Oktoberrevolution und Sowjetunion

Zur Diskussion

In den beiden letzten Ausgaben der Arpo sind zwei redaktionelle Artikel zur Oktoberrevolution erschienen, die an mehreren Stellen kritikwürdige Formulierungen aufweisen. Da beide Texte auch längere Passsagen enthalten, die die bisherigen Positionen wiedergeben, bleibt unklar, worauf die Autoren hinaus wollen. Streben sie eine Revision des bisherigen Standpunktes der Gruppe an oder ist hier nur an einigen Stellen schwammig formuliert worden? Wie auch immer. Das »verwirrende Bild«, das beide Texte hinterlassen, bedarf in einigen Punkten der Klarstellung:

  • Gleich im ersten Teil des Artikels »Das Jahrhundert der Oktoberrevolution« beschreiben die Autoren das Ziel, das sie mit dem Aufsatz verfolgen: »Grundsätzlich geht es uns in der Beschäftigung mit der Oktoberrevolution um unser Sozialismus-Bild, mit dem wir heute und mit Blick auf die Zukunft arbeiten müssen«. Sie möchten »theoretische/ prinzipielle Auffassungen von Marx und Engels in der Aufarbeitung durch Thalheimer in den Mittelpunkt …« stellen und »in diesem Rahmen eine darauf konzentrierte Aktualisierung im Lichte der Gegenwart« versuchen. Befreit man diese Zitate von ihren pastoralen Sprachbildern, so bleibt nur die Schlussfolgerung, dass sie zwar Thalheimer nicht über Bord werfen wollen, seine Analysen der Oktoberrevolution und zur sowjetischen Gesellschaft aber einer »Aktualisierung im Lichte der Gegenwart« bedürfen, also neu interpretiert werden müssen. Nun kann ja jeder, der es möchte, Marx oder Thalheimer kritisieren oder gar revidieren. Ärgerlich ist aber, dass hier behauptet wird, dies geschehe im Namen der Gruppe.
  • Fragt man nun, weshalb die Autoren der Meinung sind, dass eine neue Sichtweise der Oktoberrevolution und der Sowjetgeschichte erforderlich sei, so kann man nur wenige Antworten finden. U. a. heißt es, dass dies notwendig sei, weil »in den heute so stark veränderten Strukturen … klar sein [muss], dass sozialistische Theorie und Praxis sich nicht mehr an vergangenen internationalen Lagerbildungen orientieren kann«. An anderer Stelle wird argumentiert, dass es Aufgabe der Gruppe Arbeiterpolitik sei »von der Beschränkung einer reinen Verteidigung der Sowjetunion wegzukommen zu einer möglichst objektivierbaren Würdigung ihrer historischen Rolle und Nachwirkung mit Licht und Schatten«.
  • Nun ist unbestritten, dass sich die Sowjetunion und mit ihr das sozialistische Lager aufgelöst hat. Also existiert ein Gegensatz zwischen dem sozialistischen und dem imperialistischen Lager nicht mehr. Die Sowjetunion muss deshalb in tagespolitischen Auseinandersetzungen nicht mehr verteidigt werden und wird es, mit einer Ausnahme (s.u.), auch nicht mehr. Und weil niemand mehr die Verteidigung der Sowjetunion als Ausgangspunkt für seine Auffassung von der zukünftigen sozialistischen Gesellschaft heranzieht oder über sie seine Vorstellungen von der sozialistische Politik in der Gegenwart begründet, läuft die oben angeführte Begründung ins Leere.
  • Darüber kann dieser Vorwurf die Gruppe nicht treffen, weil sie eine solche Position nie vertreten hat. Die kritiklose Verteidigung der Sowjetunion war Sache der DKP.
  • Die KPO und später die Gruppe Arbeiterpolitik haben die sozialistischen Grundlagen des Systems verteidigt und versucht darzulegen, unter welchen Bedingungen sich die Sowjetunion entwickelt hat. Den Sozialismus haben wir nie schön geredet, sondern ihn, soweit es damals möglich war, aus den materiellen wie historischen Voraussetzungen des Landes erklärt, den objektiven wie den subjektiven. Was nun soll daran falsch gewesen sein? Dass man heute in der einen oder anderen Frage aufgrund der Öffnung von Archiven zu präziseren Einschätzungen einzelner Vorgänge und Zusammenhänge gekommen ist, lässt sich nicht bestreiten. Doch müssen wir deshalb unsere grundsätzliche Einschätzung ändern? Oder sollten wir sie aus Gründen der Opportunität, wie die Texte es nahelegen, revidieren?
  • Grundlage für die Positionierung der Gruppe waren die Texte von Brandler und Thalheimer. Zur Entwicklung der Sowjetunion gibt es seit den 20er Jahren von ihnen eine Vielzahl von Analysen und Stellungnahmen. Für die Zeit nach 1945 war in theoretischer Hinsicht insbesondere die Broschüre von Thalheimer »Die Grundlagen der Einschätzung der Sowjetunion« maßgebend. Die Schrift ist kurz nach Ende des 2.Weltkrieges im kubanischen Exil geschrieben worden, um die in der sozialistischen und kommunistischen Bewegung entstandenen Fragen zum Charakter der Sowjetunion zu beantworten. Thalheimer konnte sie auf Grund seines frühen Todes nicht vollenden. Den zweiten noch nicht geschriebenen Abschnitt mit dem Titel »Die russische Revolution« hat Brandler, der mit Thalheimer die zentralen Fragen ständig diskutiert hatte, Anfang der 50er verfasst. Er ist in der Broschüre »Die Sowjetunion und die sozialistische Revolution« Anfang der 50er Jahre veröffentlicht worden.
  • Folgt man den Grundgedanken von Thalheimer und Brandler zu den Bedingungen für die Entwicklung des Sozialismus in der Sowjetunion, so ist es geradezu widersinnig, die Sowjetunion von einem heute entwickelten »Sozialismus-Bild« aus zu beurteilen. Selbstredend verbietet es sich auch, aktuell ein solches Bild entwickeln zu wollen.
  • Welche Probleme entstehen, wenn man als Maßstab für die Beurteilung der Verhältnisse in der Sowjetunion ein »Sozialismus-Bild« verwendet, macht Thalheimer im zweiten Kapitel seiner Broschüre am Beispiel von Hilferding deutlich. Er wirft ihm vor, zwar analytisch ein exzellenter Marxist zu sein, bei der Beurteilung der Sowjetunion aber vom Standpunkt »des Westens, d.h. der kapitalistisch hochentwickelten Länder« auszugehen.
  • Insofern ist die Behauptung, bezogen auf Brandler und Thalheimer, aber auch auf die Gruppe insgesamt, falsch, dass wir »unsere Kritik vorgebracht [haben], weil die konkrete Form dieser Gestaltung einer sozialistischen Gesellschaft nicht unseren Voraussetzungen im Westen, damit auch nicht unseren Vorstellungen entsprach«.
  • In den 50er Jahren hat ein solcher Ansatz der Kritik an der Sowjetunion und noch mehr an der DDR in der Gruppe vorgeherrscht. Dies führte bekanntlich zum Austritt Brandlers aus der Redaktion und schließlich zur Auflösung der Arpo 1959.
  • Mit dem Neuanfang der Gruppe Anfang 1960 ist die Position, spezifische Vorstellungen der Gruppe über den »richtigen« Sozialismus zum Maßstab für die Einschätzung der Sowjetunion und der sozialistischen Länder zu erklären, korrigiert worden. Selbst wenn es in den folgenden Jahren immer wieder zu kleineren Rückschlägen in dieser Frage gekommen ist, so hat die Gruppe solche Wirrungen durch intensive Diskussionen überwinden können.
  • Kritisch ist die Aussage zu werten, die Sowjetunion habe die Industrialisierung »nachzuholen« gehabt Doch welche Industrialisierung ist gemeint? Die von England, Deutschland oder Italien? Die Nachfrage macht deutlich, dass man eine Industrialisierung nicht ‚nachholen‘ kann. Die Industrialisierung der drei Länder vollzog sich jeweils unter spezifischen Bedingungen. Sie war 1917 nicht abgeschlossen, sondern entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten weiter.
  • Bei allen drei Ländern handelt es sich um eine Industrialisierung unter kapitalistischen Voraussetzungen. Die Industrialisierung in der Sowjetunion fand dagegen unter sozialistischen Verhältnissen statt, die gänzlich andere waren. Nicht mehr das Kapital, sondern der Staat war hier die Kraft, die diesen Prozess steuerte. Thalheimer sprach deshalb unter Absetzung von der kapitalistischen von einer »sozialistischen Akkumulation«. Er wies darauf hin, dass sie »noch nicht vollendeter Sozialismus oder ‚reiner‘ Sozialismus« sei, sondern erst »ein Anfang des Sozialismus, ein bestimmter Entwicklungsabschnitt innerhalb des Sozialismus, ein Übergang von einer Entwicklungsstufe des Sozialismus zu einer anderen höheren« (S. 42-43).
  • Begrifflich problematisch und historisch unzutreffend ist die Behauptung, die Sowjetunion sei zusammengebrochen. Wir haben die Verhältnisse in der Sowjetunion immer als Produkt der innersowjetischen wie auch des internationalen Klassenkampfes gesehen. Insofern ist das Ende der Sowjetunion als sozialistischer Staat Folge dieses Klassenkampfes, also eine Niederlage (s. auch Th. Bergmann, Jahrhundert, S. 275). Die Sowjetunion und nach ihr die sozialistischen Länder haben sich schiedlich friedlich aus der Geschichte verabschiedet, ohne an ihrem sicheren Ende noch Millionen Menschen in den Abgrund zu reißen. Ihre Totengräber waren die enormen Rüstungsanstrengungen, die die Sowjetunion in den 80er aufbringen musste, um der USA militärisch Paroli zu bieten, die extrem hohen Kosten des Afghanistankrieges wie die militärischen und ökonomischen Lasten, die die Stabilisierung der osteuropäischen Länder erforderten.
  • Schließlich ist auch die These abzulehnen, dass es eine »Leninsche Revolutionsstrategie« gegeben hat, nach der der Sozialismus in der Sowjetunion nur Bestand haben könne, wenn er sich auch in den westlichen Ländern, resp. Deutschland durchsetzen werde. Spätestens 1921 war Lenin klar, dass es in Deutschland vorerst keine erfolgreiche Revolution geben werde und so die Sowjetunion bis auf weiteres isoliert bleiben würde. Er unterstützte die Bestrebungen der KPD-Führung, eine auf den Verhältnissen in Deutschland basierende Taktik, die Einheitsfronttaktik, zu entwickeln.
  • Eine Revolution in Deutschland hätte der Sowjetunion sicher geholfen. Thalheimer äußerte sich nach dem Tode Lenins ausführlich zu diesen Fragen. Er erläuterte in seiner Schrift »Über die Handhabung der materialistischen Dialektik durch Lenin in einigen Fragen der proletarischen Revolution«, dass es keine internationale Revolutionsstrategie geben kann, die über bestimmte Grundsätze und allgemeine Zielvorstellungen hinausgeht. Die kommunistische Politik der jeweiligen Parteien ist gebunden an die Verhältnisse, in denen sie entwickelt wurde: »… in der Verbindung der proletarischen Revolution und der bäuerlichen Revolution sah Lenin, mit Recht, das Wesen der revolutionären Strategie in Russland«. Diese Gedanken wiederholt Thalheimer in seinem Artikel »Rosa Luxemburg oder Lenin?« (GDS 1930 (2); S.2) und macht dort auch die Unterschiede zu den Bedingungen in Deutschland deutlich.
  • Die Kritik an den unzulänglichen Verhältnissen in der Sowjetunion und später an denen der sozialistischen Länder muss aus der Perspektive von Thalheimer im Wesentlichen die Kritik des eigenen Zustandes sein, der mangelnden Stärke von Sozialisten und Kommunisten, den Aktionsradius der Unternehmer wie ihrer politischen Vertreter einzuschränken, und ihrer Schwäche, eine Umgestaltung der Klassenverhältnisse im eigenen Land einzuleiten.

Will die Gruppe sozialistische Gedanken wieder im Bewusstsein der Beschäftigten verankern, so wird ihr dies nicht durch eine Neuinterpretation der Oktoberrevolution gelingen, sondern allein dadurch, dass sie die sozialen Interessen der abhängig Beschäftigten wieder ins Zentrum ihrer publizistischen und politischen Tätigkeit stellt.

H., 05.12.2017


aus Arbeiterpolitik Nr. 5 / 2017

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