Werner Ruf, eine Stimme aus der Friedensbewegung:
Kommt nun die zweite Nakba?

Prof. Dr. Werner Ruf
Quelle: Wikipedia

Der Zionismus ist das Kind des nationalistischen 19. Jahrhunderts. Die Judenpogrome in Osteuropa, die Dreyfus-Affäre in Frankreich und wachsendes antisemitisches Schrifttum in ganz Europa bildeten den Hintergrund für den Zionisten-Kongress in Basel 1897, auf dem die Gründung eines jüdischen (säkularen) Staates gefordert wurde – egal wo, in Ostafrika oder Patagonien, oder eben in Palästina.

Im ersten Weltkrieg suchte der britische Imperialismus Verbündete im Kampf zur Zerschlagung des osmanischen Reiches: Den Zionisten wurde die Schaffung einer „nationalen Heimstätte“ in Palästina versprochen, den in Mekka residierenden Haschemiten ein unabhängiges arabisches Königreich. Realisiert wurde dann jedoch das Sykes-Picot-Abkommen (alles 1917), in dem Großbritannien und Frankreich die Aufteilung des Nahen Ostens in Kolonialgebiete vereinbarten. So wurde nach dem 1. Weltkrieg Palästina britisches Mandat. Bis zum 2. Weltkrieg kämpften palästinensische und aus der Einwanderung nach Palästina entstandene zionistische Gruppen gegen diese Kolonialherrschaft.

Im November 1947 beschlossen die Vereinten Nationen eine Zwei-Staaten-Lösung, die für den geplanten Staat Israel ein etwas größeres und auf der Seeseite gelegenes Territorium vorsah. Ab Dezember 1947 (Plan Dalet) begannen zionistische Milizen mit der systematischen Vernichtung palästinensischer Dörfer und Städte und der Vertreibung der „arabischen“ Bevölkerung. Auch das einzige dieser Massaker, das international Beachtung fand, die Zerstörung des Dorfes Dir Yassin, erfolgte einen Monat vor der Gründung des Staates Israel. Ein Mythos ist es also, dass die palästinensische Bevölkerung einem Aufruf zur Flucht gefolgt sei, den die arabischen Armeen, die Israel nach der Staatsgründung 1948 angriffen, erlassen hätten. Für die Palästinenser ist diese Vertreibung von 700 000 Menschen bis heute, 75 Jahre danach, die Nakba, die Katastrophe.

Der Überfall am 7. Oktober 2023 wurde getragen von einer Koalition, der auch der Islamische Jihad und die säkulare FPLP angehörten. Er war also nicht nur eine Aktion der von der EU als Terrororganisation geführten Hamas, sondern weiter Teile des palästinensischen Widerstands, allerdings ohne Beteiligung der PLO und der von ihr getragenen „Autonomiebehörde“. Dieser Angriff wurde mit äußerster Brutalität gegen die israelische Zivilbevölkerung geführt. In der arabischen Welt (nicht jedoch bei den meisten der dortigen Regierungen) und in weiten Teilen der Dritten Welt wurde er als erfolgreicher Aufstand im antikolonialen Befreiungskampf mit Begeisterung aufgenommen. Im Westen jedoch und vor allem in Deutschland wurde er schärfstens verurteilt, dem Staat Israel wurde „bedingungslose“ Unterstützung zugesichert.

Doch: Welcher Staat Israel ist gemeint? Der Staat in seinen von der UN anerkannten Grenzen von 1967? Oder der Staat Israel einschließlich der seither von ihm annektierten Gebiete? Der Staat Israel einschließlich der völkerrechtwidrig errichteten Siedlungen? Und um welche Art Staat handelt es sich? Jene viel gepriesene „einzige Demokratie im Nahen Osten“ oder einen Staat auf der Grundlage des Nationalstaatsgesetzes von 2018, von dem Premierminister Netanjahu sagte „Israel ist nicht der Staat aller seiner Bürger … sondern des jüdischen Volkes – und nur dieses.“? Ein Staat, dessen derzeitiger Finanzminister Smotrich sich selbst als Faschisten bezeichnet? Ein Staat, in dem der Sicherheitsminister Ben Gvir die Auslöschung der Kleinstadt Huwara verlangt? Ein Staat, dessen angekündigte Bodenoffensive gegen die Bewohner des Gazastreifens lange auf sich warten ließ, weil, so zumindest kritische Beobachter, seine Armee damit beschäftigt war, Siedler bei ihren Attacken auf Palästinenser im Westjordanland, beim systematischen Entwurzeln von Olivenbäumen, beim Zerstören von Dörfern, beim Stehlen von Schaf- und Ziegenherden, beim Vertreiben der Bewohner zu schützen, ja zu unterstützen? Noch vor dem Angriff der Hamas wurden allein im West-Jordanland über 200 Palästinenser getötet.

Während der Angriffe vom 7. Oktober und noch danach verteilte der israelische Sicherheitsminister in den besetzten Gebieten hunderte von Sturmgewehren an gewaltbereite Siedler! Eine neue ethnische Säuberung ist also längst im Gange. Und die von Israel beförderte Flucht der Bewohner des Küstenstreifens nach Süden: Ist sie Vorbereitung für eine neue, massenhafte Vertreibung, da doch der „Transfer“ der palästinensischen Bevölkerung in benachbarte arabische Staaten seit Jahrzehnten Thema der israelischen Politik ist?

„Vergeltung“, Rache und Hass erscheinen als die Gebote der Stunde. Der Schuldige, der Einfachheit halber allein die Hamas, steht eindeutig fest, kollektive „Bestrafung“ erscheint moralisch gerechtfertigt. Ja, dieser Angriff ging von den Palästinensern aus. Ja, das Verhalten vieler Angreifer war barbarisch. Doch der Angriff kam nicht aus heiterem Himmel: Seit 2008 wurden – vor allem in den Gaza-Kriegen – fast 4000 Palästinenser getötet. Die Lebensbedingungen in diesem Freiluftgefängnis sind seit rd. 15 Jahren unerträglich: Ab 2020 bezeichnen die UN den Gaza-Streifen als unbewohnbar: 95% des Wassers hat keine Trinkwasserqualität, das Abwassersystem wurde 2014 bombardiert und zerstört …

Demo Berlin, 4. November
Quelle: Umbruch Bildarchiv

Israels erklärte Absicht ist es, die Hamas zu vernichten – Grund des grausamen Gewaltausbruchs am 7. Oktober sind jedoch Besatzung, Rechtlosigkeit, Siedlungsbau, Apartheid. Welcher Grad der Verzweiflung die Bevölkerung erfasst hat, zeigen jene Eltern in Gaza, die die Arme und Beine ihrer Kinder mit deren Namen beschriften, damit, wenn das schier Unausweichliche geschieht, ihre Leichen nicht namenlos in einem der vielen Massengräber verscharrt werden.

An diesem Grauen sind wir nicht unbeteiligt. Die israelische Journalistin Amira Hass hat klare Worte für das deutsche Vorgehen gefunden. In „Haaretz“ schrieb sie: „Ihr Deutschen habt eure Verantwortung, die sich aus dem Holocaust ergibt, längst verraten … Ihr habt sie verraten durch eure vorbehaltlose Unterstützung eines Israel, das besetzt, kolonisiert, den Menschen das Wasser wegnimmt, Land stiehlt, zwei Millionen Gazaer in einen überfüllten Käfig sperrt, Häuser abreißt, ganze Gemeinden aus ihren Häusern vertreibt und die Gewalt der Siedler fördert.“ Kritik an der „bedingungslosen Unterstützung“ solcher Politik ist kein Antisemitismus!

Werner Ruf


 

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