Berlin-Neukölln:
Proteste gegen Israels Besatzungs- und Vertreibungspolitik – die deutsche Staatsräson schlägt zurück

Korrespondenz

Demo Berlin, 4. November
Quelle: Umbruch Bildarchiv

Tagelang beherrschten die Vorgänge in und um die Sonnenallee die Schlagzeilen in den Medien, wenn es um Auswirkungen des Krieges in Palästina auf die innenpolitischen Verhältnisse in Deutschland ging. Die Sonnenallee, wegen der vielen arabischen Geschäfte, Cafés und Restaurants auch ‚Arabische Straße‘ oder ‚Klein-Damaskus‘ genannt, wurde zu einem Brennpunkt der Proteste, in denen vor allem Jugendliche mit arabischen Wurzeln ihrer Empörung, ihrer Wut und ihrem Hass auf die Besatzungspolitik der israelischen Regierung Ausdruck verliehen.

Begonnen hatten die Konflikte am Ernst-Abbé-Gymnasium am 9. Oktober, nachdem ein Schüler mit palästinensischer Fahne auf dem Schulhof von einem Lehrer geohrfeigt worden war. Daraus entstand eine körperliche Rangelei. Über die Reaktionen von Eltern und Schüler:innen berichtete der Tagesspiegel am 11. Oktober: „Die Elternvertretung der Neuköllner Oberschule hatte für Mittwoch ursprünglich zu einer Kundgebung in der Sonnenallee gegen Gewalt an Schulen mit 400 Teilnehmern mobilisiert. Diese wurde am Morgen von der Polizei verboten. Auch Ersatzveranstaltungen sind nach Angaben der Behörde bis zum 17. Oktober untersagt. Es bestehe die Gefahr, dass es bei der Versammlung zu volksverhetzenden, antisemitischen Ausrufen sowie zu Gewaltverherrlichungen oder Gewalttätigkeiten komme, begründete die Polizei ihre Entscheidung. Sie verwies auf Erfahrungen auch in den vergangenen Tagen. ‚Wir konnten im Vorfeld erwarten, dass es möglicherweise Hamas-Sympathisanten gibt, die diese Kundgebung ausnutzen werden für ihre Zwecke‘, sagte ein Polizeisprecher vor Ort.

Nicht nur pro-palästinensische Versammlungen, Kundgebungen und Demonstrationen wurden in den nächsten Tagen verboten, zugleich wurden auch israelkritische Aktionen unterbunden. Die ‚taz‘ berichtete am 15. Oktober: „Polizei und Politik gehen hart gegen jede Form von Palästina-Solidarität vor. Demos, Pali-Fahnen und -tücher werden verboten – auch auf Schulhöfen. So kursieren auf X […] mindestens zwei Videos, die zeigen, wie die Polizei am Samstag gegen Männer vorgeht, die in Neukölln eine Palästina-Flagge zeigen. Dort hatten sich an der Kreuzung Sonnenallee/Reuterstraße am Nachmittag laut Polizei rund 150 Menschen versammelt […] Zuvor war eine für Samstag angemeldete propalästinensische Demonstration des Vereins ‚Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost‘ verboten worden. Wie der Verein auf Facebook erklärte, habe sich daraufhin Vorstandsmitglied Iris Hefets mit einem Plakat auf den Hermannplatz gestellt, auf dem stand: ‚Als Jüdin und Israelin: stoppt den Genozid in Gaza‘. Die Polizei habe ihr das mit Verweis auf ein Versammlungsverbot untersagen wollen, heißt es weiter in dem Post, Hefets habe aber darauf bestanden, ‚dass sie als Einzelperson das Grundrecht der freien Meinungsäußerung hat‘. Darauf hätten sie die Polizist*innen zunächst in Gewahrsam genommen […].

Der importierte „Antisemitismus“

Die selbsternannten Sprecher der Zivilgesellschaft, wie die Berliner Grünen-Abgeordnete Kahlefeld, machten eine neue, für die Gesellschaft gefährliche Entwicklung, ausfindig: den importierten Antisemitismus vor allem junger Männer aus muslimisch geprägten Gesellschaften. Damit schlugen sie zwei Fliegen mit einer Klappe:

  1. Wen interessieren noch die Jugendsünden des stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten mit den übelsten antijüdischen Hetzschriften in seiner Schulmappe? Wir haben doch längst unsere Vergangenheit vorbildlich aufgearbeitet. Der Kampf gegen den neuen Feind steht nun im Vordergrund. Dies sind Eingewanderte und Geflüchtete, die sich nicht den Regeln der deutschen Gesellschaft unterordnen wollen und vor allem nicht der Staatsräson gegenüber Israel. Ein breites Parteien-Bündnis, vom rechten Flügel der Linkspartei bis hin zur AfD, ist sich in dieser Frage einig. Dieser deutsche „Anti-Antisemitismus“, zu dem sich verbal auch führende Mitglieder der AfD bekennen, ist ein moralisches Aushängeschild hinter dem die Durchsetzung ganz handfester materieller, politischer und strategischer Interessen verborgen werden soll.
  2. Der Bevölkerung wird ein neues Feindbild präsentiert: „die uns überflutende Flüchtlingswelle vor allem aus der moslemischen Welt“. Inzwischen haben die Union als auch die Parteien der Ampelkoalition zahlreiche AfD-Programmpunkte in ihre Gesetzesvorlagen für die Asyl- und Migrationspolitik übernommen.

Massendemonstrationen gegen Israels Krieg in Gaza

Angesichts der Unruhe unter der Jugend mit Migrationshintergrund, die vor allem an den Schulen hochkochte, änderte der Senat seine Taktik. Die israelkritischen und propalästinensischen Aktionen wurden nicht mehr generell im Voraus verboten, sondern unter strengen Auflagen genehmigt. Der Senat wollte ein Ventil öffnen und sich zugleich die Kontrolle über die Proteste sichern. Das führte zu eigenartigen Konstellationen, die der polizeilichen Willkür Tür und Tor öffneten. Die Vertreter der Staatsgewalt vor Ort sollten und konnten entscheiden, welche Redebeiträge, Parolen oder Transparente einen antisemitischen Inhalt hätten. Dementsprechend willkürlich waren die Reaktionen der Ordnungshüter bei der Festnahme von Demonstrationsteilnehmenden oder der Beschlagnahme von Plakaten und Spruchbändern. Das erinnert an Berichte von sozialdemokratischen Parteiversammlungen aus dem Deutschen Kaiserreich. Damals saß jeweils ein aufmerksam zuhörender Polizist in der ersten Reihe des Saales. Bei staatszersetzenden Reden oder Inhalten sollte und konnte er die Versammlung sofort auflösen lassen.

Die ersten genehmigten propalästinensischen Kundgebungen fanden am letzten Oktoberwochenende statt. Vor dem Hauptbahnhof hatte die Friedenskoordination zu einer Kundgebung für Samstag, den 28. Oktober um 14.00 Uhr, aufgerufen. Etwa 1.000 Teilnehmende hatten sich eingefunden und lauschten der sachkundigen Kritik an den Besatzungsmethoden Israels und den Berichten über die Opferzahlen des Bombenterrors gegen die Zivilbevölkerung im Gazastreifen. Auch Iris Hefets gehörte zu den Redner:innen. Danach fuhren etliche Teilnehmer:innen nach Kreuzberg, wo für 16.00 Uhr eine Demonstration angesetzt war. Der Tagesspiegel meldete: „Zu der Kundgebung, die um 16 Uhr am Oranienplatz begann, waren 1.500 Menschen angemeldet. Etwa eine Stunde später setzte sich der angemeldete Aufzug mit nunmehr rund 4.300 Personen in Bewegung und wuchs im weiteren Verlauf auf rund 11.000 Teilnehmende an, wie die Polizei am Sonntag in einer Bilanz mitteilte.

Die Reihe weiterer Kundgebungen und Aktionen setzte sich die Woche über fort. Die bisher größte Demonstration für die Rechte des palästinensischen Volkes fand am 4. November statt. Vor dem Roten Rathaus hatten sich mehrere tausend Teilnehmende zu einer Auftaktkundgebung versammelt, die anschließend zum Potsdamer Platz zogen. Die Polizei bezifferte die Anzahl auf 8.500; ich selbst schätze, dass sich bestimmt 15.000 Menschen an dem riesigen Umzug beteiligten. Die Zusammensetzung glich der Demo vor einer Woche. Sehr viele junge Menschen arabischer Abstammung aber auch aus anderen Ländern des globalen Südens beteiligten sich. Die linke Szene aus Berlin mit ihren zahlreichen Initiativen und Kleingruppen beteiligte sich ebenfalls, bestimmte allerdings nicht das Bild der Demo. Das war durch die zahlreichen selbstgemalten Parolen und Losungen gekennzeichnet.

Kontroverse um Veranstaltungs- und Tagungsräume

Die „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ geriet mit ihren Stellungnahmen ins Visier fast aller Parteien aus dem Berliner Abgeordnetenhaus. Auch ihr gegenüber setzten die politisch Verantwortlichen nach der anfänglichen Konfrontation durch polizeiliche Verbote auf die indirekte Bekämpfung der Initiative. Dazu gehören die Verweigerung bei der Anmietung von Diskussions- und Veranstaltungsräumlichkeiten. Zum Abend des 4. November hatte die „Jüdische Stimme“ zu einer Jubiläumsfeier mit Reden und Diskussionen eingeladen. Die Veranstaltung fand in dem vom Senat finanziell unterstützten interkulturellen Neuköllner Projekt „Oyoun“ statt. Über den Versuch die Vermietung der Räumlichkeiten zu unterbinden berichtete der ‚Tagesspiegel‘ am 5. November: „Einen Stopp der finanziellen Förderungen sowie aller Kooperationen des Senats mit dem Kulturzentrum hatte die Neuköllner Grünen-Abgeordneten Susanna Kahlefeld Anfang der Woche gefordert. Im vergangenen Jahr finanzierte die Berliner Kulturverwaltung das Zentrum mit fast anderthalb Millionen Euro. […] Ausgangspunkt der Kontroverse war ein Statement der ‚Jüdischen Stimme‘. Dort hieß es unter anderem: ‚Wir sind voller Trauer um die Toten, in Gedanken bei den Trauernden und Verletzten, voller Angst um Freund:innen und Verwandte in ganz Israel-Palästina. Wir sind auch wütend, wütend auf die Unterstützer des 75-jährigen israelischen Kolonialregimes und die Blockade des Gazastreifens, die zu diesen Ereignissen geführt hat. Was nun geschehen ist, glich einem Gefängnisausbruch, nachdem die Insassen zur lebenslangen Haft verurteilt wurden, nur weil sie Palästinenser:innen sind.‘

Der Tagesspiegel schrieb in dem schon zitierten Bericht auch: „Oyoun hatte die Aufforderung des Berliner Senats, die Veranstaltung abzusagen, zurückgewiesen und in einem Statement auf seiner Webseite ‚volle Solidarität‘ zur ‚Jüdischen Stimme‘ erklärt. […] ‚Wir werden uns dem Druck des Senats nicht beugen‘. Der Linken-Bezirksverband [Neukölln] beschrieb die Aufforderung des Senats in seiner Mitteilung vom Freitag als ‚vorläufigen Tiefpunkt‘. Es sei zutiefst geschichtsvergessen, dass eine deutsche Landesregierung auf diese Weise jüdische Friedensaktivist:innen zum Schweigen bringen will. ‚Das Oyoun ist eine kulturelle Heimat für viele Menschen mit Migrationsgeschichte in Neukölln und ganz Berlin‘, schrieb der Linken-Bezirksverband.

Erfreulich, dass sich trotz aller angedrohten finanziellen Repressalien das ‚Oyoun‘ nicht den Forderungen aus dem Parteienspektrum des Abgeordnetenhauses beugte. Auch die Haltung des Bezirksverbandes Neukölln der Linkspartei ist nicht selbstverständlich. Es widerspricht der Positionierung im Vorstand des Berliner Landesverbandes.

F.O. 8.11.2023

Das Kulturprojekt ‚Oyoun‘ braucht Unterstützung gegen den drohenden Entzug seiner finanziellen Förderung.
Hier kann der offene Brief unterzeichnet werden.

Demo Berlin, 4. November
Quelle: Umbruch Bildarchiv

 

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