Jürgen Michallek
8.9.1950 – 22.12.2021

Jürgen verabschiedete sich auf der Redaktionskonferenz im November von uns. Er wusste, dass er bald sterben würde. Eineinhalb Jahre zuvor hatte er die Diagnose seiner unheilbaren Krebserkrankung bekommen. Damals gab er gleich seine Aufgabe weiter, die er über Jahre sehr sorgfältig und gewissenhaft ausgefüllt hatte: die Führung der Kasse und die Verwaltung unseres Vereins.

Er wollte nichts unerledigt lassen, er dachte über seinen Tod hinaus. So gewissenhaft, gründlich und vorausschauend war er auch in seiner politischen Arbeit. Bis kurz vor seinem Tod beteiligte er sich aktiv an politischen Diskussionen, schrieb noch im November mit seiner Frau zusammen einen Artikel über die Ursachen des politischen Niedergangs der Partei „Die Linke“ für unsere Zeitung. Leben und aktiv bleiben bis zuletzt, das tun, was noch möglich ist, war seine Devise.

Er wuchs in Wolfsburg auf, sein Vater arbeitete bei VW, die Familie wohnte in einer Werkssiedlung, diese Herkunft sollte ihn prägen. Eigentlich war sein Weg in den Lehrerberuf nicht vorgezeichnet, denn er spielte hervorragend Fußball in der Jugend des VfL Wolfsburg. Mit ihr wurde er norddeutscher Meister und etliche Späher von Bundesligavereinen hatten ihn schon auf ihrem Notizzettel. Doch Knieverletzungen versperrten diesen Weg und so studierte er zunächst in Braunschweig Volkswirtschaft. Er schloss als Diplom-Volkswirt ab, aber die Aussicht als Manager zu arbeiten war für ihn eine Art „Klassenverrat“ und von daher völlig abwegig, und so schloss er in Berlin ein Lehramtsstudium in den Fächern Politik und Wirtschaft an. Dort fing er an sich politisch zu engagieren und beteiligte sich als „undogmatischer Marxist“, wie er sich selbst bezeichnete, in der „Spontigruppe“. Nach dem Examen 1978 bekam er in Hamburg eine Stelle als Referendar an einer Handelsschule, wo er seine spätere Frau kennenlernte.

Über sie kam er dann zur Gruppe „Arbeiterpolitik“, die damals in Hamburg nicht nur ziemlich groß, sondern auch in lebendiger Verbindung mit etlichen Betrieben stand. Die in der Gruppe aktiven politischen ArbeiterInnen zogen ihn an, deren politische und allgemeine Bildung beeindruckte ihn. Er kannte von seiner Herkunft zwar das Arbeitermilieu, aber das war anders gewesen, kleinbürgerlich und unpolitisch. Er hielt die Vorstellung nicht für unrealistisch, dass solche ArbeiterInnen, wie er sie in der Gruppe kennenlernte, einmal im Kampf um eine sozialistische Gesellschaftsordnung eine führende Rolle übernehmen könnten.

Mit seiner Frau entwickelte er eine sehr solidarische Zusammenarbeit, wobei er öfters die Rolle übernahm, die Familie zu betreuen und den Alltag zu organisieren. Sonst wäre es zum Beispiel nicht möglich gewesen, dass seine Frau bei der Solidaritätsgruppe „Dialog von unten statt Bomben von oben“ während des Natokrieges nach Jugoslawien fahren konnte. Danach war er an der Organisierung der Gegenbesuche serbischer GewerkschafterInnen beteiligt und auch an mehreren Folgebegegnungen im restlichen Jugoslawien. Auch nach ihrem Umzug nach Kassel vor 10 Jahren blieb Jürgen der Gruppe Arbeiterpolitik treu und wirkte weiter n ihrem Sinne: Viele Male fuhr Jürgen gemeinsam mit dem Amazon-Solikreis nach Bad Hersfeld, um dort die streikenden Amazon -KollegInnen zu unterstützen, er organisierte gemeinsam mit KollegInnen des Forums Gewerkschaften und der DIDF Veranstaltungen zur politischen Repression in der Türkei. 2014 organisierte er zusammen mit seiner Frau und einem palästinensischen Kollegen eine Bildungsreise nach Palästina, die auch Thema in der hessischen Lehrerzeitung der GEW wurde und nicht zuletzt durch eine Broschüre, die die Erfahrungen dieser Reise politisch reflektierte, großes Interesse hervorrief.

In den politischen Diskussionen war er eigentlich nie an ideologischen Zuspitzungen beteiligt, er war kein Scharfmacher. Er spielte sich nie in den Vordergrund, entwickelte aber fundierte Standpunkte zu Frankreich (seine heimliche Liebe) und zur Sowjetunion bzw. Russland. Er erarbeitete sich dazu fundierte geschichtliche Kenntnisse, die auch in einen Vortrag über die Geschichte Russlands in der „Buch-Oase“ in Kassel mündeten.

Jürgen im Oktober 2014 in Hebron, Palästina (hintere Reihe, 3. von links)

Kennzeichnend für andere GenossInnen war sein behutsames und sorgfältiges Hinterfragen bis in Kleinigkeiten, besonders auch von Positionen, die anderen als selbstverständlich vorkamen. Er versuchte die Argumente der anderen Seite zu verstehen, bestand immer auf gründlichem, genauem Vorgehen. Das wird uns fehlen.


aus Arbeiterpolitik Nr. 1/2 2022

1 Kommentar

  1. Vielen Dank für den ausführlichen Rückblick auf Jürgens Leben !
    Über 20 Jahre Tür an Tür lebend, habe ich sehr sein solidarisches Miteinander erleben dürfen. Er sorgte Sonntags für den lukullischen Höhepunkt der Woche. Kochen war ein begeistertes Hobby von ihm.
    Meine patentochter fragte ich, was sie am meisten von Jürgen in Erinnerung hat und sie meinte, das humorvolle blitzen in seinen Augen und sein Lachen.
    Beides vermissen wir sehr.

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