Als Friedrich Merz zum Bundeskanzler gewählt wurde, verbanden gerade die konservativsten Teile von CDU und CSU damit große Hoffnungen. Merz brachte noch in den letzten Tagen der vorigen Legislaturperiode einen Entschließungsantrag zum Thema Migration ein, und er nahm dabei bewusst in Kauf, dass dieser nur mit Hilfe der AfD eine Mehrheit bekommen konnte. So demonstrierte er die Abkehr von der Politik Angela Merkels, die für eine liberalere CDU stand. Nach seiner Wahl zum Kanzler sehen viele in der CDU ihre Erwartungen aber nur zum Teil erfüllt. In der Migrationspolitik dürften diese wohl am weitestgehenden umgesetzt worden sein. Aber die Aufhebung der Schuldengrenze war für viele eine schwer zu schluckende Kröte. Und die deutsche Wirtschaft leidet weiter an Schwindsucht: regelmäßig gibt es Meldungen über den Abbau zehntausender Arbeitsplätze. Und gerade bei Themen wie Liberalisierung der Wirtschaft und beim Sozialabbau geht es trotz vielfacher Ankündigungen nicht so schnell voran wie es sich viele in der Partei wünschen. Dies sorgt in der Mitgliedschaft und auch in der Bundestagsfraktion für Unzufriedenheit.
Seit den 1990er werden in allen europäischen Ländern rechtsradikale Parteien immer stärker. Sie gewinnen mit dem Thema Migration und können so den weit verbreiteten Unmut über die fehlenden Zukunftsperspektiven des Kapitalismus auffangen. Die Zustimmung für rechte Parteien geht zu Lasten nahezu aller anderer Parteien, ob konservativ, sozialdemokratisch, liberal oder auch links. Die rechten Parteien gelten als Schmuddelkinder, unseriös, und eine Zusammenarbeit war lange Zeit tabu. Die Parteien, die früher die Politik prägten, erfanden für sich den Begriff der „Demokratischen Mitte“. In Deutschland wurde wortgewaltig der Begriff der „Brandmauer“ eingeführt, um eine Zusammenarbeit dieser Parteien mit der AfD zu verhindern. Mit dem Erstarken der Rechten, wird es immer schwieriger stabile Koalitionen zu bilden, wenn die Parteien Rechtsaußen nicht einbezogen werden sollen. Die reinen Mehrheitsverhältnisse würden den konservativen Parteien jedoch die Möglichkeit eröffnen, Teile ihres Programms mit Unterstützung von rechts durchzusetzen. Das Tabu einer Zusammenarbeit wird für Teile der Konservativen deshalb immer schwerer zu vermitteln. Vermehrt gibt es auch bei CDU/CSU Ansätze für ein Durchbrechen der Brandmauer. Eher unauffällig geschah das bei einer Abstimmung im Europaparlament zum Lieferkettengesetz.
Lieferkettengesetz im EU-Parlament – Klasseninteresse überspringt Brandmauer
Zu den immer wiederkehrenden Klagen aus dem Unternehmerlager gehört das Stöhnen über das „Bürokratiemonster“ das den Unternehmen die Freiheit zum Atmen nehme. Wenn es konkreter wird, dann ist meist auch das „Lieferkettengesetz“ als mitschuldig aufgeführt.
Ein Lieferkettengesetz hat eine Bedeutung, wenn Unternehmen für die Herstellung oder den Vertrieb von Waren mit Sub und Sub-Sub-Unternehmen arbeiten. Es soll verhindert werden, dass die Auftraggeber die billigsten Sub-Unternehmen mit der Ausführung von Arbeiten beauftragen und sich nicht für die dort herrschenden Arbeitsbedingungen verantworten müssen. Dabei geht es nicht nur z.B. um Näherinnen in Bangladesch, auch in Deutschland spielt das Lieferkettengesetz am Bau oder bei Speditionen eine Rolle. Bei Kinderarbeit, sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen, umweltschädlichen Produktionsverfahren oder bei Verstoß gegen Arbeitsgesetze, sollen Betroffene das Unternehmen an der Spitze der Wertschöpfungskette beklagen können. Beim Streik von LKW-Fahrern an der Raststätte Gräfenhausen wurde deutlich, dass auch große und angesehene Unternehmen zum Transport ihrer Waren die windigsten Spediteure in Anspruch nehmen, z.B. Bauhaus, OBI, IKEA, DHL, Porsche u.a.
Daher ist es nicht nur bürokratischer Aufwand, der die Kapitalisten am Gesetz stört. Es geht um die Freiheit des Kapitals, die Geschäfte möglichst kostengünstig abwickeln zu können.
Im EU-Parlament wurde mehrere Jahre lang eine Lieferkettenrichtlinie beraten. Diese stieß jedoch auf heftigen Protest der Unternehmerverbände. Die EVP-Fraktion im Europaparlament setzte daraufhin p, Beratungen mit Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen einen neuen, weitgehend zahnlosen Entwurf durch. Dieser fand im EU-Parlament jedoch keine Mehrheit, da viele Abgeordnete aus sozialdemokratischen Parteien dagegen stimmten. Die Fraktion der EVP brachte daraufhin einen eigenen Entwurf im Parlament ein. Dieser konnte nur mit Hilfe der Rechtsaußen Fraktionen eine Mehrheit finden.
Die EVP und ihr Sprecher Manfred Weber (CSU) feierten ihren Sieg als einem »guten Tag für europäische Unternehmen und die Wettbewerbsfähigkeit“. Im ZDF erklärte Weber: „Und deshalb muss ich sagen, war es folgerichtig, dass dann die EVP-Fraktion gesagt hat: Wenn ich mich auf die Absprache mit den Sozialdemokraten nicht verlassen kann, beantragen wir das, wovon wir überzeugt sind.“ Und dann im Gegensatz dazu die gängige Floskel: „Die Brandmauer steht auch auf europäischer Ebene.“
Mit Verweis auf die sozialdemokratischen und grünen Abgeordneten sieht auch die FAZ kein Problem: „Dass die EVP ihre eigenen Anträge jetzt weniger verwässert durchsetzen konnte, hat wenig mit einer vermeintlich eingestürzten Brandmauer und viel mit der ideologischen Verbohrtheit von Teilen dieser beiden Fraktionen zu tun, denen die Entlastung der Wirtschaft schlicht egal ist. „(FAZ, 13.11.2025)
Wenn für konservative Parteien eine Einigung in der Mitte nicht möglich ist, dann ist eine Zusammenarbeit mit den Rechten also kein Tabubruch, sondern die Schuld von Grünen und Sozialdemokraten. Hier wird ein klarer Klassenstandpunkt vertreten.
Deutschland: Teile der CDU unzufrieden mit dem Regierungskurs
Im Bundestag zeigte sich die Unzufriedenheit vieler Abgeordneter bisher in eher symbolischen Nadelstichen, die den Koalitionsfrieden aber dennoch gehörig störten. So bei der Weigerung vieler Unionsabgeordneter die Juristin Brosius-Gersdorf nicht als Richterin des Bundesverfassungsgerichts zu wählen. Brosius-Gersdorf wurde von der SPD vorgeschlagen und sollte nach Absprache der Fraktionsspitzen von CDU/CSU und SPD gewählt werden. In rechten Medien, vor allem im Portal nius.de gab es eine regelrechte Kampagne gegen ihre Wahl. Sie wurde als linksradikale Aktivistin bezeichnet, was bei Unionsmitgliedern natürlich erst einmal alle Alarmglocken schrillen ließ. Nius.de brachte vor der geplanten Wahl im Bundestag innerhalb von zehn Tagen zwanzig Artikel mit dem Ziel, sie zu diffamieren und ihre Wahl zu verhindern. Nius.de ist nicht irgendeine Plattform. Frank Gotthard, Gründer von nius.de, ist nicht irgendwer. Er hat gute Kontakte in die CDU und ist Ehrenvorsitzender des CDU-Wirtschaftsrates in Rheinland-Pfalz. Mit an Bord ist auch Julian Reichelt, einst Chefredakteur der Bildzeitung, der unablässig scharfe Kritik an der Politik von Friedrich Merz übt. Die Affäre wurde durch den Verzicht der Juristin auf ihre Wahl gelöst und die Kritiker können sich als Sieger sehen.
Politisch bedeutender als der Fall Brosius-Gersdorf ist die Ablehnung auf die das geplante Rentenpaket in Teilen der Partei stieß. Wenn nius.de in dieser Frage immer wieder von einem Aufstand gegen Merz berichtet, ist das natürlich übertrieben. Angestoßen wurde die Debatte durch die Junge Union, die für sich beansprucht, für die ganze junge Generation zu sprechen. Die Parteijugend stellt die Rentenfrage als Generationenkonflikt dar. Die Jungen zahlten immer höhere Beiträge für immer mehr Rentner und das sei nicht mehr zumutbar. Auf dem Deutschlandtag der Jungen Union musste sich Kanzler Merz heftige Kritik gefallen lassen. Die „Junge Gruppe“ in der Bundestagsfraktion drohte damit, dem Gesetz nicht zuzustimmen Der Wirtschaftsflügel stieß ins gleiche Horn und ergänzte, dass steigende Rentenbeiträge auch der Wirtschaft „die Luft zum Atmen“ nähmen. Sowohl Arbeitgeber als auch ihnen nahestehende Medien fordern die „Junge Gruppe“ auf, bei ihrem Standpunkt zu bleiben und gegen das Gesetz zu stimmen.
Es entstand der Eindruck einer Konfrontation zwischen Fraktionsführung und Abweichlern. Die Bundestagsmitglieder der Jungen wurden von der Fraktionssitzung erheblich unter Druck gesetzt, damit sie dem Rentenpaket zustimmen. Eine Ablehnung des Gesetzes im Parlament wäre nicht nur für den Kanzler, sondern für die Regierung insgesamt ein dauerhafter Schaden gewesen. Sieben Abgeordnete aus der CDU stimmten dennoch gegen die Gesetzesvorlage.
Auch wenn das Gesetz so mit der sogenannten Kanzlermehrheit verabschiedet wurde, wird eine starke Unzufriedenheit in den Unionsparteien mit dem Kurs von Friedrich Merz deutlich. Die Erwartungen an eine konservativere Politik konnte er nicht erfüllen. Die Wirtschaftskrise schwelt weiter und die Konkurrenzfähigkeit deutscher Unternehmen verbessert sich nicht. Im Bündnis mit der SPD können die wirtschafts- und sozialpolitischen Programme der CDU/CSU nicht im vollen Umfang oder nur verzögert umgesetzt werden.
Eine Zusammenarbeit mit der AfD, die sich in einigen Punkten rechnerisch aber auch politisch anbietet, ist im Bundestag nicht so einfach umzusetzen wie im EU-Parlament. Im Europaparlament gibt es keine feste Koalition und wechselnde Mehrheiten sind nicht ungewöhnlich. Im Bundestag würde dies zu einer Regierungskrise führen und mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Ende der Regierung. Als Alternative bliebe nur eine Koalition mit der AfD. Die wird aber auch weiterhin von allen Gruppierungen in der CDU und auch von allen Kapitalverbänden abgelehnt. Zumindest auf Bundesebene spricht vieles dagegen: die außenpolitische Orientierung Deutschlands, die Einbindung in die EU, um dort im Interesse des Kapitals eine führende Rolle übernehmen zu können.
Es ist aber nicht zu übersehen, dass sich aus der Unzufriedenheit über dem Regierungskurs in der Union eine Strömung herausbildet, die weiter nach rechts drängt. Kompromisse mit der SPD soll es nicht mehr so einfach geben wie bisher. Weitere Koalitionskrisen sind somit wahrscheinlich. Auch gemeinsame Abstimmungen mit der AfD in der einen oder anderen Frage scheinen für einige aus CDU und CSU verlockend. Die SPD hat außer auf die nächsten Wahlen zu warten keine wirkliche Alternative zur Fortsetzung der Koalition um jeden Preis. Das bedeutet, dass sie dem Drängen nach rechts öfters wird nachgeben müssen. Das aber heißt verschärfter Sozialabbau, Angriff auf Interessen der Arbeiterklasse und auf demokratische Rechte.
Auf Länderebene werden nach den Wahlen im nächsten Jahr in den ostdeutschen Ländern für die CDU Kooperationen mit der AfD unumgänglich sein. Wenn die AfD stärkste Partei wird, könnte eine Regierungsbildung ohne die AfD sogar unmöglich werden.
Immer wieder wird von Gegnern der AfD gefordert, die CDU solle die Brandmauer nicht schleifen, sondern erneuern. Das „Zentrum für politische Schönheit“ errichtete vor der Berliner CDU-Zentrale ein Denkmal für den von einem Rechtsextremisten erschossenen ehemaligen Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. So soll sichtbar gemacht werden, „was nicht vergessen werden darf: dass die rote Linie zwischen Konservativen und Rechtsextremisten für die Demokratie verläuft.“
Das Zentrum hat dabei aber übersehen, dass Konservative und rechte Parteien beide auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft stehen. Das freie Unternehmertum spielt in ihrer Programmatik eine große Rolle. Das ist die gemeinsame Basis auf der früher oder später die „Brandmauer“ überwunden werden könnte, wenn in der demokratischen Mitte die Möglichkeit für Kompromisse immer weiter schwindet.
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