Interviews mit Moshe Zuckermann
aus Tel Aviv

Quelle: wikimedia

Am 12. und 15. Mai führte der Journalist ​Florian Rötzer Interviews mit Moshe Zuckermann zu den jüngsten Ereignissen in Israel, die wir an dieser Stelle abdrucken.

Die Interviews als Video bei youtube:

Israel: Die Gewalteskalation liegt im Interesse Netanjahus – 12.05.2021

Israel braucht die Hamas, die Hamas braucht Netanjahu – 15.05.2021


Die Gewalteskalation liegt im Interesse Netanjahus – 12.05.2021

Die harten Auseinandersetzungen mit Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen haben am Montag begonnen. Gestern wurden Hunderte von Raketen auf Israel abgeschossen. Man gewinnt in der Berichterstattung hier den Eindruck, dass der erneute Kriegsbeginn von der Hamas und dem Islamischen Dschihad ausgegangen ist. Ist das so?

Das ist natürlich nicht so, aber es ist die Frage, wo wir  beginnen wollen. Es gab einen Vorlauf,, was diese Gewalteskalation anbelangt. Es gab eine ganze Menge von verständlichen und unverständlichen Provokationen seitens der Israelis. Derzeit ist Ramadan. Israel hat unmittelbar nach den Ramadan-Gebeten Absperrungen in Ost-Jerusalem errichtet. Dazu ist die Polizei auf dem Tempelberg eingedrungen und hat in einige der Moscheen sogar Schockgranaten geworfen ..

Ohne dass Gewalt vorhergegangen ist?

Schauen Sie, die Frage ist, wo Gewalt anfängt. Wenn die Gewalt eine Reaktion auf eine bereits ausgeübte Gewalt ist, dann kann man sich wie die kleinen Kinder streiten, wer angefangen hat. Aber natürlich muss man nach den Interessen fragen. Das Interesse auf der Seite von Hamas ist klar. Die Hamas bekämpft die PLO. Es standen Wahlen an, die PLO war interessiert, sie nicht stattfinden zu lassen. Deshalb hat Hamas jetzt versucht, die PLO unter Zugzwang zu bringen. Netanjahu ist das Pendant zur Hamas. Er wurde abgewählt und steht nun vor seiner Niederlage. Es wurde schon längere Zeit gesagt, dass Netanjahu dann, wenn er den Regierungssitz verlassen muss, zum Schlimmsten greifen wird. Deshalb hat er das angekurbelt. Netanjahu hat über Jahre verstanden, mit der Hamas immer wieder übereinzukommen, was geht und was nicht geht, und jetzt das inszeniert.

Über Jahre hieß es von Netanjahu, er sei zwar korrupt und verlogen, aber er sei kein Kriegstreiber, aber in den letzten Tagen stellte sich heraus, dass er der größte Kriegstreiber ist. Interessant ist, dass er sich sowohl auf den Generalstabschef als auch auf seinen Vertreter Benny Gantz und auf den Geheimdienst stützen kann. Alle vier sind gestern aufgetreten und haben gesagt, Israel stehe in den schlimmsten Tagen seit seiner Existenz. Es ist aber vollkommen klar, dass dies vor allem Netanjahu bedient. Das Grässliche ist, dass es ein Spiel ist, das wir seit Jahrzehnten kennen. Für Israel war es immer wichtig, dass die Hamas nicht niedergerungen wird. Israel war immer daran gelegen, dass die Hamas weiter besteht, weil sie die Feinde der PLO sind, wodurch man das palästinenische Lager spaltet. Man hat auch immer ein Übereinkommen gefunden: Ihr geht so weit, dann machen wir einen Waffenstillstand. Heute hat man zum Schlimmsten gegriffen und abgesehen vom großen Bombardement die gesamte militärische Führung der Hamas liquidiert. Es ist vollkommen klar, was das bedeutet: Wir werden heute eine Höllennacht bekommen. Wie weit das eskaliert, kann ich nicht beurteilen, ich würde aber die Prognose wagen, dass es dazu kommen könnte, dass das israelische Militär nach Gaza eindringt. In diesem Fall könnte es zu einer Notstandsregierung kommen. Und damit hätte Netanjahu genau das erreicht, was er wollte.

Ich hatte vorher gefragt, wo man bei dem Konflikt anfängt. Es hat in Ost-Jerusalem begonnen. Das ist ein besetzter Stadtteil. Das ist eine Tatsache. Wenn Israel ihn annektiert und Donald Trump dies akzeptiert hat, bedeutet das ja nicht, dass der Rest der Welt dies auch akzeptiert hat. Das hat der Rest der Welt nicht. Es ist besetztes Land. Jede Aktion Israels im besetzten Gebiet ist nach den Den Haager Gesetzen ein Kriegsverbrechen. Israel hat dort bereits eine ganze Menge Kriegsverbrechen begangen. Man könnte auch sagen, es sei eine vereinte Stadt, das sei doch prima, weil die Araber dann etwas gewonnen hätten. Aber das ist nicht so. Wenn Sie in West-Jerusalem die Infrastruktur mit der in Ost-Jerusalem betrachten, dann können Sie genau sehen, welcher Apartheidstaat hier existiert. Netanjahu hat es ja geschafft, die Besetzung von der politischen Ordnung in seinen 16 Regierungsjahren wegzuwischen, keiner spricht mehr von der Okkupation. Aber so lange sie weiter besteht, muss man immer mit solchen Gewaltausbrüchen rechnen.

Die arabischen Israelis sind Bürger zweiter Klasse, das sind Unterprivilegierte, das sind Leute, die bei der Ressourcenverteilung nie zum Zuge kommen.

Dazu kommen nun aber auch die Gewaltausbrüche innerhalb von Israel …

Genau darauf wollte ich zu sprechen kommen. Wir haben alle paar Jahre einen Gaza-Krieg. Aber jetzt haben sich die innerisraelischen Palästinenser, also die israelischen Araber, nicht nur solidarisiert, sondern sie haben auch in ihren Städten – das sind Städte mit einer gemischten Bevölkerung wie Lod, Nazareth oder Haifa  – angefangen zu toben. Hier bricht heraus, dass die Cohabitation, von der man immer redet, im Grunde eine Chimäre ist. Das sind Bürger zweiter Klasse, das sind Unterprivilegierte, das sind Leute, die bei der Ressourcenverteilung nie zum Zuge kommen. Sie haben die Schnauze seit langer Zeit so gestrichen voll, dass es jetzt nur eines Streichholzes bedurfte, um diese Explosion auszulösen. Das ist neu. Die Identifikation mit dem palästinensischen Kampf in Gaza und im Westjordanland war noch nie so radikal wie jetzt. Wir stehen unter Feuer. In dem Gewaltausbruch erkennt man, dass wir vor einer Katastrophe stehen.

Wie verhalten sich denn die politischen Vertreter der israelischen Araber im Parlament zu der Situation?

Es gab eine Koalition der arabischen Parteien. Netanjahu hat es im letzten Wahlkampf geschafft, diese auseinander zu dividieren, so dass die islamistische Ra’am-Partei bereit war, mit ihm zu koalieren, um eine Regierung zu bilden. Das hatte aber nicht gereicht. Abbas, der Chef der Partei, hat dann angefangen, zwischen dem Netanjahu- und dem Anti-Netanjahu-Block  zu lavieren. Netanjahu hat probiert, Abbas in Zugzwang zu bringen, aber der hat sich nun erst einmal zurückgezogen, da es im Moment keine Koalitionsgespräche gibt.

Es ist klar, dass jetzt die arabischen Politiker nicht geneigt sind, Netanjahu in die Hände zu spielen und ihrer Klientel zu sagen, dass sie sich ruhig verhalten sollen. Das Problem ist nur immer wieder, dass die eigentlich Leidtragenden hier die Araber selbst sind, die im Gaza-Streifen wegen der Bombardierung umkommen. Die Menschen hier sind sowieso geschlagen. Res ist ein einziges großes Gefängnis. Darüber hinaus haben alle Orte im Süden Israels großes Leid zu ertragen. Die Tatsache, dass wir hier in Tel Aviv die letzte Nacht mit Hunderten von Raketen beschossen wurden, ist nicht angenehm, aber das ist gemessen daran, was die Menschen im Süden oder was diejenigen im Gaza-Streifen zu ertragen haben, ein Kinderspiel.

Gibt es denn auch im Westjordanland Proteste?

Hier gab es keine großen Proteste, nur in Ost-Jerusalem. Das hängt auch damit zusammen, dass im heiligen mohammedanischen Ramadan als Provokation  Schockgranaten in Moscheen geworfen und die Menschen gehindert wurden hinauszugehen. Es ist klar, dass dann hier Proteste stattfinden. Im Westjordanland ist es auch deswegen relativ ruhig geblieben, weil im Augenblick die Hamas federführend ist. Sie versucht, im Westjordanland Einfluss zu gewinnen, was ihr auch gelungen ist. Die PLO, die der eigentliche Friedenspartner von Israel hätte werden sollen, ist von Israel ausgebootet worden. Es hat stattdessen die Hamas aufgepäppelt, weil die die PLO bekämpft, dafür muss man halt ertragen, dass es alle paar Jahre ein paar Tage einen Gewaltausbruch gibt. Dann hat die israelische Regierung wieder ihren Frieden.

Es gibt ja nicht nur die Hamas, sondern auch den Islamischen Dschihad. Welche Rolle spielt der in dem Konflikt?

Was die Angriffe auf Israel angeht, kooperieren die beiden im Moment sehr eng. Im Gaza-Streifen ist es manchmal so, dass dann, wenn sich eine Gruppe profilieren will, sie eine Rakete abschießt, dann heißt es von der Hamas, dass sie das nicht waren, das waren die anderen.

Sie sagten, der Konflikt war eine von Netanjahu ausgehende Provokation. Hinter ihm steht in der Palästinafrage ja ein Großteil der Bevölkerung. Man fragt sich ja, welches Ziel vor allem die israelischen Rechten verfolgen? Offenbar ja eine Annexion des Westjordanlands?

Ich weiß nicht, ob es um eine Annexion geht. Man muss eine Sache erst einmal verstehen. Es gab keinen Kampf zwischen Links und Rechts bei den letzten Wahlen. 80 Prozent des israelischen Parlaments sind Rechte oder Rechtsradikale. Es gibt zwei Blöcke: den Netanjahu-Block und den Anti-Netanjahu-Block. Im letzteren sind Leute wie Bennett oder Liebermann. Das sind ehemalige Likudleute. Sie sind kein Deut besser als Netanjahu, sie sind sogar, würde ich sagen, ideologisch noch schärfer als dieser.

Was daraus entstehen soll, ist auf keine Weise eine Alternative zur israelischen Politik, sondern more of the same, wie man im Englischen sagt, allerdings mit anderen Personen. Das hat auch das Absurdum zustande gebracht, dass ein Mann mit sechs Mandaten wie Bennett im Moment der nächste Premierminister werden will, damit der Anti-Netanjahu-Block erst einmal Netanjahu aus dem Spiel nehmen kann. Wenn Sie fragen, was daraus politisch entstehen soll, dann soll daraus ideologisch oder wertemäßig nichts Neues entstehen. Übrigens hat Netanjahu die rechtsradikalen Kahane-Leute hereingebracht. In den 80ziger Jahren ist Meir Kahane in den USA ausgestoßen worden, weil er wie ein Neonazi war. Das israelische Militär hat damals das Tabu aufgestellt, dass der Mann nicht in das Parlament darf. Aus taktischen Erwägungen heraus hat Netanjahu seine Nachfolger ins Parlament gebracht.

Die Linke hat hier eigentlich nichts mehr zu sagen.

Was macht eigentlich die Linke in Israel?

Wir müssen unterscheiden zwischen der Linken außerhalb des Zionismus, das sind die arabischen Parteien, und der zionistischen Linken, das sind die Arbeitspartei und Meretz. Das sind auch keine Linken im ökonomischen  oder gesellschaftlichen Sinn, sondern im politischen Sinn. Sie sind friedensbewegt und wollen die Okkupation beenden. Diese Linke ist sehr schwach. Es ist ein kleines Wunder, dass sie überhaupt die Hürde überschritten haben und ins Parlament gelangt sind. Die Linke hat hier eigentlich nichts mehr zu sagen. Daher ist auch die Agenda zum Frieden von Netanjahu vom Tagespolitischen weggefegt worden.

Zwischen Netanjahu und Donald Trump gab es eine enge Verbindung. Trump hatte Jerusalem als Hauptstadt anerkannt, den Plan ausgearbeitet, dass Israel große Teile des Westjordanlands annektieren kann, und Beziehungen zwischen Israel und arabischen Staaten gestiftet. Wie sieht das jetzt mit Joe Biden aus? Er scheint sich eher zurückzuhalten.

Donald Trump hat Netanjahu gewähren lassen. Aber man muss sich abschminken, dass Amerika an Israel interessiert ist. Wenn die Juden und die Palästinenser sich hier fetzen und dies nicht die amerikanischen Interessen betrifft, dann wird sich Washington nicht einmischen. Die Hoffnung, dass eines Tages die EU, von der ist sowieso nicht zu reden, oder die Amerikaner kommen und hier die Kinder zur Raison bringen, um sie an den Verhandlungstisch zu führen, hat sich immer als eine Chimäre erwiesen. Die Amerikaner können Israel mehr oder weniger gewogen sein, aber selbst bei Biden hat Israel die dreieinhalb Milliarden Dollar zur Aufrüstung erhalten. Im Grunde kann man damit rechnen, dass Amerika immer zu Israel stehen wird. Einmal kritischer und mit dem moralischen Zeigefinger oder einmal so jauchzend wie bei Donald Trump. Amerika betreibt wie jedes Land eine geopolitische Interessenpolitik. Daher hat sich mit Biden nichts grundsätzlich verändert. Selbst Trump hat die Annexion nicht zugelassen. Das hätte zu einem regionalen Krieg geführt, das konnte selbst Trump nicht zulassen. Daher ist es gut, dass Trump weg ist, und ist es auch gut, wenn Netanjahu weg sein wird, aber an den Grundstrukturen des israelisch-palästinensischen Konflikts wird sich nichts wesentliches ändern.

Und mit dem neuen Konflikt wird sich auch nichts ändern?

Im Jüdischen gibt es den Spruch: Wem ist eine Prophezeiung gegeben? Nur den Dummköpfen. Wenn ich es aus dem extrapoliere, was gewesen ist, dann wird es more of the same bleiben. Man wird wieder beschwichtigen, dieses oder jenes machen, um die Infrastruktur der Araber etwas zu reparieren, vielleicht kriegt die Hamas auch einige Vergütungen, aber ich glaube nicht, dass es darüber hinausgehen wird. Es geht um einen territorialen Konflikt. Entweder wird das Land zwischen zwei Völkern geteilt oder nicht. Wenn es geteilt wird, hat man die Chance, zu einem Frieden zu kommen. Wenn man es nicht teilt, was man seit 1967 macht, dann muss man immer damit rechnen, dass nach einer Ruhepause wieder neue Gewalt ausbricht. Es haben sich allerdings, wie ich schon sagte, einige neue Momente herausgestellt. Was im Moment mit den israelischen Arabern stattfindet, scheint mir eine neue Qualität darzustellen. Hier muss man sehen, ob die israelische Zivilgesellschaft überhaupt noch funktionsfähig ist. Aber ich bin kein Prophet, ich weiß es nicht.

Interview von Florian Rötzer, 12. Mai 2021


Israel braucht die Hamas, die Hamas braucht Netanjahu – 15.05.2021

Hier ist geopolitisch eine Gegenachse entstanden.

Die Palästinenser und auch die israelischen Araber sind sauer, weil die arabischen Staaten sich nicht einschalten. Es wird vom Verkauf der Palästinenser gesprochen. Ist die Verbindung mit Israel so eng, dass da nichts mehr kommt?

Moshe Zuckermann: Geopolitisch hat Saudi-Arabien Angst vor dem Iran. Deswegen hat sich Saudi-Arabien und andere Golfstaaten dazu überreden lassen, die Beziehungen mit Israel so auszutarieren, dass es eine neue Achse für den Fall einer Auseinandersetzung mit dem Iran gibt und Israel auf der Seite Saudi-Arabiens steht. Ich sage das etwas überspitzt, weil es ja kein Abkommen gibt. Geopolitisch hält sich deshalb Saudi-Arabien bedeckt, weil der Iran die Hisbollah im Libanon und die Hamas im Gazastreifen unterstützt. Hier ist geopolitisch eine Gegenachse entstanden.

Die Frage ist aber viel wichtiger, als sie sich anhört. Was Netanjahu geschafft hat, was besonders eklatant in der Zeit Donald Trumps war, ist, die palästinensische Frage, also die Zwei-Staaten-Lösung, so sehr vom Tisch zu fegen, dass sich heute keiner in der Welt mehr um die Palästinenser kümmert. Das verdankt sich auch der geschwächten Position des PLO-Führer Abbas. Weil sich die Hamas sehr viel stärker profiliert. Das ist genau das, was Israel immer gewollt hat. Die Hamas profiliert sich im Kampf gegen Israel, aber ich würde sie natürlich nicht unterstützen wollen. Das ist eine islamistische reaktionäre Bewegung, die auch im Gazastreifen eine Diktatur errichtet hat. Die Menschen habe unter der Hamas eine ganze Menge zu leiden. Aber im israelisch-palästinensischen Konflikt ist die Hamas im Moment die eigentliche Bewegung, die sich profiliert. Von Seiten der PLO kommt so gut wie gar nichts mehr.

Der israelisch-palästinensische Konflikt ist eingefroren.

Man gewinnt den Eindruck, dass dann, wenn es früher oder später zu einem Waffenstillstand kommen sollte, sich nichts ändert. Die Situation wird so bleiben.

Mosche Zuckermann: Der israelisch-palästinensische Konflikt ist eingefroren, wie das Netanjahu seit Jahren wollte. Wenn man fragt, was mit der Friedensinitiative ist, heißt es: Wir brauchen den Frieden gar nicht, uns geht es gut so, wie es ist, auch wenn wir alle Jahre in Kauf nehmen müssen, dass so etwas wie die Gewalteskalation jetzt passiert. Es darf nicht zu dem kommen, was 2014 geschehen ist, als der Krieg 51 Tage lang anhielt. Das will die Bevölkerung nicht mehr haben. Wenn das in ein paar Tagen beendet ist, dann gab es wieder diese Runde. Und ich kann Ihnen garantieren, dass die nächste Runde in zwei, drei Jahren kommt.

Hat sich seit den Unruhen der israelischen Araber aber nicht doch etwas verändert? Von wem geht da die Gewalt aus? Wenn man Videos sieht, dann gibt es da auch israelische Banden, die Jagd machen auf die Araber und umgekehrt.

Mosche Zuckermann: Hier ist in der Tat eine neue Qualität entstanden. Wenn wir jetzt fast einen inneren Bürgerkrieg zwischen den israelischen Juden und den israelischen Arabern haben, dann ist das etwas Neues. Eine solche Empörung, wie wir sie in den letzten Tagen gesehen haben, haben wir noch nie erlebt. Es auf der israelischen Seite Faschisten und Leute, die ein Interesse daran haben, dass die Gewalt im Landesinneren aufbricht, es gibt natürlich auch kriminelle Banden auf der Seite der Araber, die das initiieren. Aber dabei kann man es nicht belassen. Klar geworden ist darüber hinaus, dass es den israelischen Arabern zwar besser geht wie in vielen anderen Ländern, beispielsweise in Syrien oder im Irak, aber dass sie dennoch hier Bürger zweiter Klasse sind, was den Zugang zu Ressourcen oder zur Bildung angeht. Es hat sich viel Frust und vor allem Zorn aufgestaut, der sich entladen hat. Man wird, was die israelischen Araber angeht, jetzt nicht mehr zur Tagesordnung übergehen können, wie man das mit den Palästinensern in den besetzen Gebieten machen kann.

Die Polizei ist total überfordert und dysfunktional gewesen. Sie ist ein Herrschaftsinstrument zur Kriegstreiberei geworden, die Netanjahu aus persönlichen Gründen verfolgt. Was die Polizei auf dem Tempelberg gemacht hat und wie sie die Palästinenser, die nach Jerusalem kommen wollten, abgesperrt hat, war eine Provokation. In der Coronakrise haben die orthodoxen Juden die Anordnungen übertreten. Die Polizei konnte nicht gegen Zehntausende einschreiten, die ganz dicht beieinander stehen. Genau das war auch der Fall im arabischen Sektor, wo Hochzeiten gefeiert wurden. Wenn jetzt die Polizei für Ruhe und Ordnung sorgen soll, ist sie total überfordert. Abgesehen, dass die Polizei den Interessen von Netanjahu dient, ist sie einfach von ihrer Kapazität her überfordert.

Ist es denkbar, dass das Militär im Inneren eingreifen wird?

Mosche Zuckermann: Ja, es ist durchaus denkbar, dass der Grenzschutz und das Militär eingesetzt werden, wenn es zum Schlimmsten kommt. Das haben zuletzt im Jahr 200 gehabt, als der Oslo-Prozess zusammengebrochen ist. Da gab es die zweite Intifada, bei der es vorkommen ist, dass der Grenzschutz und das Militär auf israelische Araber geschossen haben. Wenn es so weit kommt, dass das Militär im Landesinneren eingesetzt wird, sind wir auf einer ganz anderen Ebene.

Das würde ja auch das Sicherheitskonzept verändern. Bislang hat Netanjahu auf den Bau von Mauern und Grenzanlagen gesetzt, im Inneren kann man aber keine Mauern aufziehen.

Mosche Zuckermann: Das eigentliche Problem im Inneren ist nicht die physische Mauer. Die Araber arbeiten in den jüdischen Städten und die Israelis wollen auch in den gemischten Städten wie Jaffa oder Nazareth einkaufen gehen. Das Problem sind die mentalen Mauern und vor allem die politischen, die man errichtet hat.

Um ein Beispiel zu nennen: Mansour Abbas, der Führer der arabischen Partei Ram in der Gemeinsamen Liste der Araber, hat versucht, das Tabu zu durchbrechen, dass mit arabischen Parteien nicht koaliert wird. Als Grund wird genannt, dass sie nicht zionistisch sind. Der Staat ist zionistisch, aber warum sollten die Araber dies sein. Darüber hinaus wurden die Tabuisierten mit Slogans belegt, also dass das alle Terrorismusanhänger seien, was hanebüchener Unsinn ist. Das ist die Propaganda, die im Lande geführt wird. Selbst im Oslo-Prozess in den neunziger Jahren, als Rabin versuchte, den Handschlag mit Arafat zu erproben, um einen Weg zum Frieden zu finden, hat er keine Koalition mit den Arabern geschlossen. Das ist in Israel ein Anathema.

Aber die Araber stellen ein Wählerkontingent, das sich sehen lassen kann. Sie können 15 oder sogar 20 Mandate von 120 erhalten, die es in der Knesseth gibt. 20 Prozent der israelischen Bevölkerung sind Araber. Wenn die alle wählen gingen, könnten sie die politische Landschaft umkrempeln. Dann könnte niemand mehr eine Koalition ohne die Araber bilden. Das hatte Manour Abbas erreichen wollen, aber er hatte dabei die Gemeinsamkeit der arabischen Parteien durchbrochen.

„Der Antisemitismus bedient die israelische Propaganda“

Es gab jetzt auch in Deutschland Proteste, es wurden Synagogen angegriffen, es wurden israelische Fahnen in Brand gesetzt. Es wird kritisiert, dass die Israel-Kritik in einen Antisemitismus umschlägt. In aller Regel werden die Palästinenser in Deutschland dafür verantwortlich gemacht, obwohl es ja auch genug deutsche Neonazis gibt. Wie sieht man das aus der israelischen Perspektive? Wird überhaupt registriert, was in Deutschland vor sich geht?

Mosche Zuckermann: Man ist erst einmal mit sich selbst beschäftigt und die Weltreaktion ist derzeit so lasch, dass man das nicht wahrnimmt. Ich muss Ihnen etwas Schlimmes sagen. Wenn es Vorkommnisse von palästinensisch, türkisch oder wie auch immer angetriebenen Antisemitismus gibt, der sich aus der Israel-Kritik bildet, dann ist das genau das, was die Israelis haben wollen. Der Antisemitismus bedient die israelische Propaganda. Man braucht den Antisemitismus, um zu sagen, die ganze Welt ist gegen uns, weshalb wir uns von niemandem etwas vorschreiben lassen.

Die Tatsache, dass einen Tag nach Ausbruch der Gewalteskalation hier, in Charlottenburg der Bürgermeister die israelische Flagge hochgehisst hat, um seine Solidarität mit Israel zu bezeugen, hat mich nicht weniger mit Ekel erfüllt als die Tatsache, dass irgendwelche Israel-Kritiker meinen, sich unbedingt antisemitisch geben zu müssen.

In Deutschland stünde die Frage an, wie die Situation zu dem jetzigen Konflikt geworden ist. Viele gutmütige Deutsche sagen, wir schulden die Solidarität den Juden, den Israelis, den Zionisten. In Deutschland gibt es mittlerweile viele Menschen aus dieser Region, ob das Araber, Palästinenser oder Türken sind. Es handelt sich um keinen Rassen-Antisemitismus, es hat mit der Tatsache zu tun, dass Israel der Feind der Länder ist, aus denen die Menschen kommen. Dass das dann umschlägt, Synagogen in Brand zu stecken, das ist das Kurzschlüssige, das im Antisemitismus schon immer vorhanden war.

Antisemitismus ist Mist, das wollen wir doch einmal festhalten. Aber er ist heute ein viel kleinere Gefahr, als er es einmal gewesen ist. Natürlich ist Antisemitismus einer der schlimmsten Ressentiments, die es in der Geschichte gegeben hat. Deswegen muss er bekämpft werden. Allerdings muss man auch sagen, dass diejenigen, die meinen, sich mit Israel solidarisieren zu sollen und darin den Antisemitismus zu bekämpfen, ein vollkommen falsches Bild haben. Israel hat eine ganze Menge dafür getan, dass in der arabischen Welt Antisemitismus gang und gäbe ist. Das hat mit dem Nahost-Konflikt zu tun, aber nicht mit einem ethnischen Krieg oder einem Religionskrieg und schon gar nicht mit einem rassistischen Krieg.

Sie würden dann auch die Reaktion der Bundesregierung kritisieren? Zwar heißt es, man dürfe Israel kritisieren, aber gleich um die Ecke ist der Antisemitismus da.

Mosche Zuckermann: Sie reden mit jemandem, der angesichts der Politik der Bundesregierung in den letzten 15 Jahren schon so weit ist, dass ich, der ich in diesem Land lebe und es besser als jeder in der deutschen Bundesregierung kenne, hier in Deutschland keinen Raum mehr bekomme, um das zu erläutern. Die Bundesregierung hat gar nichts mit Antisemitismus-Bekämpfung am Hut, und sie ist schon gar nicht in der Lage, sich damit zu beschäftigen, was sich hier abspielt. Seit 50 Jahren wird hier ein Volk von einem anderen geknechtet. Es gibt eine Besatzung, die alltäglich und vor allem allnächtlich Horrendes macht. Man braucht gar nicht die Gewalt ansehen, die in den letzten Tagen passiert ist. Auch in den sogenannten ruhigen Zeiten ist das, was jede Nacht im Westjordanland durch das Militär und den Grenzschutz passiert, eine Barbarei. Es kommt nicht von ungefähr, wenn die Leute eines Tages gewalttätig werden. Sie haben ja kein terroristisches Gen. Das Problem ist, dass das in Deutschland gar nicht wahrgenommen wird. Es wird gar nicht von der Bundesregierung verstanden. Das liegt daran, dass es mit der Gründung des Staats Israel eine Abmachung gegeben hat: Wir, die Deutschen, zahlen Wiedergutmachung, die Israelis erkennen uns an und nehmen die Wiedergutmachung an. Das war der Deal 1952. Einer der Paragraphen war: Ihr Deutschen werdet uns nicht kritisieren. So ist es auch gekommen. Die Bundesregierung – ganz egal, ob es sich um die CDU, die SPD, die Grünen oder die FDP handelt – hat es nie fertiggebracht, auch da, wo es um Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen ging, ein Statement abzugeben, weil dann von Israel sofort kam, ihr seid Antisemiten. Man hält in Deutschland Antisemitismus, Antizionismus und Israel-Kritik nicht auseinander. Das ist der Grund.

Interview von Florian Rötzer, 15. Mai 2021


Erich Fried

Seit dem Judenmord des Hitlerfaschismus hat in Westeuropa ein begreifliches kollektives Schuldgefühl oft dazu geführt, dass man sich jede Kritik an Juden verbietet, wobei man noch dazu Juden und Zionisten meist kurzerhand gleichsetzt. Ich aber empfinde außer Solidarität mit allen unschuldig Verfolgten und Benachteiligten auch etwas wie Mitverantwortlichkeit für das, was Juden in Israel den Palästinensern und anderen Arabern tun; auch für das, was sie in aller Stille jenen Juden antun, die dagegen kämpfen und protestieren. Mein Wirkungsbereich ist durch meine deutsche Muttersprache bestimmt, aber das Schicksal der Juden ist mir keineswegs gleichgültig. Ich hoffe sogar, auch ohne jüdisches Volksbewusstsein oder israelisches Nationalgefühl, sozusagen nebenher, ein besserer Jude zu sein als jene Chauvinisten und Zionisten, die, was immer ihre Absicht sein mag, in Wirklichkeit ihr Volk immer tiefer in eine Lage hineintreiben, die schließlich zu einer Katastrophe für die Juden im heutigen Israel führen könnte. Auch dagegen möchten – durch Warnung vor dem Irrweg und durch allerlei Informationen – diese Gedichte kämpfen.


 

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*