100 Jahre Oktoberrevolution:
Erfolg und Scheitern zusammendenken

Kritik an: „Oktoberrevolution, Faschismus, 2. Weltkrieg und Zusammenbruch der Sowjetunion“ in Arbeiterpolitik Nr. 1/2, 2017


Es erschließt sich mir nicht unmittelbar aus dem Text, was uns der Artikel „Oktoberrevolution, Faschismus, 2. Weltkrieg und Zusammenbruch der Sowjetunion“ eigentlich sagen soll. Was ist in diesem Potpourri verschiedener, irgendwie zusammengehörender Themen die leitende Fragestellung, an deren Ende eine möglicherweise weiterführende Antwort oder zumindest Einschätzung stehen könnte? Am Schluss des Textes heißt es: „Und trotzdem muss aus diesem Chaos und dieser Anwendung von ökonomischer und militärischer Gewalt eine Kraft entwickelt werden, die die Spaltungen in und zwischen den Arbeiterklassen überwindet und die Parole der Pariser Kommune aufgreift: … Die Internationale wird die menschliche Art sein.

Vielleicht will der Autor dazu beitragen, dass die schwierige Ausgangslage der Oktoberrevolution für heutige und künftige Generationen nicht in Vergessenheit gerät. Sollte es so sein, dann wäre dieses zweifellos berechtigte Anliegen aber nicht deutlich genug geworden, sondern in der Vermischung mit anderen Themen untergegangen.

Wir wissen, dass vielen Menschen die politische Lage im Land, in Europa, in der Welt und in der jüngeren Geschichte unübersichtlich und chaotisch erscheint, besonders seit dem Wegfall der Aufteilung in Ost und West, sozialistische Sphäre und kapitalistischer Block. Viele macht das ratlos, es führt zu Auf- und Abstieg populistischer Strömungen, Rassenhass, Fluchtbewegungen, religiösen Formen der Weltdeutung und vielem mehr. Müssen wir uns daran beteiligen, indem wir diese Erscheinungen assoziativ in einem einzigen Artikel zusammenschreiben, oder ist es nicht vielmehr unsere Aufgabe, in dieser Unübersichtlichkeit den Kompass auszurichten? Müssen wir uns nicht mit den einzelnen Themen genauer und ausführlicher befassen, damit es uns gelingt, eine sinnvolle Gliederung und einen roten Faden darein zu bringen?

Der Artikel hält sich gar nicht erst bei der Oktoberrevolution auf. Er beschreibt in einem kurzen Vorspann die Lage der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg, die ökonomisch und technisch hinter dem Westblock zurücklag: „Dass die moskautreuen Parteien den Grund dafür nicht erklärten, sondern die Verhältnisse schön redeten, stieß viele Kollegen in Westeuropa ab.“ Hier scheint mir ein Schlüsselproblem für unser heutiges Verständnis der Oktoberrevolution zu liegen: Können wir den verbreiteten Verlust von Klassenbewusstsein damit auffangen, dass wir den Lohnabhängigen den Sozialismus und seine bisherige Geschichte besser erklären? Ich meine, nein: Wir müssen uns das erst einmal selbst neu erarbeiten. Es gehört nicht nur die Geschichte des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion, der DDR, China usw. vor dem Hintergrund der harten Ausgangsbedingungen dazu, wie wir es bisher, z. B. in den „Weißen Flecken“, getan haben. Damit allein können wir die Generationen von heute nur schwer ansprechen.

Die Sowjetunion war nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch isoliert„, heißt es auf Seite 23. Vor dem Hintergrund, dass der sozialistische Weltteil je nach Zählweise (insgesamt oder aufgeteilt nach politischer Präferenz Moskaus und Pekings) bis zu einem Drittel des Globus nach Fläche und Bevölkerung umfasste, ist das eine gewagte und im Artikel nur oberflächlich begründete These. Sie zielt nur auf die fehlende Anziehungskraft auf die Arbeiterklassen der imperialistischen Kernländer ab. Es fehlt die Reflexion der damaligen globalpolitischen Lage in den fünfziger bis siebziger Jahren. Außer den Lagern der direkten Systemkonfrontation in Europa gab es schließlich die Befreiung Afrikas und großer Teile Südostasiens vom Kolonialismus, den Algerienkrieg, die Bewegung der blockfreien Länder, ebenso die des sogenannten „Arabischen Sozialismus“, den Vietnamkrieg mit seinen Unterstützern in den USA und Westeuropa, den sozialistischen Aufbruch in Chile u. v. m. Bekanntlich ergaben sich hier immer wieder Anknüpfungspunkte für Bündnisse mit wenigstens teilweise antiimperialistischen Tendenzen. Hieran anschließend könnte z. B. die Frage vertieft werden, warum die führende Weltmacht des sozialistischen Weltteils zunehmend nicht in der Lage war, diese Situation zu nutzen, zu halten und weiterzuentwickeln, sondern es im Gegenteil ab den späten siebziger Jahren zu einem territorialen Rollback des Imperialismus sowie der Entstehung ganz anderer gegen den Westen gerichteten, aber wohl kaum als antiimperialistisch zu bezeichnenden Kräfte (Beispiel: Khomeini im Iran) kam.

Im Schlussabschnitt befasst der Artikel sich mit „Gedanken zum Zusammenbruch der Sowjetunion„. Heute sind wir in einer Realität, in der es ein sozialistisches Lager nicht mehr gibt – eine Binsenwahrheit. Aber welche Schlussfolgerungen ziehen wir daraus? Wenn wir in diesem „Gedenkjahr“ über die Oktoberrevolution reden, diskutieren und schreiben, müssen wir den Erfolg und das Scheitern zusammendenken. Das ist die Dialektik, die z. B. Lenin klar vorweggedacht hat: Die Revolution muss – und kann – in Russland, dem schwächsten Glied in der Kette der imperialistischen Mächte, beginnen, aber sie muss sich im weiterentwickelten Westen fortsetzen, damit sie – nicht zuletzt in Russland selbst – Bestand haben kann. Die Geschichte hat diese Dialektik bestätigt – auf andere Weise, als erwartet, und auch das ist eine Binsenwahrheit. Der hier kritisierte Artikel aber behandelt die Geschichte der Sowjetunion so, wie wir es schon zu Zeiten getan haben, als sie – noch existierend – gegen den kapitalistischen Westen verteidigt werden musste. In diesem Zusammenhang mussten die Ursachen ihrer ökonomischen, technischen Unterlegenheit (auch ihre undemokratischen Erscheinungsformen) von uns erklärt werden (ohne das alles als wünschenswertes Modell hinzustellen, was wir auch niemals getan haben).

Heute stehen wir aber vor anderen Aufgaben: Wir müssen die Sowjetunion von ihrem Ergebnis (d. h. von ihrem Untergang) her verständlich machen. Wir müssen aufarbeiten, wie die junge Sowjetunion von den Idealen der Oktoberrevolution zum Stalinismus kam (Stichwort: belagerte Festung; das war das Thema der „Weißen Flecken“). Daran anschließend müssen wir uns – gründlicher als bisherKlarheit darüber verschaffen, dass und warum die kurze Periode der „Entstalinisierung“ Stückwerk blieb und zur bürokratischen Parteiherrschaft erstarrte; im hier kritisierten Artikel wird das nur erwähnt. Für uns muss es heute um unser Selbstverständnis gehen, um unser Sozialismusbild, das nicht nur aus theoretischen Annahmen bestehen kann, sondern sich in der Untersuchung und Aneignung der bisherigen Realgeschichte bewähren und messen lassen muss. Was sagt uns das für die Kapitalismuskritik in heutiger Zeit und unter heutigen Ansprüchen der Menschen an die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens? Nur so kann dieses „Gedenkjahr“ für uns selbst und für unsere Außenwirkung Sinn ergeben.

Konzentrieren wir uns zunächst einmal auf die abgeschlossene sowjetische Realgeschichte, so sollten folgende Kernüberlegungen gelten:

Thesen zum Umgang mit der sowjetischen Geschichte

  1. Für eine kommunistische Gruppe wie unsere ist es notwendig, von der Beschränkung einer reinen Verteidigung der Sowjetunion wegzukommen zu einer möglichst objektivierbaren Würdigung ihrer historischen Rolle und Nachwirkung mit Licht und Schatten.
  2. „Die Oktoberrevolution hat die soziale Frage international qualitativ und quantitativ auf ein bis dahin ungekanntes Niveau gehoben. Sie prägte das zwanzigste Jahrhundert in unverwechselbarer Weise und wirkt immer noch fort. … Die soziale Frage ist aus der nationalen und internationalen Politik nicht mehr wegzudenken, welche Form und welchen Inhalt die Auseinandersetzungen auch annehmen.“ (Arbeiterpolitik Nr. 1/2 2017, S. 22)
  3. Dennoch muss festgehalten werden, dass die Lenin’sche Revolutionsstrategie nicht aufgegangen ist. Diese besagte im wesentlichen, dass die Revolution im „schwächsten Kettenglied des Imperialismus“ beginnen könne, dann aber unbedingt der Fortsetzung im Westen bedürfe, um sich international durchzusetzen. Nur unter dieser Voraussetzung könne sie sich auch in Russland halten und zum Kommunismus führen.
  4. Aus dem Scheitern der Revolution im Westen folgte für die Sowjetunion die Situation der „belagerten Festung“. Aus dieser Lage ergaben sich all diese Erscheinungen, die im üblichen Sprachgebrauch, wenn auch verkürzt, als „Stalinismus“ zusammengefasst werden (wir haben das in unseren Materialien, vor allem „Weiße Flecken“, hinreichend erfasst und müssen nicht ständig darauf zurückkommen).
  5. Nach dem Ende des unmittelbaren Existenzkampfes und der Ausweitung des sozialistischen Lagers auf einen beträchtlichen Teil der Erde gelang es jedoch nicht, eine Politik der „Entstalinisierung“ glaubwürdig und nachhaltig durchzuführen. Die harte Form des „Stalinismus“ (Massenterror) mutierte nur zu einer liberaleren Form autoritärer Parteiherrschaft. Die obrigkeitsstaatliche Orientierung konnte nicht überwunden werden, eine Aneignung der sozialistischen Vergesellschaftung durch die Arbeiter selbst fand nicht statt. Angesichts der Unterlegenheit in den materiellen Ressourcen gegenüber dem Kapitalismus ist hier ein zentraler Grund für den Untergang des sozialistischen Lagers zu sehen. Zugespitzt formuliert: Der „Stalinismus“ war historisch sowohl der Geburtshelfer als auch der Totengräber der bisherigen sozialistischen Gesellschaften.
  6. Zusammengefasst: Der Sozialismus in seiner bisherigen historischen Gestalt hat nicht dazu geführt, dass die Menschen ihr aus der bürgerlichen Gesellschaft stammendes Lohnarbeiterbewusstsein ablegten. Dieses bedeutet, dem „Arbeitgeber“ so wenig zu geben wie möglich, aber so viel zu verlangen wie möglich. Im bisherigen Sozialismus übertrug sich das entsprechend: der Gesellschaft so wenig zu geben wie möglich, aber von ihr so viel zu erwarten wie möglich. Dies erwies sich zunehmend als Blockade im sozialistischen Aufbau und zeigte sich auch in den Formen des Untergangs der sozialistischen Gesellschaften (Sowjetunion und Osteuropa) bzw. ihrer Transformation in regulierte kapitalistische Verhältnisse (China und Ostasien). Das gehört – in Licht und Schatten – zur historischen Hinterlassenschaft der bisherigen sozialistischen Gesellschaften.
  7. Es gehört zu unseren Aufgaben als kommunistische Gruppe, diese Entwicklung materialistisch zu erklären. In der Sowjetunion entstand aus den damaligen Bedingungen heraus eine Form vergesellschafteter Produktionsweise, die niemand vorhergesehen hat. Es ist aber offensichtlich, dass das nicht unser Sozialismusbild sein kann, mit dem wir heute und in Zukunft Menschen in lohnabhängigen Verhältnissen für eine sozialistische Transformationsstrategie überzeugen und gewinnen wollen.

28.6.2017


aus Arbeiterpolitik Nr. 3/4 2017

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