NRW nach der Landtagswahl

Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 14. Mai endete mit der Abwahl der seit 2010 regierenden SPD. Doch die Partei hat nicht nur eine Landtagswahl verloren, die vielerorts als »kleine Bundestagswahl« bezeichnet wird, sondern stürzte in der eigenen »Herzkammer« geradezu ab. Bei einer gestiegenen Wahlbeteiligung verlor die SPD landesweit 7,9 %. Bei den Erststimmen ist der Abstand zwischen CDU und SPD noch größer. Während die CDU gegenüber der SPD bei den Zweitstimmen einen Vorsprung von 33,0% zu 31,2% hatte, lag sie bei den Erststimmen mit 38,3% zu 34,5% vorne.

Von den großen Verlusten der SPD konnte DIE LINKE nur teilweise profitieren. Obwohl sie ihren Anteil von 2,5% auf 4,9% fast verdoppelte, wurde der Einzug in den Landtag knapp verpasst. Trotz der gestiegenen Wahlbeteiligung erhielt DIE LINKE immer noch 20.000 Stimmen weniger als 2010. Damals gelang der Partei mit 5,6% der Einzug in Landtag.

Soziale Spaltung und …

Der diesjährige Wahlkampf fand vor dem Hintergrund einer, selbst gemessen an sozialdemokratischen Kriterien, enttäuschenden Bilanz der rotgrünen Landesregierung statt. Zu Beginn der Amtszeit propagierte die Landesregierung »Kein Kind zurücklassen« und wollte mehr Jobs schaffen, um die hohe Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen.

Das Ergebnis ist ernüchternd: Von den zwischen 2009 und 2015 insgesamt 594.996 geschaffenen Arbeitsplätzen sind 88,1% Teilzeitjobs. Gleichzeitig stieg die Leiharbeit von 121.000 auf 203.000 Jobs. Das ist ein Zuwachs von 68%. Dagegen stieg die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zwischen 2009 und 2016 um 2,4%. Das sogenannte Jobwunder der rotgrünen Landesregierung besteht aus größtenteils atypischer Beschäftigung. Die Armutsquoten in den Großstädten sind insbesondere im Ruhrgebiet weiter gestiegen (siehe unten). [1]

… Wohlfühlwahlkampf

Die SPD ignorierte in ihrem Wahlkampf das Interesse an Lösungsvorschlägen für ihre wichtigsten Politikfelder. Für eine Mehrheit der Befragten war das Aufzeigen konkreter Lösungsvorschläge »wichtig für meine Wahlentscheidung«. Stattdessen setzte die SPD auf einen personell auf die Ministerpräsidentin Hannelore Kraft zugeschnittenen Wohlfühlwahlkampf, der unter dem Motto »NRWir« geführt wurde. Im persönlichen Gespräch beschwerten sich sozialdemokratische Gewerkschaftsfunktionäre über den »inhaltsleeren« Wahlkampf der eigenen Partei. Das hatte jedoch keinen Einfluss auf die Wahlkampagne. CDU und FDP konnten ungestört ihre Inhalte in den Wahlkampf einführen und im Fortlauf die politische Auseinandersetzung u.a. mit den Themen innere Sicherheit, Schule und »Stauland NRW« bestimmen. Obwohl der Themenblock »soziale Gerechtigkeit« bei den Wählern ganz oben rangierte, konnte und wollte die SPD keine plausiblen Antworten geben. Obwohl Kanzlerkandidat Martin Schulz mehr als zwei Dutzend Wahlkampfauftritte im Landtagswahlkampf bestritt, verzichtete er darauf, für sein Programm zu werben und dieses mit den landesspezifischen Themen zu verknüpfen. Im NRW-Wahlprogramm dominierten kleinteilige und unbestimmte Forderungen, die den umfassenden Problemen des Landes offenbar nicht gerecht werden.[2] Vom Wahlvolk wurde der SPD daher attestiert: »Hat viel versprochen und wenig gehalten«. Hinsichtlich des Heraushaltens der »sozialen Frage« verfestigte sich über die SPD in Umfragen die Ansicht: »Sagt nicht genau, was sie für soziale Gerechtigkeit tun will«. Das Ruhrgebiet wird in der Langfassung des Wahlprogramms der NRW-SPD zweimal namentlich genannt. Ein eigenes Kapitel oder eine Schwerpunktpunktsetzung für die bevölkerungsreichste Region des Landes fehlt gänzlich.

Als zum Ende des Wahlkampfes offenbar wurde, dass Rotgrün keine Regierungsmehrheit erhalten wird, geriet die SPD unter Druck. Sie machte der FDP Angebote für eine Ampelkoalition. Gleichzeitig erteilte sie der Linkspartei eine Absage: »Mit mir als Ministerpräsidentin wird es keine Regierung mit Beteiligung der Linken geben.« Der Rest ist bekannt: die FDP winkte dankend ab, die SPD verlor die Wahl und DIE LINKE bleibt draußen.

NRW-SPD:
Das ist unser Plan für Soziale Gerechtigkeit

Mehr Qualität und flexible Öffnungszeiten in Kitas, denn Bildung fängt schon bei unseren Kleinsten an.

Kitas 30 Stunden beitragsfrei pro Woche in den Kernzeiten – das entlastet Familien mehr als jede Steuerreform der letzten 20 Jahre.

Meister-Ausbildung gebührenfrei – was für Studierende gilt, muss auch für Meister gelten.

Landesweites, vergünstigtes Azubi-Ticket – das entlastet junge Menschen in der Ausbildung finanziell und erhöht ihre Mobilität.

Konsequentes Vorgehen gegen Steuerbetrug – wir lassen uns nicht von Spionen beeindrucken. Steuerhinterzieher betrügen unsere Gesellschaft.

Ausbau des sozialen Arbeitsmarktes für Langzeitarbeitslose – Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren.

Mehr Polizei – mehr Sicherheit auf der Straße und bessere Aufklärung von Verbrechen.

Mehr preiswerte Wohnungen – in fünf Jahren 50.000 neue Sozialwohnungen / 400.000 neue Wohnungen insgesamt.

 

Brennpunkt Ruhrgebiet:
Abstieg der SPD, hohe Zugewinne der AfD

Die SPD gab Stimmen in alle Richtungen ab. Die meisten Wähler wanderten Richtung CDU (310.000 Stimmen), FDP (160.000) und AfD (60.000) ab. Viele Wahlkreise gingen so verloren. Die politische Landkarte ist nun weitgehend schwarz gefärbt. Lediglich das Ruhrgebiet und einige rote Einsprengsel behalten ihre sozialdemokratischen Abgeordneten. In den verbliebenen Hochburgen – Ruhrgebiet, Ostwestfalen sowie in den Ballungsräumen Köln und Aachen – sind die Verluste überdurchschnittlich hoch.

Im Ruhrgebiet hat die SPD viele Stimmen durch Wahlenthaltung oder direkte Abwanderung zur AfD verloren. In den Städten Essen, Duisburg, Oberhausen, Bottrop, Gelsenkirchen, Herne und Bochum liegen die Wahlkreise, in denen die AfD überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen konnte. In ihren Hochburgen[3] gaben zwischen 10,3% (Recklinghausen I) und 15,2% (Gelsenkirchen II) der Wähler ihre Stimme der AfD. Die SPD verlor in den neuen AfD-Hochburgen – i.d.R. prekäre Stadtteile – in einer Größenordnung zwischen neun und dreizehn Prozent. Gemeinsam ist den Städten des Ruhrgebiets, dass sie schon jahrelang erheblich unter den Folgen der kapitalistischen Krise (Strukturwandel, Arbeitsplatzabbau, Verarmung) leiden. Im Unterschied zum Landesdurchschnitt haben diese Städte deutlich höhere Arbeitslosenquoten[4].

Die verfestigte und strukturell begründete Arbeitslosigkeit spiegelt sich in den abgehängten Ortsteilen wider, die es in vielen Städten des Ruhrgebiets gibt. Entsprechend hoch und weiter ist die Armutsquote des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen und besonders die der Ruhrgebietsstädte angestiegen. Während die Armutsquote im Bundesdurchschnitt zwischen 2005 und 2014 von 14,7% auf 15,4% anstieg, explodierte diese im selben Zeitabschnitt förmlich in Nordrhein-Westfalen und kletterte von 14,4% auf 17,5%. Von dieser Entwicklung sind ausnahmslos alle Regionen des Bundeslandes betroffen.[5] In folgenden Großstädten stellt sich das Problem der Armut noch schärfer dar: Dortmund (2014: 23,5%), Duisburg (24,8%), Düsseldorf (17,7%), Essen (20,8%) und Köln (20,5%).[6]

LINKE bleibt außen vor

Die Partei DIE LINKE hat sich deutlich auf 4,9% verbessert. Sie bleibt dennoch vor den Türen des nordrhein-westfälischen Landtags. DIE LINKE wird von den Wählern, die sich zu ihr anlässlich von Umfragen geäußert haben, als eine Partei wahrgenommen, die zwar »keine Probleme löst«, die »Dinge aber beim Namen« nennt (72%). Für 41% ist die Partei »eine gute Alternative für alle, die sich bei der SPD nicht mehr aufgehoben fühlen«. Ein fast ebenso großer Anteil (40%) bescheinigt der LINKEN, dass sie »sich am stärksten um sozialen Ausgleich« bemüht.[7]

Bei der Analyse der Wählerwanderung fällt auf, dass DIE LINKE von SPD und GRÜNEN jeweils 60.000 Stimmen gewinnt; 10.000 Wähler wandern zur AfD ab. Aus dem Lager der Nichtwähler bekommt die Partei nur 40.000 Stimmen. Zum Vergleich: Der Wahlgewinner CDU holte bei den Nichtwählern laut infratest dimap 440.000 Stimmen.

DIE LINKE hat in 25 von 128 Wahlkreisen 6% und mehr der Zweitstimmen geholt. In 78 Wahlkreisen bleibt sie weiter unter 5%. Betrachtet man die Hochburgen der LINKEN, fällt auf, dass von ihnen ein Drittel im Ruhrgebiet liegt. Die Mehrzahl ihrer guten Ergebnisse erringt DIE LINKE jedoch in Wahlkreisen von Universitätsstädten wie Köln, Bielefeld, Aachen, Düsseldorf, Bonn und Münster. In diesen Städten erzielen auch die GRÜNEN überdurchschnittliche Ergebnisse. Die Wahlkreise, in denen die AfD mit 10% und mehr Stimmenanteil ihre Hochburgen hat, überschneiden sich selten mit den Hochburgen der LINKEN. Nur drei dieser Wahlkreise weisen sowohl überdurchschnittliche Ergebnisse für DIE LINKE als auch für die AfD auf.[8] In den Wahlkreisen, in denen DIE LINKE ihre besten Ergebnisse (Köln III, 12,1%, Bielefeld I, 11,9%; Köln VI, 10,8%[9]) erringt, bekommt die AfD relativ wenig Zuspruch. [10]

Die SPD vor der Bundestagswahl

Nachdem der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel im Januar auf die Kanzlerkandidatur verzichtet hatte, wurde Martin Schulz am 29. Januar 2017 vom SPD-Parteivorstand einstimmig zum Kanzlerkandidaten nominiert. Durch die Partei ging ein Ruck. Über 16.000 Menschen traten in den letzten Monaten in die SPD ein. Schulz sprach das Thema soziale Gerechtigkeit an, das vielen Bürgern aus dem Herzen spricht: In diesem Land müsse es gerechter zugehen und die SPD wolle gemeinsam mit den Gewerkschaften der Vertreter der hart arbeitenden Menschen sein.

Schulz beklagt und kritisiert den Verlust gesellschaftlicher Solidarität, zunehmende Abstiegsängste und den schwieriger werdenden sozialen Aufstieg und konstatiert eine zunehmende Ungleichheit. Dagegen setzt er die Werte Gerechtigkeit, Solidarität und Demokratie. Dass die SPD in der von ihr geführten rotgrünen Bundesregierung unter dem Beifall der Arbeitgeberverbände die Hartz IV-Gesetze eingeführt und einen breiten Niedriglohnsektor gefördert hat, verschweigt Schulz.

Er konzediert dem geneigten Publikum: »Auch wir haben Fehler gemacht! Fehler zu machen, ist nicht ehrenrührig. Wichtig ist: Wenn Fehler gemacht werden, müssen sie korrigiert werden. Wir haben sie längst erkannt und uns auf den Weg gemacht, dort zu korrigieren, wo es notwendig ist.« [11] Es geht Schulz jedoch nicht um eine teilweise oder gar vollständige Rücknahme der Agenda 2010-Politik. Er setzt seine Rede fort mit Beispielen aus seiner Sicht politisch erfolgreicher Regierungsarbeit in der jetzigen großen Koalition. Als erstes Beispiel führt er die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns an. Er kündigt an: »Die SPD wird weiter konsequent diesen Weg fortsetzen. Vieles scheitert heute noch am Widerstand der Union.« [12]

Damit stellt Schulz klar, dass er nicht beabsichtigt, die bisherige SPD-Politik zu revidieren. Die Werte Gerechtigkeit, Solidarität und Demokratie werden zwar verbal betont. Doch die SPD formuliert keine politischen Projekte, die die beschworenen Werte Wirklichkeit werden lassen. Damit wird es auch schwierig, die eigenen Wähler oder die anderer Parteien zu mobilisieren. Es soll hier und da ein wenig justiert und korrigiert werden. Konkreter wurde der Kanzlerkandidat bisher nicht. Eine Fundierung und Unterfütterung seiner allgemeinen und im Ungefähren verbleibenden Ausführungen ist bisher unterblieben. Mit wem will die SPD ihr Programm durchsetzen? Eine Antwort bleibt die SPD bisher schuldig. Es häufen sich die Anzeichen dafür, dass die SPD dem Motto »nicht alles anders, aber vieles besser machen« folgen will. Damit bleibt sie in den vorgegebenen Gleisen der großen Koalition.

Der vorübergehende Höhenflug der SPD zu Beginn des Jahres öffnete – vor den Landtagswahlen im Saarland – zeitweilig die Möglichkeit für eine rechnerisch mögliche Mehrheit aus SPD/GRÜNE und LINKEN. Doch nach den verlorenen Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen ist diese Option obsolet. Die Konstellation »R2G« blieb wie in den vergangenen Jahren programmatisch konturenlos und konnte potentielle Anhänger nicht mobilisieren. Im Gegenteil: Die bürgerlichen Parteien CDU/FDP als auch die AfD konnten Zustimmung aus dem Lager der Nichtwähler mobilisieren und gewannen die diesjährigen Landtagswahlen.

SPD und Grüne wollen nicht einmal mit dem Stimmzettel für das Bündnis »R2G« kämpfen. Die Linke betont, je mehr die rechnerisch mögliche Bündnisoption verblasst, ihre Oppositionsrolle auch im kommenden Bundestag. SPD und Grüne gehen ihrer Wege. Beide Parteien wollen nicht für soziale Reformen kämpfen, die aus Sicht relevanter Wählerschichten der LINKEN doch wenigstens die Abwicklung einiger Maßnahmen der Agenda 2010-Politik einschließen müsste.

Die jetzige im Bundestag existierende rechnerische Mehrheit von »R2G« wäre nach heutigem Stand kein politischer Auftakt für radikale Reformen. Eine »R2G«-Bundesregierung würde lediglich punktuelle Änderungen vornehmen und ansonsten dem jetzigen Mainstream weitgehend fortführen.

Nur wenn sich breite Schichten der Lohnabhängigen im Bündnis mit anderen außerparlamentarisch tätigen sozialen Organisationen und Initiativen in Bewegung setzten und gemeinsam für ihre Interessen einträten, würde die Möglichkeit einer politischen Kursänderung bei SPD und Grünen aufscheinen.

Stand: 28.06.2017


[1] Vgl. Datenbank zur atypischen Beschäftigung; abgerufen am 25.6.2017

[2] NRW-SPD – Wahlprogramm; abgerufen am 25.6.2017

[3] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.5.2017, AfD-Hochburgen (nur Ergebnisse > 10%): Oberhausen I: 11,9%; Duisburg II: 10,7%; Duisburg III: 11,9%; Duisburg IV: 14,6%; Essen I: 12,0%; Recklinghausen I, II, III: 10,3%, 11,0%, 10,9%; Gelsenkirchen I: 14,1% und Bottrop 11,0%; Bochum III 11,9%.

[4] Arbeitslosenquoten Mai 2017: Bundesdurchschnitt 5,6%, NRW-Durchschnitt 7,4%. Gelsenkirchen: 14,1%; Duisburg: 12,6%; Herne: 12,0%; Essen: 11,4%; Recklinghausen: 9,9%; Bochum: 9,7 und Bottrop 8,0%. 20.06.17 unter castrop-rauxel.de

[5] Vgl. Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband: Zeit zu handeln. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2016, S. 20f.

[6] Vgl. a.a.O, S.22

[7] Rosa-Luxemburg-Stiftung, Horst Kahrs/Benjamin-Immanuel Hoff: Die Wahl zum 17. Landtag des Landes NRW am 14. Mai 2017, Wahlnachtbericht und erste Analyse, S. 20.

[8] Vgl. a.a.O., S.29. Es handelt sich um die Wahlkreise (Ergebnisse der LINKEN/AfD in Klammern) Duisburg III (LINKE 7,4%/AfD 11,9%); Bochum III (6,9%/10,7%) und Oberhausen I (6,4%/11,9%).

[9] Alle Wahlergebnisse finden sich auf der Seite des Landeswahlleiters NRW

[10] Für Köln III, 5,1%; Bielefeld I, 5,0%; Köln VI, 6,1%. Vgl. Rosa-Luxemburg-Stiftung, a.a.O, S.29

[11] Martin Schulz: Arbeit in Deutschland, Rede in Bielefeld vom 20.02.2017, abgerufen am 25.6.2017

[12] Ebenda


aus Arbeiterpolitik Nr. 3/4 2017

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