Oktoberrevolution, Faschismus, 2. Weltkrieg und Zusammenbruch der Sowjetunion

Zur Diskussion

Sofort nach der Oktoberrevolution vor fast genau 100 Jahren war der erste Staat revolutionärer Arbeiterinnen und Arbeiter das Ziel zahlreicher Angriffe aus dem imperialistischen Lager. Das Kind sollte in der Wiege erstickt werden, damit nicht etwa andere dem Beispiel folgen würden. Diese Situation einer »belagerten Festung« wurde in unserer Broschüre »Weiße Flecken« ausführlich beschrieben. Es wurde hergeleitet, wie nach dem gewonnenen Bürgerkrieg die berechtigte Angst vor einer neuen großen Invasion die Innenpolitik der jungen Sowjetunion beeinflusste, wie innere und äußere Faktoren zu Zwangskollektivierung, Säuberungen, Schauprozessen und Terror führten.

Die Sowjetunion war nach dem 2. Weltkrieg immer noch isoliert. Sie hatte sich durch ihren militärischen Sieg einen cordon sanitaire von besetzten Staaten geschaffen und konnte damit ihre Gegner räumlich auf Distanz halten. Allerdings hatte die Besetzung dieser Länder einen politischen Preis, wie sich in den Aufständen in der DDR 1953, in Ungarn 1956, in der CSSR 1968 und der Lage im Polen der 1980er Jahre zeigte. Eine ernstzunehmende Unterstützung der Arbeiterbewegungen in Westeuropa hatte sie schon in den 1930er Jahren weitgehend verspielt. In Deutschland durch das Drängen der KPdSU auf die ultralinke Politik unter den Parolen von »Sozialfaschismus« und der »nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes«: mit katastrophalen Folgen. Im Spanischen Bürgerkrieg durch die Volksfrontpolitik, die die Verteidigung der Republik und ihrer Eigentumsverhältnisse an erste Stelle setzte und die Bodenreform, die Vergesellschaftung von Boden und industriellen Produktionsmitteln auf die Zukunft verschob und damit die Revolution ihres ökonomischen Inhalts beraubte. Die soziale Revolution wurde der Hoffnung auf ein Bündnis der Sowjetunion mit den Bourgeoisien der Westmächte geopfert. Eine vergleichbare Wirkung hatte die Volksfront in Frankreich. Der Hitler-Stalin-Pakt wirkte nicht nur auf die Anhänger der Kommunistischen Partei Frankreichs in extrem desorientierender Weise. Von der Kapitulation Frankreichs im Juni 1940 bis zum Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 war die PCF in der Resistance nicht vertreten. Die Partei der Sowjetunion hatte nicht die notwendige Distanz zu ihrem Staat, um den Genossinnen und Genossen im Ausland die Notwendigkeit des Paktes aus der Schwäche der Sowjetunion heraus zu erklären. Statt dessen schien sie mit der NSDAP zu fraternisieren.

Das ersehnte Bündnis mit den Bourgeoisien der Westmächte kam durch den Überfall der Faschisten auf die Sowjetunion zustande. August Thalheimer schrieb 1946: »Eine gemeinsame imperialistische Front gegen die Sowjetunion kam nicht zustande. Dafür musste die Sowjetunion einen hohen Preis bezahlen. Der Preis war der Verzicht darauf, den Krieg als revolutionären zu führen. Das schloss vor allem auch ein den Verzicht der Sowjetunion auf die Revolutionierung Deutschlands während des Krieges. Die sozialistische Revolution in Deutschland war das Hauptopfer der Koalition eines sozialistischen Staates mit zwei imperialistischen Weltmächten. Dies war der Preis für die Erhaltung der Aufspaltung des imperialistischen Gesamtlagers während des ganzen Kriegsverlaufs, ohne die der Sowjetstaat nicht hätte überleben können.« (Grundlinien und Grundbegriffe der Weltpolitik nach dem 2. Weltkrieg, 1946) Die Frage ist allerdings, ob die Sowjetunion 1941, nach dem Terror und den Säuberungen der 1930iger Jahre, überhaupt noch in der Lage war, den Krieg als einen revolutionären zu führen. Jedenfalls wurde die Kommunistische Internationale aufgelöst und später durch die Mitarbeit in der UNO ersetzt: der Internationale der Bourgeoisie.

Trotz unglaublicher Aufbauleistungen lagen nach dem Krieg die Sowjetunion und ihr Block ökonomisch und technisch in den allermeisten Bereichen hinter dem Westblock zurück. Dass die moskautreuen Parteien den Grund dafür nicht erklärten, sondern die Verhältnisse schön redeten, stieß viele Kollegen in Westeuropa ab. Der bis dahin nicht gekannte selbsttragende kapitalistische Aufschwung im Westen bis 1973, die materielle Verbesserung der Lage der westeuropäischen Arbeiterklassen: Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen, bezahlte Krankentage, Sozial-, Kranken- und Rentenversicherungen, längere Urlaubszeiten, die Möglichkeit zu Urlaubsreisen entzogen revolutionären Ideen in Westeuropa weitgehend den Boden. Die Sozialdemokratie schien in der Lage zu sein, den Kapitalismus im Interesse der Arbeiterklasse zu bändigen. Dagegen wirkten die Gängelungen und Bevormundungen der Parteien im Ostblock abstoßend. Als politischer Offenbarungseid wirkte 1961 der Bau der Mauer in Berlin. Ein sozialistisches Lager, das gezwungen war, seine Bevölkerung einzusperren, wirkte in der Tat nicht sehr überzeugend.

Aufrüstung, Staatsschulden, Krieg

Es waren insbesondere die Interessen der Kohle-, Stahl- und Rüstungsproduzenten, die am Ende der Weimarer Republik die NSDAP zur politischen Macht drängten. Das deutsche Kapital war durch die Weltwirtschaftskrise von 1929, die Krise weltweiter gigantischer Überkapazitäten, in eine unerträgliche Zwangslage geraten. Die Reparationsverpflichtungen, der Verlust von Kolonien und Exportmärkten hatten Deutschland zum schwächsten Glied in der Kette der kapitalistischen Staaten werden lassen. Es gab keine Kapitalreserven um einen keynesianischen Ausweg ähnlich dem New-Deal in den USA zu finden. Die schwächsten Teile der deutschen Bourgeoisie waren das Kohle- und Stahlkapital und Teile des Chemie-Kapitals. Sie waren nicht mehr exportfähig und suchten in der »Harzburger Front« den Ausweg in Autarkie, Rüstungsproduktion und Krieg, um die Kosten aus der Bevölkerung der eroberten Gebiete wieder einzutreiben. Eine solche Politik konnte dem noch exportfähigen Kapital der Elektroindustrie, beispielhaft sei Siemens genannt, und dem exportfähigen Teil des Chemie-Kapitals nicht gefallen. Eine Autarkie- und Kriegspolitik musste sie von ihren Exportmärkten abschneiden. Dieser Teil des deutschen Kapitals konnte erst im November 1932 für das Autarkie- und Kriegsprogramm gewonnen werden.

Der Grund war überraschenderweise gerade das schlechte Abschneiden der NSDAP bei den Reichstagswahlen 1932. Zwei Millionen Wähler hatten der Partei seit dem Juli den Rücken gekehrt. Die faschistische Partei, die im Lauf der Weltwirtschaftskrise all die Elemente wie ein Staubsauger aufgesogen hatte, die von der Krise aufs Pflaster geschmissen worden waren: bankrotte Klein- und Großbürger, zwangsversteigerte Landwirte, Lumpenproletariat, Deklassierte aus allen Klassen; diese Partei schien ihre Staubsaugerwirkung zu verlieren. Wo sollte ihre von Verelendung bedrohte Anhängerschaft hin? Sie würden auf keinen Fall zu den bürgerlichen Parteien, den Parteien der kapitalistischen Krise, zurückkehren. Sie wollten eine radikale Änderung mindestens ihrer persönlichen Verhältnisse. Der Bourgeoisie saß noch der Schock der Novemberrevolution im Nacken, der Bürgerkrieg im Frühjahr 1919, die Rote Ruhrarmee, die gegen den Kapp-Putsch im März 1920 mit 60.000 bewaffneten Arbeiterinnen und Arbeitern den größten Teil des Ruhrgebietes befreit hatte. Ohne die Hilfe der Mehrheits-SPD wäre das Spiel für die deutsche Bourgeoisie verloren gewesen. Hätten die Putschisten um Kapp und Lüttwitz noch zwei Wochen durchgehalten, der Generalstreik angedauert, die Lage wäre wahrscheinlich nicht mehr zu halten gewesen. Mit diesen Erfahrungen im Nacken entschieden sich nun auch Siemens und Teile der IG-Farben, den Sprung in die faschistische Diktatur zu wagen. Bevor alles verloren ging, das Privateigentum an Produktionsmitteln insgesamt in Gefahr war, verzichtete man lieber auf den Auftrag für die U-Bahn in Buenos Aires und nahm mit Rüstungsaufträgen vorlieb. Jetzt waren alle Kapitalfraktionen, jetzt war die gesamte deutsche Bourgeoisie bereit für den »Sprung ins Dunkle«, den Sprung in den faschistischen Staatsstreich.

Die Rüstungskonjunktur wurde mit einer Härte durchgeführt, die der Schwäche des deutschen Kapitals entsprach. Gewerkschaften und Parteien wurden verboten, die Löhne diktiert. Das deutsche Kapital ging von der relativen zur absoluten Mehrwertproduktion über. Das heißt, die Löhne entsprachen gerade dem Lebensnotwendigsten. Man produzierte auf Pump und war gezwungen, alle Kosten durch einen zu gewinnenden Krieg wieder herein zu holen.

Man erkannte im Westen und auch in Polen, was vor sich ging. Aber gerade Großbritannien war bestrebt, das faschistische Deutschland nicht zu früh zu stoppen, sondern seine Energie gegen die Sowjetunion, den klassenmäßigen Todfeind der britischen Bourgeoisie zu lenken. Ausdruck davon ist das Münchener Abkommen, in dem die Tschechoslowakei Nazideutschland zum Fraß vorgeworfen wurde. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt und der Besetzung Polens, Dänemarks, Norwegens, und schließlich Frankreichs, stand nun das Empire mit dem Rücken zur Wand.

Die faschistische Militärführung hatte gehofft, vor dem unvermeidlichen Überfall auf die Sowjetunion Großbritannien ausschalten zu können. Nach der verlorenen Luftschlacht um England mussten die Pläne geändert werden. Der faschistischen Führung war sehr bewusst, dass sie wenig Zeit hatte. Wenn erst die USA wie im 1. Weltkrieg eingreifen und ihr weit überlegenes Industriepotential zur Geltung bringen würde, war das Spiel verloren. Unter enormem Zeitdruck musste nun die Sowjetunion geschlagen werden um ihr Industriepotential und ihre Rohstoffe in die Hände zu bekommen. Danach hätte man auch die Möglichkeit, das Empire in Indien zu bedrohen.

Von Anfang an war das deutsche Militär gezwungen va banque zu spielen. Das deutsche Kapital hatte keine Reserven und musste jede Schlacht und jeden Krieg gewinnen, bevor seine Gegner ihr Potential entfalten konnten. Der Überfall auf die Sowjetunion stand aber von Anfang an unter keinem guten Stern. Der Angriffsbeginn musste wegen des antideutschen Putsches in Jugoslawien zeitlich verschoben werden. Die Panzerketten und das andere Material waren durch den Balkan- und Griechenlandfeldzug schon angegriffen. Die deutschen Fallschirmjäger erholten sich von ihren Verlusten auf Kreta nie wieder.

Nach dem 22. Juni 1941 schien zunächst alles glatt zu laufen. Die sowjetische Armee schien vollkommen überrascht. In großen Kesselschlachten konnten zunächst ungeheure Mengen an Gefangenen gemacht werden. Das sowjetische Reich schien wie ein Kartenhaus zusammen zu stürzen.

Der »Große Vaterländische Krieg«

Die deutschen Geheimdienste hatten die innenpolitische Schwäche der KPdSU klar erkannt. Der Versuch, Industrie und Landwirtschaft gleichmäßig zu entwickeln, die Neue Ökonomische Politik, war gescheitert. Die Partei, die die Bauern nicht mit industriellen Erzeugnissen bezahlen konnte, holte sich nach 1928 das Getreide mit Gewalt. Die kleinen Parzellen, für die die russischen Bauern die Revolution gemacht hatten, so wie ihre französischen Brüder von 1789 bis 1815, wurden von der Partei enteignet und die Bauern in landwirtschaftliche Großbetriebe gesteckt. Die entscheidende revolutionäre Klasse von 1917 hasste nun die Partei. Diese verschmolz immer stärker mit dem Staat und wurde dadurch gezwungen, Widersprüche zu unterdrücken, statt sie nutzbar zu machen. Die mangelnde Initiative der Bauern und der Arbeiter wurde mehr und mehr durch Bürokratie ersetzt. Die Zwangskollektivierung erforderte den Terror. Viele geniale Ingenieure, viele gute Offiziere saßen in den Lagern.

Als die faschistischen Armeen die Sowjetunion überfielen, hoffte ein Teil der Landbevölkerung anfangs auf bessere Zeiten. Dann erkannte man die Realität. Die faschistische Führung hatte den Krieg von Beginn an als Raub- und Vernichtungskrieg geplant. Wegen der eigenen ökonomischen Schwäche, wegen des Zeitdrucks konnte und wollte man keinerlei Rücksichten auf die Zivilbevölkerung nehmen. Der ökonomisch äußerst prekären Lage, die das deutsche Kapital in den faschistischen Staatsstreich getrieben hatte, entsprach eine menschenverachtende Ideologie. »Wehe dem, der schwach ist!«, das waren Hitlers Lehren aus seiner Zeit im Männerheim in Wien. Neben dem üblichen Chauvinismus und dem aristokratischen Dünkel der alten preußischen Offizierskaste waren mit dem Staatsstreich die Kämpfer der Konterrevolution an wichtige Posten in der Exekutive gekommen. Die SA mit ihren revolutionär scheinenden Attitüden war zwar auf Wunsch der Reichswehrführung im »Röhm-Putsch« 1934 de facto ausgeschaltet worden. Aber in Partei, SS und Gestapo wurde ein grausamer Hass gegen alles vermeintlich Schwache und Minderwertige gepflegt. Dieser chauvinistische Rassismus, gepaart mit einem extremen Antisemitismus, hatte seine Wurzeln im bürgerlich-nationalistischen Denken der Kolonialzeit. Wegen der vermeintlichen Erniedrigungen durch verlorenen Weltkrieg und Revolution wurde er aufs Äußerste zugespitzt. Ihr Handwerk, das Abschlachten von Menschen, hatten diese Landsknechte im Weltkrieg und bei den Massenhinrichtungen von revolutionären Arbeiterinnen und Arbeitern gelernt. Aber der »Generalplan Ost«, die geplante Vernichtung der jüdischen und großer Teile der polnischen, serbischen und sowjetischen Zivilbevölkerung drückte noch mehr aus: Die Krise von 1929 war die bislang schwerste Überakkumulationskrise des Kapitalismus in seiner Geschichte. Deutschland war von dieser Überakkumulationskrise stärker betroffen als alle anderen kapitalistischen Staaten, weil es einen hohen Anteil an konstantem Kapital hatte: Maschinen, Anlagen, Infrastruktur, und gleichzeitig die geringsten Mittel, die aufgrund der Überakkumulation fehlende Nachfrage durch staatliche Reserven auszugleichen oder abzumildern. Der Ausweg in Rüstungskonjunktur und Faschismus erforderte den Krieg. Die prekäre Kapital- und Rohstoffbasis und die prekäre militärische Lage – man war wieder einmal in den Alptraum der deutschen Militärgeschichte geraten: den Zwei- Fronten-Krieg – erforderte die Führung des Krieges im Osten als Vernichtungskrieg. Dies ist der tiefere Grund für die bislang beispiellosen Todesfabriken der faschistischen Vernichtungslager, Auschwitz, Chelmno, Sobibor, Treblinka, Maidanek, Belzec, Bronnaja Gora, Maly Trostinez. Die Praxis des industriellen Tötens konnte sich erst in der entfesselten Gewalt des Vernichtungskriegs im Osten entfalten. Das massenhafte Sterben im Kapitalismus war und ist kein »Naturgesetz«. Es ist ein gesellschaftliches Gesetz.

Die Bevölkerung der Sowjetunion merkte sehr schnell, welche Bestie ihr an die Gurgel gesprungen war. Besonders die Kommunisten standen im Fadenkreuz. Die Zahl der gefangenen Rotarmisten nahm sprunghaft ab. Man kämpfte lieber bis zum Tod als sich gefangen nehmen zu lassen. Stand die kommunistische Partei vor dem Überfall innenpolitisch mit dem Rücken zur Wand, so wurde gerade durch den Überfall der Faschisten die Masse der Bevölkerung in ihre Reihen getrieben, als der einzigen gesellschaftlichen Kraft, die die Verteidigung organisieren konnte. Und die Partei musste alle Hilfsmittel in Anspruch nehmen, die ihr zur Verfügung standen, auch den russischen Nationalismus und die orthodoxe Kirche.

Die Verluste der Wehrmacht waren von Anfang an größer als erwartet, der Widerstand hartnäckiger. Bis September sollten Leningrad und Moskau erobert sein, man hatte nicht einmal für Winterkleidung gesorgt, so schnell würde es gehen. Die Erkenntnis der Realität traf die faschistische Führung wie ein Schock. Im Schlamm und dann bei eisigen Temperaturen kämpfte man sich mühsam an Moskau heran, um mit seiner Eroberung den ersten Feldzug abzuschließen. Die Gegenoffensive der sowjetischen Armee, die viel größere Reserven mobilisieren konnte als erwartet, war die erste Niederlage faschistischer Truppen. Die Invasoren konnten im Winterfeldzug 1941/1942 um bis zu 250 Kilometer zurück geworfen werden. Im Dezember 1941 traten auch die USA in den Krieg ein. Das Zeitfenster für die Achsenmächte wurde jetzt bedrohlich schmal.

Die Sommeroffensive der Naziwehrmacht 1942 war bereits nur noch eine Teiloffensive. Die Eroberung Moskaus war nicht mehr möglich. Die prekäre Rohstoffbasis erzwang die Eroberung der kaukasischen Ölquellen. Gleichzeitig sollte der sowjetische Warenverkehr auf der Wolga unterbrochen werden.

Die Wende von Stalingrad

Der deutschen Generalität war schon im April 1942 klar, dass die »Operation Blau« eine Überdehnung der eigenen Kräfte bedeuteten könnte. Ein Gebiet sollte erobert und gesichert werden, das von Woronesch am Don über Stalingrad an der Wolga bis Astrachan am Kaspischen Meer reichte. Nach Beginn der Offensive im Juni wurde die Heeresgruppe Süd aus fünf deutschen und einer verbündeten Armee im Juli in zwei Teile geteilt. Der Großteil der faschistischen Armeen, die Heeresgruppe A, sollte den Kaukasus und die Ölquellen erobern, die Heeresgruppe B, darunter die 6. Armee unter Paulus, gleichzeitig den Angriff auf Stalingrad führen. Ende Juli wurde der für die 6. Armee bestimmte Treibstoff zur Heeresgruppe A umgeleitet, so dass die 6. Armee nun für fast 18 Tage weitgehend lahmgelegt war.

Auf der Seite der Sowjetunion löste der Fall Rostows am 28. Juli einen Schock aus. Der Weg zum Kaukasus war damit für die faschistischen Truppen offen. In Rostow waren es Elitetruppen des Inlandsgeheimdienstes NKWD, die sich ohne Befehl aus der Stadt abgesetzt hatten. Die politische und militärische Führung der Sowjetunion befürchtete nun den Ausbruch von Panik bei den Truppen, die Auflösung des notwendigen Rückzugs in wilde Flucht. Die Sowjetunion stand in diesen Tagen ökonomisch und militärisch vor dem Abgrund, vor ihrem Zusammenbruch. Auf Massenkundgebungen wurde eiserne Disziplin gefordert. Ein neuer Orden wurde nach General Kutusow benannt, der Napoleon im Feldzug 1812 vernichtend schlagen konnte. Dieser Orden wurde für vorzügliche Leistungen bei einem geordneten Rückzug verliehen. Die Disziplin musste teilweise durch drakonische Strafen und Erschießungen durchgesetzt werden. Gleichzeitig mobilisierte sich die Bevölkerung Stalingrads in einem außergewöhnlichen Maß für den Bau von Verteidigungsanlagen und die Produktion von Waffen. Nur mit gezogener Waffe durch die Politkommissare und ohne den Elan von großen Teilen der Bevölkerung hätte die Sowjetunion diesen Stoß nicht überleben können.

Ende August fuhren die gerade gebauten T-34 Panzer aus den Montagehallen des Traktorenwerks Felix Dscherschinski direkt in die Schlacht. »Arbeiter in werktäglicher Kleidung lagen tot auf dem Schlachtfeld, oft noch mit Gewehr oder Maschinenpistole in der erstarrten Hand. Arbeiter umklammerten noch im Tod das Steuer der abgeschossenen Panzer. Das hatten wir bisher noch nie erlebt«, so der Bericht von Oberst Adam, Stabsoffizier der 6. Armee. (Stalingrad, Anatomie einer Schlacht, Januz Piekalkiewicz, 5. Auflage, München, 1993, S. 136) Die Verteidigung ihrer Stadt und ihrer Fabriken durch die Bevölkerung Stalingrads zeigt hier deutlich den Charakter des Kriegs gegen die Sowjetunion als konterrevolutionären Klassenkrieg. Es war nicht die Bourgeoisie, wie in Frankreich, die von den deutschen Besatzern ausgeplündert wurde, sondern das Eigentum an Fabriken, Rohstoffen, Land, war faktisch Kollektiveigentum.

Den Klassencharakter des Krieges im Osten zeigt auch die Herkunft der Offiziere. Waren es auf Seite der Wehrmacht besonders viele Adelige, so waren die sowjetischen Offiziere überwiegend Bauern, die zum großen Teil ihre Erfahrungen schon im revolutionären Bürgerkrieg gemacht hatten. Die Masse der Rotarmisten waren zwangskollektivierte Bauern oder Arbeiter, die erst relativ kurz vom Land in die Stadt gekommen waren. Gegen die Konterrevolution der neuen faschistischen Grundherren und Sklavenhalter verteidigten sie die Freiheit ihres Landes, als wäre es ihre Parzelle. Wenn diese Armee von frisch gebackenen Arbeitern und Bauern außerhalb der Landesgrenzen agieren musste, hatte sie eine äußerst geringe Kampfmoral. Bei der Verteidigung der »russischen Erde« wuchsen diese Soldatinnen und Soldaten über sich hinaus.

Nachdem sich die faschistische Offensive in den Trümmern der zerbombten Stadt durch den hartnäckigen Widerstand der Verteidiger festgefahren hatte, konnte das sowjetische Oberkommando, von den Faschisten unbemerkt, Reserven an Wolga und Don aufbauen. In einer doppelten Operation am 19. und 20 November gelang es den sowjetischen Truppen nach einem Zangenangriff von Norden und Südosten, sich bei Kalatsch zu vereinigen und die 6. Armee einzukesseln. Der zweite Teil des sowjetischen Plans war, nach der Vernichtung der 6. Armee in einer zweiten Operation bis nach Rostow an der Mündung des Dons ins Asowsche Meer vorzustoßen und so auch die Heeresgruppe A abzuschneiden und zu vernichten. Dieser Teil scheiterte am hartnäckigen Widerstand der ab Dezember unterversorgten und im Januar 1943 völlig unterernährten 6. Armee, die erst am 2. Februar 1943 völlig zusammenbrach. Auch wegen der wochenlangen Unterernährung überlebten von den 107.000 gefangenen deutschen Soldaten nur etwa 6.000 die Kriegsgefangenschaft. Und das, obwohl die deutschen Kriegsgefangenen die gleichen Rationen wie die sowjetischen Soldaten bekamen. Diese Rationen waren nicht üppig, sowjetische Kriegsveteranen berichteten, dass sie vom ersten Tag ihrer Einberufung bis zur Befreiung Berlins nie richtig satt waren. Vergleichen wir aber das Prinzip der Sowjetunion, den deutschen Kriegsgefangenen die gleichen Rationen zu geben wie den eigenen Soldaten, mit der »Behandlung« sowjetischer Kriegsgefangener durch die Faschisten – in deren Gefangenschaft Millionen von Rotarmisten buchstäblich verhungerten! Jetzt wird es schon etwas schwer, zu argumentieren, beide »totalitären Regime« hätten sich nicht wesentlich voneinander unterschieden!

Nach der Vernichtung der 6. Armee in Stalingrad war der Bevölkerung in Deutschland klar, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Die vom Faschismus unterjochten Völker Europas begannen Hoffnung zu schöpfen. Nach der Vernichtung der deutschen Panzerstreitkräfte in der Schlacht im Kursker Bogen im Juli 1943 hatte das faschistische Oberkommando die strategische Initiative im Osten für immer verloren. Es war nur noch möglich, durch geschicktes Taktieren, den Zeitpunkt des Zusammenbruchs hinaus zu zögern. Dadurch zog sich der europäische Krieg noch 21 Monate hin, obwohl am Ausgang kein Zweifel bestehen konnte. Teile der politischen und militärischen Führung des »Dritten Reiches« klammerten sich an die Hoffnung, die West-Alliierten würden doch noch die Seite wechseln und mit ihnen gemeinsam die Sowjetunion, ihren gemeinsamen klassenmäßigen Todfeind, vernichten. Das war den Führungen Großbritanniens und der USA aus innenpolitischen Gründen unmöglich. Sie hatten die Arbeiterklassen ihrer Länder unter der Parole des Kampfes gegen den Faschismus für den Krieg mobilisiert. Josef Stalin wurde in amerikanischen Zeitungen liebevoll als »Uncle Joe« bezeichnet. Ein Wechsel ins Bündnis mit den Faschisten gegen die Sowjetunion wäre gegen diese Stimmung in der arbeitenden Bevölkerung nicht durchführbar gewesen.

Nach den Niederlagen von Stalingrad und Kursk konnte sich die faschistische Führung der Unterstützung durch große Teile der Bevölkerung nicht mehr sicher sein. »Das deutsche Kapital und der Faschismus sahen sich damit nicht nur mit der Gefahr einer militärischen Niederlage, sondern auch mit der Gefahr des ,Zusammenbruchs der inneren Front› konfrontiert. Die Erfahrungen des deutschen Imperialismus im ersten Weltkrieg: die Zersetzung der Armee, die Novemberrevolution, die Gefahr des Zusammenbruchs der kapitalistischen Herrschaft, hatten die Innenpolitik des Faschismus bereits in den vorangegangenen Jahren mitbestimmt. Mit den Problemen des deutschen Vormarschs an der Ostfront bereits 1941, vollends mit der Niederlage von Stalingrad im Winter 1942/43, wird diese Gefahr akut. Wie wird die Bevölkerung auf Niederlagen, auf einen möglichen Zusammenbruch der Versorgung reagieren?« (Zionismus, Faschismus, Kollektivschuld, Broschüre, Hamburg, 1989, S. 18)

Bedingungslose Kapitulation, Bombenkrieg und Kollektivschuldthese

Wir haben schon darauf hingewiesen, dass die Sowjetunion aufgrund ihrer Schwäche und der Schwäche der internationalen Arbeiterbewegung den Krieg nicht als internationalen revolutionären Befreiungskrieg führen konnte, so wie sie den Bürgerkrieg geführt hatte, aus dem sie entstanden war. Damals hatten Lenin und die Partei die Losung von einem »Demokratischen Frieden ohne Annektionen und Kontributionen« ausgegeben, bei den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk hatte die junge Sowjetunion auf Geheimdiplomatie verzichtet und sich damit weltweit die Sympathien vieler klassenbewusster Arbeiterinnen und Arbeiter erworben. Diese Sympathien und die daraus erwachsene Solidarität waren ihre Stärke und hatten mit geholfen, die Interventionstruppen zu zersetzen und zu besiegen. Beispielhaft sei der Aufstand in der französischen Schwarzmeerflotte im April 1919 genannt. Unter der Losung: »Hände weg von Sowjetrussland« meuterten die Besatzungen und hissten rote Fahnen auf ihren Schiffen. Der Aufstand weitete sich auf die französischen Heimathäfen aus und konnte erst im Juni 1919 endgültig niedergeschlagen werden.

Stalin und die KPdSU hatten zum Ende des zweiten Weltkrieges, im Gegensatz zur Haltung Lenins, die Illusion, klassische Machtpolitik könne die Lage der Sowjetunion konsolidieren. Die Verhandlungen mit den Westalliierten blieben geheim. Staaten und Völker wurden verschoben wie Figuren auf einem Schachbrett. Die polnischen Staatsgrenzen wurden nach Westen verschoben. Die neue Westgrenze der Sowjetunion entsprach in etwa der Curzon-Linie, die der britische Außenminister am 8. Dezember 1919 in Paris aufgrund der Bevölkerungsverhältnisse als russisch-polnische Demarkationslinie vorgeschlagen hatte. Die Hälfte Ostpreußens wurde annektiert. Polnische Bevölkerung wurde nach Westen vertrieben, die dort lebende deutsche Bevölkerung weiter nach Westen. Alles ohne Volksabstimmungen, als Ergebnis geheimer Verhandlungen.

Das Bündnis mit den imperialistischen Westmächten forderte die Unterordnung unter die Losung der »bedingungslosen Kapitulation« Deutschlands. »Das Pochen auf bedingungslose Kapitulation (auf das die USA und Großbritannien bestanden hatten) und der gezielte Bombenkrieg gegen die Arbeiterwohngebiete signalisierte, dass auch nach einem Sturz Hitlers die Westalliierten keine Entwicklung revolutionärer Kräfte in Deutschland zulassen wollten. Dadurch wurden die Perspektiven eines revolutionären Widerstands in Deutschland beschnitten. Diesen Rahmen akzeptierte auch die Sowjetunion, indem sie sich auf Bündnisse mit sozialdemokratischen Exilpolitikern, bürgerlichen Kreisen und Offizieren im Rahmen der Volksfrontpolitik beschränkte, um das Kriegsbündnis mit USA und Großbritannien nicht zu gefährden.« (Zionismus, a.a.O., S. 19)

Die Ideologie der »Kollektivschuld« der gesamten Bevölkerung in Deutschland, wie sie in den Potsdamer Beschlüssen durch alle Siegermächte festgehalten wurde, war notwendig um in den westlichen Besatzungszonen die Privateigentümer der Produktionsmittel politisch und ökonomisch zu rehabilitieren. Wenn das ganze deutsche Volk schuld war, also auch die klassenbewussten Arbeiterinnen und Arbeiter, die ja vor 1933 offen und danach versteckt die Faschisten politisch bekämpft hatten, dann konnten sich die Privateigentümer in diesem Kollektiv verstecken. Dann musste nicht mehr darüber gesprochen werden, welche ökonomischen Gründe zu Diktatur, Aufrüstung und Krieg gedrängt hatten. Diese Zusammenhänge waren der Masse der deutschen Bevölkerung 1945 wesentlich bewusster als heute. Davon zeugt das Ahlener Programm der nordrhein- westfälischen CDU vom Februar 1947, das Sätze wie diese enthält: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen.« Stattdessen erfolgte in den Westzonen die Restauration des Kapitalismus. Die Westalliierten führten eine »Entnazifizierung« durch, die darin bestand, demokratisch gewendeten Faschisten Persilscheine auszustellen und sie in Führung und Institutionen des westdeutschen Staates zu integrieren. Die praktische politische Auseinandersetzung mit den Ursachen des Faschismus konnte bis heute nicht stattfinden. »Der allgemeine Sinn davon, dass man dem deutschen Volk die Schuld für Nazismus und Krieg gibt, kann wohl nur sein, dass man dem deutschen Volk vorwirft, dass es keine Revolution gegen das nazistische Regime vor und während des Krieges durchgeführt hat.« (August Thalheimer, Die Potsdamer Beschlüsse, September 1945)

Die Entwicklung in Deutschland nach 1945

Eine Entwicklung wie die nach dem 9. November 1918 musste in Deutschland um jeden Preis verhindert werden. Darin waren sich die Vertreter der britischen, amerikanischen und französischen Bourgeoisie einig. Dafür mussten sie die deutsche Bourgeoisie retten, obwohl diese, für alle deutlich sichtbar, von Beginn an tief in die faschistische Diktatur verstrickt war. Was hatte die Bourgeoisie in den wilden Jahren vom November 1918 bis zum Herbst 1923 vor den revolutionären Arbeiterinnen und Arbeitern gerettet? Es war das Bündnis der Mehrheits-SPD mit der Generalität und den rechtsradikalen Freikorps, personifiziert durch den Ebert-Groehner-Pakt und die enge Zusammenarbeit des SPD-Politikers Gustav Noske mit dem Freikorps-Offizier Waldemar Papst, dem Organisator der Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Ein solches Bündnis war im Jahr 1945 unmöglich. Dafür war die Wehrmacht zu tief in die Verbrechen der faschistischen Diktatur verstrickt. Während des ersten Weltkriegs wurden die »Kriegssozialisten« der Mehrheits-SPD vom kaiserlichen Militär hofiert. Sie hatten die Heimatfront ruhig zu halten. Diese Rolle konnten sie während der faschistischen Diktatur nicht mehr spielen. Die aktiv gebliebenen Sozialdemokraten, die nicht aus Deutschland fliehen konnten, saßen in den Konzentrationslagern oder Zuchthäusern oder wurden durch andere Mittel eingeschüchtert.

Anders als 1918 war die Arbeiterbewegung durch ihre kampflose Niederlage von 1933 tief demoralisiert und durch den Terror der Faschisten personell und organisatorisch unglaublich geschwächt. Durch den Bombenkrieg war die arbeitende Bevölkerung mit dem individuellen Überleben beschäftigt. Allerdings hatten noch viele ihre Erfahrungen aus den Klassenkämpfen der Weimarer Republik. Ohne eine flächendeckende Besetzung Deutschlands wären antifaschistische Aktionsausschüsse aus Anhängern von SPD und KPD die einzige politische Kraft gewesen, die nach dem Zusammenbruch der faschistischen Diktatur das notwendige Ansehen in der arbeitenden Bevölkerung hatten, um die öffentliche Ordnung wieder herstellen zu können, die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung, Wasser, Heizmaterial usw.. Interessant ist hier ein Gebiet im westlichen Erzgebirge, das 42 Tage lang weder von den Westalliierten noch von der Sowjetunion besetzt wurde. Die Ereignisse wurden später von Stephan Heym in seinem Roman »Schwarzenberg« beschrieben. Ein anderes Beispiel ist Elmshorn, wo ein antifaschistischer Ordnungsdienst am 3. Mai 1945 vor dem Einmarsch britischer Truppen führende Nazis verhaften konnte. Nach fünf Tagen rückten die Briten ein. Elmshorner Antifaschisten ließen am 12. Mai den NSDAP-Kreisleiter in Pinneberg verhaften. Die Reaktion der britischen Besatzungsmacht war die Absetzung der antifaschistischen Stadtverwaltung und die Wiedereinsetzung des Nazi-Bürgermeisters Coors.

Die Sowjetunion hatte die Hauptlast des Krieges getragen und ungeheure Opfer für die Befreiung Europas vom Faschismus gebracht. Unter den unvorstellbaren 27 Millionen Toten waren besonders viele Kommunisten. Dieser Aderlass hatte auch Auswirkungen auf die KPdSU. Entscheidend war nun Sicherheit vor einer erneuten Invasion und der schnelle Wiederaufbau des von den Faschisten verwüsteten Landes. Dem musste sich alles andere unterordnen. Eine selbständige politische Entwicklung in Deutschland war auch von den sowjetischen Besatzungstruppen nicht vorgesehen, sie hatten mit der »Gruppe Ulbricht« ihre eigenen Helfer mitgebracht. Antifaschisten, die die Diktatur in Deutschland überlebt hatten, mussten sich der offiziellen Linie anpassen oder wurden politisch kaltgestellt. Eine offene Diskussion innerhalb der Arbeiterorganisationen hatte enge Grenzen. Der Sowjetunion ging es nicht in erster Linie um einen sozialistischen Aufbau ihrer Zone. Das Beispiel Österreich zeigt ganz deutlich, dass die Führung unter Stalin ein kapitalistisches, aber neutrales Deutschland akzeptiert hätte. Ein solcher Vorschlag wurde am 10. März 1952 den westlichen Besatzungsmächten übergeben. Aus Österreich waren die sowjetischen Besatzungstruppen im Oktober 1955 abgezogen, als die Bedingung der Blockfreiheit im Österreichischen Staatsvertrag vom Mai 1955 erfüllt war, der den Abzug aller Besatzungsmächte regelte. Seine »immerwährende Neutralität« hatte das Land im Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 versprochen. Natürlich hatte Deutschland ein anderes geostrategisches Gewicht als Österreich. Ob die Stalin-Noten von 1952 ernst gemeint waren, wurde vom Westblock nicht ernsthaft auf die Probe gestellt, obwohl es Diskussionen darüber gab. Anders als in Österreich ging es der Bourgeoisie in Westdeutschland um die Einbindung ins westliche Bündnis. Eine Neutralität kam für Bundeskanzler Adenauer nicht in Frage, dafür wurde auch die Vereinigung mit der sowjetischen Zone und später der DDR geopfert.

Die KPdSU, die KPÖ und die KPD hofften im Mai 1945 noch, die Anti-Hitler-Koalition könnte Bestand über das Ende des Weltkrieges hinaus haben. Die Sowjetunion konnte in ihrer Lage nun wirklich keinen kalten Krieg gebrauchen. Die Politik von KPÖ und KPD war deswegen auf die Zusammenarbeit auch mit den westlichen Besatzungsmächten gerichtet. Beispielhaft sei Emil Carlebach genannt. Als Buchenwaldhäftling Mitglied der geheimen Widerstandsorganisation wurde er später Abgeordneter des hessischen Landtags und schrieb an der Verfassung des Landes Hessen mit. Er war Mitbegründer der »Frankfurter Rundschau«. Die westlichen Besatzungsmächte nutzten das Ansehen, das die Kommunisten wegen ihres Widerstands gegen die Faschisten nach 1945 in der Bevölkerung hatten, um den Kapitalismus in ihren Besatzungszonen zu rehabilitieren. Nachdem die Kommunisten nicht mehr gebraucht wurden, wurden sie kaltgestellt und später verfolgt. Auf Betreiben der US-Militärbehörde mit Befehl von General Clay wurde Carlebach 1947 aus der »Frankfurter Rundschau« gedrängt. Ihre Zusammenarbeit mit den Besatzungsbehörden wurde der KPD nicht gedankt, die Lizenz, die sie beantragt und erhalten hatte, nutzte ihr nichts: Im Zuge des Korea-Krieges wurde das Verbotsverfahren im November 1951 eingeleitet und die Partei am 17. August 1956 verboten. Die Losung des Westens seit 1947 hieß Containment, Eindämmung, der Sowjetunion, der kalte Krieg war in vollem Gang.

Vor dem Verbot stand der politische Niedergang der KPD. Konnte die Partei bei den ersten Bundestagswahlen 1949 noch 5,7% der Stimmen gewinnen, sank der Anteil vier Jahre später auf 2,2%. Aber der Niedergang hatte schon vorher begonnen. Was viele Beschäftigte im Westen abstieß, war ihre durchsichtige Rolle als Handlangerin der sowjetischen Außenpolitik. Im März 1950 kam es zu einer spontanen Bewegung der Arbeiterschaft in Salzgitter, um die Demontage und Zerstörung von 90% der Produktionskapazität der Reichswerke zu verhindern. Sogar Wasserleitungen sollten zerstört werden. Demontagemasten wurden von der aufgebrachten Menge umgestürzt und Zündkabel unschädlich gemacht um die Sprengung der Fundamente zu verhindern. Der Kampf hatte 1951 Erfolg, von weiteren Demontagen sah die britische Labour-Regierung ab. Aber die KPD hatte sich, wie die überregionalen Sektoren der IG- Metall, auf die Seite der Besatzungsmacht und gegen die Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter gestellt.

Diese Orientierungslosigkeit ist bis heute bei Vertrauenskörperleitungen, bei Betriebs- und Personalräten zu erkennen, die der DKP angehörten oder angehören. Einige spielen eine kämpferische Rolle, andere sind von den Co-Managern mit SPD-Parteibuch nicht zu unterscheiden, wenn sie diese nicht noch übertreffen. Entlarvend ist das Interview, das der ehemalige langjährige VK-Leiter bei Daimler Berlin und DKP-Mitglied Detlef Fendt der »Jungen Welt« vom 9. Februar 2017 gab. Auf die Frage, ob der Mindestlohn durch Flüchtlinge unter Druck gerät, und ob die Gewerkschaften auf dieses Problem richtig reagiert hätten, sagt Detlef Fendt: »Was haben die Gewerkschaften mit dem Mindestlohn zu tun? Die Frage, wie hoch dieser sein soll, ist eine politische. Wir können uns dafür höchstens politisch stark machen. (…) Aber die Gewerkschaften haben Tarifpolitik zu machen.« Ein derart begrenztes und entpolitisiertes Verständnis der Aufgabe von Gewerkschaften finden wir sonst bei Leuten wie Michael Sommer, dem ehemaligen Vorsitzenden des DGB.

Gedanken zum Zusammenbruch der Sowjetunion

Die ungeheuren Opfer, die die Sowjetunion im zweiten Weltkrieg bringen musste, haben wir schon genannt. Aber schon die Vorbereitung auf diesen Angriff gegen die Sowjetunion, den jeder politisch klar sehende Mensch früher oder später erwarten musste, hatte die inneren Strukturen der Partei und des Staates verformt und geschwächt. So wie ihre historischen Vorläufer in der französischen Revolution mussten die russischen Revolutionäre wegen ihrer innenpolitischen Schwäche zu dem Mittel des Terrors greifen. Ab September 1927 konnte der Inlandsgeheimdienst GPU auch gegen Parteimitglieder tätig werden. Im Zuge der Zwangskollektivierung und des Getreideraubs an den kleinen Bauern wurden erst die linke, dann die rechte Opposition innerhalb der Partei ausgeschaltet. Eine innerparteiliche Diskussion wurde mehr und mehr erstickt, die Angst vor dem Terror lähmte alle. Die Partei verschmolz mehr und mehr mit dem Staatsapparat und starb dabei mehr und mehr ab. Der Marxismus wurde von einer wissenschaftlichen Theorie , deren Ziel und Inhalt die Befreiung aller Menschen von Unterdrückung und Entrechtung war [1], zu einer Ideologie um staatliche Maßnahmen zu rechtfertigen. Dies war der Preis für die fehlende Unterstützung durch eine Revolution in einem entwickelten Industrieland. Es war der Preis für die Losung: »Aufbau des Sozialismus in einem Land«. In einem Land wie Russland, in dem die ursprüngliche Akkumulation von Kapital durch die unterentwickelte Bourgeoisie nur in Anfängen erfolgt war. Die Bauern waren noch nicht in Massen durch das Elend des Dorfes in die Städte getrieben und dort in die Manufakturen, Fabriken, Bergwerke gepeitscht worden, wie das in Westeuropa der Fall gewesen war. Diese Aufgabe musste in Russland die Partei an Stelle der Bourgeoisie übernehmen. Durch die Terrormittel wurde die Arbeiterklasse der Sowjetunion entpolitisiert und atomisiert. Parallel zu dieser Entwicklung gab es in den 1930iger Jahren und während des Krieges gegen die Faschisten trotzdem noch ungeheuer viel revolutionären Elan und Engagement.

Nach ihrer vorübergehenden Konsolidierung durch den gewonnenen Krieg konnte die Sowjetunion in den Jahren 1953 bis 1956 und danach zum Teil entstalinisiert werden. Massenhaften Terror wie in den 1930iger Jahren gab es danach nicht wieder. Aber die Partei konnte sich aus ihrer Erstarrung nicht befreien. Den Diskussionen fehlten Spielraum und Freiheit. Die Arbeiterklasse blieb atomisiert und entpolitisiert: »Ihr tut so, als würdet ihr uns bezahlen und wir tun so, als würden wir arbeiten.« Dieses Zitat drückt die Passivität und Entmutigung aus, die die Entwicklung lähmten. Der revolutionäre Elan wurde durch die misstrauische Grundhaltung der Partei- und Staatsspitze immer schwächer. Den Höhepunkt ihrer geostrategischen Macht hatte die Sowjetunion überschritten, als es US-Präsident Nixon gelang, ein Bündnis mit der Volksrepublik China gegen die Sowjetunion zu schmieden. Die Widersprüche in der Entwicklung trieben beide sozialistischen Länder auseinander. Hatten sich die Arbeiter und Bauern in der Sowjetunion noch selber am eigenen Zopf aus dem Sumpf gezogen, so waren sie damit überfordert, dies noch mit anderen industriell fast nicht entwickelten verbündeten Staaten tun zu müssen. In der VR-China zeigte sich deutlich, was die Klassiker Ende des 19. Jahrhunderts schon wussten und was uns heute so zu überraschen scheint: Die Phase des Kapitalismus lässt sich nicht überspringen, nicht mit noch so viel gutem Willen oder »guter Ideologie«. Und auch nicht, wenn sich das Land »kommunistisch« nennt. Darauf nehmen die Gesetze der Ökonomie keine Rücksicht.

Die innere Lähmung der sowjetischen Gesellschaft ließ sich mit der Tonnenproduktion des Fordismus noch überspielen. Als die digitale Datenverarbeitung mehr und mehr in die Produktion eindrang, wurde die ökonomische Schwäche des gesamten RGW immer deutlicher. Auch die hervorragenden Werkzeugmaschinen der DDR konnten gegen computergestützte CNC-Maschinen aus dem Westen nicht mehr mithalten. Der Einmarsch in Afghanistan »war mehr als ein Verbrechen, das war ein Fehler.« [2] Diese Steilvorlage wurde von den USA sofort genutzt. Die Reagan-Administration konnte jetzt von der Eindämmung der Sowjetunion zu ihrer Vernichtung übergehen.

Die innenpolitischen Probleme der Sowjetunion wurden durch einen sehr niedrigen Weltmarktpreis für Rohöl weiter verschärft. Gorbatschows Versuche, die politischen Probleme durch technische Methoden in den Griff zu bekommen, waren hilflos. Sie konnten nicht ersetzen, was allein Rettung gebracht hätte: Die Revolution in einem entwickelten Industrieland.

Nach dem Fall der Sowjetunion und des Ostblocks haben wir erlebt: Einen Krieg im Irak, die Kriege in Jugoslawien, in Afghanistan, wieder im Irak, in Libyen, Regime-Change und folgender Bürgerkrieg in Syrien, in der Ukraine, die zunehmende Auflösung von Staaten. Eine unvollständige Aufzählung. In den entwickelten Industrieländern werden Errungenschaften der Arbeiterbewegung vernichtet, für die unsere Großmütter und Großväter über 150 Jahre gekämpft haben. Die Gefahr einer militärischen Konfrontation zwischen Russland und der NATO ist so groß wie in den schlimmsten Zeiten des kalten Krieges. Und trotzdem muss aus diesem Chaos und dieser Anwendung von ökonomischer und militärischer Gewalt eine Kraft entwickelt werden, die die Spaltungen in und zwischen den Arbeiterklassen überwindet und die Parole der Pariser Kommune aufgreift:

Réunions et demain : l’internationale serai le genre humain ! Vereinigen wir uns und morgen: die Internationale wird die menschliche Art sein!

29.3.17, ks


[1] Wir kämpfen darum »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« Karl Marx

[2] Joseph Fouché über die von Napoleon veranlasste Hinrichtung des Herzogs von Enghien


aus Arbeiterpolitik Nr. 1/2 2017

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*