abzuhängen scheint.
Das Wahlverhalten der Gewerkschaftsmitglieder wie ihre Zugänglichkeit für politische Argumente sind nicht allein Produkt ihrer Klassenzugehörigkeit. Lohnabhängige sehen sich auch in Konkurrenz (um Jobs. Wohnungen, Kita-Plätze usw.) zu anderen ihresgleichen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um davon zu leben. Ausländerfeindlichkeit kann eben darin ihren Grund haben, wenn sie nicht anders politisch verarbeitet wird, sei es, weil vor Ort es niemand versucht, sei es, weil darauf Angesprochene sich verweigern. Unter denen, die AfD wählen, soll es – je nach Studie – einen beträchtlichen Anteil geben, die eben keine Protestwähler:innen sind, sondern tatsächlich einen rechten, nationalistischen, rassistischen etc. Standpunkt vertreten. Hierzu gehört auch die wahrheitswidrige Behauptung, dass Migrant:innen von außen „in unsere Sozialsysteme einwandern„, als würden sie nichts dazu beitragen. Solche Hartgesottenen können nicht überzeugt, sondern müssen isoliert werden.
Im betrieblichen Regelfall ist der Rückhalt an der Gewerkschaft wichtig. Deren Präsenz im Betrieb sowie die von Betriebsräten und Vertrauensleuten spielt vor allem in Großbetrieben ihre Rolle. Rechtslastige Gewerkschaftsmitglieder können so isoliert werden (wie Studien bei Opel Eisenach oder VW Baunatal zeigen). In mittleren und kleinen Betrieben ist es schwierig und oft vom Engagement Einzelner abhängig, Repräsentationsdefizite aufzufangen und den Kolleg:innen Rückendeckung zu geben. Auch in stattfindenden kämpferischen Aktionen (Tarifauseinandersetzungen, Betriebsbesetzungen etc.) können rechtsextreme Positionen verhindert werden.
In den großen politischen Fragen unserer Zeit sind Gewerkschaften in dem hier skizzierten Sinne eines emanzipatorischen Ausweges kaum zu vernehmen. Das sind vor allem die Kriegsfrage, in der die DGB-Gewerkschaften, jedenfalls soweit sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, am Rockschoß der SPD-Grüne-Koalition hängen und deren Kurs vertreten. Die beachtlichen gewerkschaftlichen Friedenskonferenzen in Hanau (Juni 2023) und Stuttgart (Juni 2024) haben leider keinen großen Widerhall gefunden.
Ähnliches lässt sich von der Klimafrage sagen. Hier gibt es die allgemein empfundene Abhängigkeit von der zentralen Stellung der Automobilindustrie und des Individualverkehrs in der Struktur der deutschen Volkswirtschaft. Die Beschäftigten hier müssen überzeugt werden, dass Menschen, die Autos bauen, auch in der Lage sind, etwas anderes, z. B. Straßenbahnen, zu produzieren (s. das Beispiel von GKN Florenz, wo versucht wird, durch eine Betriebsbesetzung gleichzeitig eine Umstrukturierung der Produktion zu erreichen). Ein weiteres zentrales Problem stellt sich komprimiert im sogenannten „Heizungsgesetz“ der Ampelkoalition dar: Klimapolitik kann nur auf Akzeptanz stoßen, wenn für die Kosten ein angemessener Ausgleich gezahlt wird. Die Hauptursache der Klimakrise ist aber nicht der private Konsum, sondern die an das Privateigentum an Produktionsmitteln gekoppelten Investitionsentscheidungen. Es gilt also, darüber nachzudenken, was, wie, zu welchem Zweck und in welchem Umfang produziert werden soll.
Es ist also ein Umdenken erforderlich. Davon sind die Verhältnisse selbstverständlich noch weit entfernt. Umfragen legen aber z. B. nahe, dass selbst in Automobilfabriken Beschäftigte durchaus sich der Belastungen der Umwelt durch Individualverkehr und Verbrennermotor (dessen voraussichtliches Aus Unionsparteien und FDP stoppen oder zumindest noch weiter herauszögern wollen) bewusst sind, die Umstellung auf E-Autos oder noch andere Produkte (Busse, Straßenbahnen, Lastenräder) akzeptieren würden. Es kommt auf die Lösung sozialer Fragen an. Die Diskussion muss geführt werden, auf lange Sicht.
21.2.2025
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