Nach dem Klatschen kommt die Klatsche

Korrespondenz

Caritas verhindert allgemeinverbindlichen Tarifvertrag Pflege

Als im Frühjahr 2020 die Corona-Pandemie Fahrt aufnahm und die Pflegekräfte in Krankenhäuser und in der Alterspflege an die Grenzen ihrer Belastbarkeit kamen, wurde ihnen allgemeines Wohlwollen und Wertschätzung entgegengebracht. Mancherorts klatschten die in ihre Wohnungen verbannten Bürger*innen nach italienischem Vorbild von den Balkonen, und die Politik versprach, die Situation der Pflegenden grundlegend zu verbessern.

Ein Schritt war die Erhöhung des Mindestlohns in der Pflege, der höher ist als der gesetzliche Mindestlohn. Eine Verbesserung stellte diese Maßnahme vor allem für Beschäftigte in Ostdeutschland und in einigen privaten Pflegeheimen dar. Der große Wurf wurde aber von Gesundheitsminister Spahn und vor allem von Arbeitsminister Heil mit der versprochenen Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge im Pflegebereich angekündigt. Auf Antrag der Tarifvertragsparteien kann ein Tarifvertrag vom Bundesarbeitsminister als „allgemeinverbindlich“ erklärt werden, wenn der Vertrag „im öffentlichen Interesse“ ist. In diesem Fall erhält der Tarifvertrag quasi Gesetzescharakter und es müssen sich auch die Unternehmen daranhalten, die nicht im Arbeitgeberverband sind. Die früher geltende Bedingung, dass der Tarifvertrag mindestens für die Hälfte der betroffenen Beschäftigten gelten müsse, wurde 2018 abgeschwächt. Heil behauptete, das Gesetz sei nun soweit geändert, dass ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag in der Pflege möglich sei. Für die Politik war dieses Thema auch deshalb wichtig, weil es wegen der miesen Arbeitsbedingungen in der Pflege sehr schwer ist, überhaupt Personal zu finden. Viele, die sich mit der Pflege beschäftigten, waren allerdings von Anfang an skeptisch, ob angesichts der zersplitterten Situation im Pflegebereich eine Allgemeinverbindlichkeit überhaupt realistisch ist.

Protest am 8.3. bei der Caritas Frankfurt Quelle: Fototeam Hessen e. V., Reiner Kunze

Verhandlungen über einen solchen Tarifvertrag begannen schon im Oktober 2019 zwischen ver.di und der „Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP)“, in der vor allem freie Wohlfahrtsverbände wie der Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB), die Arbeiterwohlfahrt (AWO), der Diakonische Dienstgeber in Niedersachsen, der Paritätische Gesamtverband und die Volksolidarität zusammengeschlossen sind. Private Unternehmen fehlen fast gänzlich ebenso wie kirchliche Wohlfahrtsverbände (außer dem „Diakonischen Dienstgeber in Niedersachsen“).

Am 29.1.2021 konnte sich ver.di mit dem BVAP schließlich auf einen Tarifvertrag einigen und beide Parteien kündigten an, dafür beim Arbeitsminister die Allgemeinverbindlichkeit zu beantragen. Dieses Vorhaben stieß auf den entschiedenen Widerstand des Arbeitgeberverbands Pflege (AGVP), in dem vor allem die privaten Unternehmen zusammengeschlossen sind. Präsident dieses Verbandes ist der ehemalige FDP-Politiker Rainer Brüderle. Der AGVP drohte eine Klage an und behaupteten, der ausgehandelte Tarifvertrag binde weniger als drei Prozent der deutschen Altenpflegeunternehmen. Außerdem wurde ver.di mit drastischen Worten die Koalitionsfähigkeit abgesprochen: „Für einen deutschlandweit gültigen Tarifvertrag in der Altenpflege müsste die Gewerkschaft ver.di deutschlandweit durchsetzungsfähig sein und mit ihren Mitgliedern die Interessen der Arbeitnehmer deutschlandweit notfalls mit Streik durchsetzen können. Hierfür fehlen ver.di alle Voraussetzungen. Unter den Altenpflegekräften von Bayern bis Vorpommern haben ver.di-Mitglieder Seltenheitswert. In der ambulanten Pflege kennen die Arbeitnehmer ver.di bestenfalls vom Hörensagen. Mit ihren wenigen Mitgliedern unter den deutschlandweit 1,2 Millionen Arbeitnehmern in der Altenpflege gehört ver.di auf die Rote Liste der aussterbenden Arten.“ Diese Einschätzung ist sicher überzogen, verweist aber auf real existierende Probleme von ver.di im Pflegebereich.

Die Hoffnung für ver.di waren nun die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonisches Werk. Mit ihrer Zustimmung zum Tarifvertrag wäre der Geltungsbereich erheblich ausgedehnt worden und die Chancen für eine Allgemeinverbindlichkeit wären gestiegen. Im Vorfeld gab es wohl intensive Gespräche von ver.di mit Caritas und Diakonie zu diesem Thema. Am 25.Februar jedoch machte die Caritas einen Strich durch diese Rechnung und lehnte den Tarifvertrag ab. Interessant dabei ist, dass die von der Caritas gezahlten Gehälter in der Regel über denen liegen, die im Tarifvertrag mit der BVAP festgelegt wurden. Teilweise hätte aber auch die Caritas Löhne erhöhen müssen. Doch dürfte das Geld hier eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Die offizielle Begründung der Caritas gibt sich sehr sozial: Wenn der Tarifvertrag allgemeinverbindlich werde, würden die Pflegekasse und andere Kostenträger die Zahlung für Leistungen an diesem Tarif orientieren und die höheren Kosten bei anderen Einrichtungen nicht mehr finanzieren. Das aber stimmt nicht: Das Sozialgesetzbuch regelt ausdrücklich, dass durch Tarifverträge entstehende Kosten nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden dürfen. Nur nebenbei wird erwähnt, was wohl der eigentliche Grund sein dürfte: Die Beibehaltung eines eigenständigen kirchlichen Arbeitsrechts ohne Tarifverträge, auch unter dem Begriff „Dritter Weg“ bekannt (siehe Kasten).

Auch die Arbeitgeberseite der Diakonie hatte sich gegen die Annahme des Tarifvertrags ausgesprochen. Die Verhandlungen darum wurden mit einem „Schade um die verlorene Zeit“ kommentiert. Nach dem Beschluss der Caritas hat sich die „Arbeitsrechtliche Kommission“ der Diakonie gar nicht mehr mit dem Thema befasst, da die Allgemeinverbindlichkeit ja sowieso nicht mehr möglich sei. Von Seiten der Gewerkschaft gab es einige Protestaktionen vor Caritasgeschäftsstellen, vor allem am 8.März, dem Internationalen Frauentag. Der Caritas wird nun „Scheinheiligkeit“ vorgeworfen. Das wäre ein neuer Ton in der Auseinandersetzung. Ver.di hofft nun darauf, die Löhne durch eine erneute Anhebung des Pflegemindestlohns verbessern zu können. Hier haben die privaten Arbeitgeber nach einer Gesetzesänderung nicht mehr die Möglichkeit ein Veto einzulegen. Aber auch die kirchlichen Arbeitgeber standen hier meistens auf der Bremse. Und der Pflegemindestlohn wurde er schon im April 2020 erhöht und weitere jährliche Steigerungen bis April 2022 festgelegt. Weitere Erhöhungen sind also regulär erst ab 2023 möglich. Ohne starken Druck von unten wird es da keine schnelle Erhöhung geben. Und das ist für ver.di ein Problem, das nicht so einfach zu lösen ist.

Ver.di-Vorsitzender Frank Werneke hofft deshalb darauf, Minister Spahn werde eine Zusage einlösen, nach der die Pflegekasse die Mehrkosten übernehmen könne, wenn sich Pflegeheimbetreiber oder ambulanten Pflegedienste an einen Tarif halten. (Tagesspiegel 26.2.2021). Lohnerhöhungen gingen dann nicht zu Lasten der Profite, sondern würden von den Beitragszahler*innen finanziert.

„Gott kann man nicht bestreiken!“
Der „Dritte Weg“ des kirchlichen Arbeitsrechts

Obwohl die kirchlichen Verbände für ihre Kitas, Krankenhäuser, Pflegeheime und Beratungsstellen massenhaft staatliche Zuschüsse erhalten, bestehen sie beim Arbeitsrecht auf einen Sonderweg. Das bedeutet für die Beschäftigten eine erhebliche Einschränkung ihrer Rechte als Arbeitnehmer*innen. So gibt es zum Beispiel keinen Betriebs- oder Personalrat, sondern „Mitarbeitervertretungen“, die deutlich weniger Rechte haben als die Interessenvertretungen in anderen Betrieben.
Auch Tarifverträge widersprechen dem kirchlichen Arbeitsrecht. Die Arbeitsbedingungen der kirchlich Beschäftigten werden in „Arbeitsrechtlichen Kommissionen“ beschlossen. Dies wird kirchenintern als „Dritter Weg“ bezeichnet. Dieser soll sich sowohl von der einseitigen Festlegung der Gehälter und Arbeitsbedingungen durch den Arbeitgeber als auch von der gängigen Praxis von Tarifverhandlungen unterscheiden, bei der die Arbeitnehmer*innen die Möglichkeit haben, ihren Forderungen durch Streiks Nachdruck zu verleihen. Es wird das Bild einer „kirchlichen Dienstgemeinschaft“ konstruiert, die Arbeitskampfmaßnahmen als Mittel der Konfliktregulierung ausschließt. „Gott kann man nicht bestreiken“ ist eine Aussage von Günther Bahrenhoff, bis 2014 Mitglied im Diakonischen Rat des Diakonischen Werkes, bei einem Arbeitsgerichtsprozess um das Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen.
Statt in Tarifverhandlungen sollen Lohn- und Arbeitsbedingungen einvernehmlich in einer „Arbeitsrechtlichen Kommission“ (ARK) besprochen werden. Die Seite der Arbeitnehmer*innen hat dabei aber keine Möglichkeit Druck auszuüben, da ein Streikrecht nicht vorgesehen ist. Die Gewerkschaft ver.di und andere Verbände haben sich deshalb aus diesen Kommissionen verabschiedet. Vereinzelt gab es bereits Streiks in kirchlichen Einrichtungen. Aber nur in Niedersachsen gelang es, mit dem dortigen diakonischen Arbeitgebern einen Tarifvertrag abzuschließen.
Dritter Weg als Wettbewerbsvorteil
Das Bild der „kirchlichen Dienstgemeinschaft“, in der „Dienstgeber“ und „Dienstnehmer“ dem christlichen Gebot der Nächstenliebe verpflichtet und Streiks deshalb nicht angebracht sind, wird durch die Entwicklung im Sozialbereich jedoch immer stärker in Frage gestellt. Nach einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung hat sich in den letzten Jahren ein grundlegender Wandel bei den gemeinnützigen Wohlfahrtsorganisationen vollzogen. „An die Stelle des klassischen dualen Systems von öffentlichen und freigemeinnützigen Trägern im Sozialsektor tritt so ein Mix von (zahlenmäßig abnehmenden) öffentlichen Trägern, frei-gemeinnützigen und privaten Leistungsanbietern, die in einem Wettbewerb zu einander stehen und um Preise und Qualitäten konkurrieren.“ (Hans-Böckler-Stiftung: Leiharbeit und Ausgliederung in diakonischen Sozialunternehmen: Der „Dritte Weg“ zwischen normativem Anspruch und sozialwirtschaftlicher Realität). Die kirchlichen Arbeitgeber reagieren auf diese Herausforderungen wie private Anbieter auch: Lohnkosten sollen gesenkt werden, viele Tätigkeitsbereiche werden ausgegliedert oder durch Leiharbeitskräfte ausgeübt und die Betroffenen mit Billiglöhnen abgespeist. Sie verhalten sich in diesem Wettbewerb also wie ein ganz normaler Arbeitgeber. Der Dritte Weg mit seinem Streikverbot stellt somit einen Wettbewerbsvorteil dar gegenüber öffentlichen und privaten Konkurrenten – auf Kosten der Beschäftigten. Zahlten die kirchlichen Organisationen in den neunziger Jahren analog zum Öffentlichen Dienst, so gibt es heute schon deutliche Abweichungen nach unten.


aus Arbeiterpolitik Nr. 3 / 2021

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