Unzufriedenheit unter den Postbeschäftigten

Die Anfang April mit einem Mitgliedervotum abgeschlossene Tarifrunde zur Lohnfrage bei der Deutschen Post AG kann als ein Einschnitt in der Geschichte der Gewerkschaft bzw. des Fachbereichs gewertet werden. Erstmals überließ sie es nicht der Konzerntarifkommission, über das Tarifangebot der Post zu entscheiden, sondern den Mitgliedern. Wie konnte es dazu kommen, dass die einstmals straff organisierte Gewerkschaft nicht mehr entscheiden wollte? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns noch einmal kurz mit dem Ergebnis der Tarifrunde 2015 beschäftigen.

Tarifrunde 2015

In der Vorbereitung auf die komplexe Tarifrunde 2015, in der Abschlüsse zum Lohn, zur Sicherung des Rationalisierungsschutzvertrages und zum Schutz vor der Fremdvergabe erzielt werden mussten, stand die Gewerkschaft unvermittelt vor der Aufgabe, auch auf den Bruch einer schuldrechtlichen Vereinbarung durch die Post reagieren zu müssen, nach der maximal 990 Paketbezirke aus dem Unternehmen Post ausgegliedert werden durften. Die Post hatte noch vor Beginn der Tarifrunde auf privatrechtlicher Basis DHL Delivery Firmen gegründet. Alle neu eingestellten Paketzusteller erhielten nur noch einen Arbeitsvertrag von diesen Gesellschaften. Entlohnung und sonstige tarifliche Leistungen richteten sich nach den jeweiligen regionalen Speditions- und Logistiktarifverträgen.

Da eine juristische Anfechtung des Vertragsbruches der Post sich über Monate hingezogen hätte und erst höchstrichterlich entschieden worden wäre, wenn die bestehende Vereinbarung schon nicht mehr gegolten hätte, reagierte die Gewerkschaft sofort mit einer Tarifforderung. Die Arbeitszeit für alle sollte um zwei Stunden verkürzt werden. Verdi signalisierte, dass man diese Forderungen nur dann zurückziehen würde, wenn die Post die neuen Paketunternehmen wieder schließen würde.

Ver.di musste trotz eines vierwöchigen Streikes, des längsten in ihrer Geschichte, die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung ohne eine Ausgleich dafür zu bekommen, zurücknehmen und auch bei ihren sonstigen Forderungen, etwa beim Lohn, deutliche Abstriche hinnehmen1.

Mangelnde Aufarbeitung

Nach der Niederlage kam es in der Belegschaft zu heftigen Unmutsäußerungen über die Streikführung der Gewerkschaft und das Ergebnis. Diese fanden in den Gremien kaum Widerhall. Ver.di. machte keinen Versuch, die Niederlage gründlich aufzuarbeiten. Soweit wir wissen gab es weder auf der zentralen noch auf der regionalen Ebene in schriftlicher Form eine Auswertung. In einigen Gremien wurden Eckpunkte festgehalten, aber nicht gewerkschaftsöffentlich diskutiert. Auf einer Vertrauensleutekonferenz in Berlin nahm die Streikaufarbeitung einige Monate nach Ende des Tarifkonflikts eine Stunde in Anspruch. Sie war in eine Arbeitsgruppe verbantt worden, an der etwa ein Drittel der 100 Anwesenden teilnahm.

Entscheidende Faktoren für die Niederlage wie das fehlende Streikkonzept, die Festlegung von wirksamen Streikaktionen, die Zurückhaltung vieler Betriebsräte bei der Streikorganisation, die Schwäche der Gewerkschaft insbesondere in den südlichen Bezirken, die Hilflosigkeit gegenüber dem Einsatz von befristeten Kräften wie Abrufern und die komplette Zurückhaltung gegenüber dem Einsatz von Beamten, die auf den Posten von streikenden KollegInnen arbeiteten, bleiben so unaufgearbeitet.

So war es denn nicht verwunderlich, dass in den folgenden Monaten auf nahezu allen Vertrauensleutesitzungen, auf Seminaren und sonstigen Besprechungen mit aktiven Gewerkschaftern der Basis sich der Unmut über die fehlende Streikaufarbeitung immer wieder Luft machte. Viele Mitglieder wollten, dass die Gewerkschaft ihre Niederlage eingestand, die Ursachen des Misserfolgs benannte und aufzeigte, welche Konsequenzen sie für zukünftigen Auseinandersetzungen gezogen hatte. Doch bis heute schweigt die Gewerkschaft zu diesen Punkten.

Tarifrunde 2018

Eine der vielen kritischen Fragen, die nach Ende des Streiks aufgekommen waren, war die, weshalb die Streikenden, die über vier Wochen bei Wind und Wetter vor dem Tor gestanden und die Gewerkschaftsfahne hochgehalten hatten, nicht über das Ende des Streiks befragt worden waren. Wenigstens in diesem Punkt kam die Gewerkschaft in der aktuellen Tarifrunde, bei der es allein um die Frage des Lohnes ging, den Forderungen der aktiven Mitglieder entgegen. Sie startete rechtzeitig vor der Festlegung durch die zuständige Tarifkommission unter den Mitgliedern eine Umfrage über Inhalt und Charakter der aufzustellenden Forderungen.

Was das Volumen der Lohnforderung betraf, stimmten die Mitglieder überwiegend den Empfehlungen des Fachbereichsvorstandes zu. Sie votierten ferner für die Option, die Lohnerhöhung individuell in Freizeitansprüche wandeln zu können. Und sie setzten sich für eine soziale Komponente ein, nicht aber für Festbeträge.

So entstand folgendes Forderungspaket: 6% Erhöhung des Tariflohnes, die in Geld oder Freizeit genommen werden kann, und als soziale Komponente die Umwandlung des variablen Entgeltes für die Lohngruppen 1-4, das es bisher nur für einen kleine Teil der Beschäftigten nach der jährlich durchzuführenden Leistungsbeurteilung gab, in feste Bestandteile der Entgeldtabelle.

Post zeigt ver.di Grenzen auf

Vorstandschef Appel hatte schon weit vor Beginn der Tarifrunde verlauten lassen, dass er wenig Spielraum für eine substantielle Lohnerhöhung sehe.

Bei den Forderungen, die nichts kosteten, zeigte sich die Post konzessionsbereit, machte aber ihre Zustimmung davon abhängig, dass ver.di auf zwei Forderungen einging: zum einen sollten die Kraftfahrer aus dem TV 37b gelöst werden, und zum anderen verlangte sie, dass zukünftig Überstunden der Zusteller mitbestimmungsfrei allein auf Antrag des Beschäftigten ausgezahlt werden können. Bisher war laut Tarifvertrag die Barabgeltung kurzfristig nur ausnahmsweise bei Vorliegen eines sozialen Grundes möglich. Die Prüfung über die Anträge oblag allein dem Betriebsrat.

In der Lohnfrage stellten sich wie angekündigt die Verhandlungen als zäh dar. Die Post wollte nach der letzten Lohnerhöhung im Oktober 2017 vor Jahresfrist keine tabellenwirksame Erhöhung zahlen. Für die Folgejahre Jahre ab Oktober 2018 weigerte sie sich beharrlich, ein Angebot vorzulegen, dass deutlich über der Inflationsrate.

Eine zusätzliche Verhandlungsrunde zu den drei vorab verabredeten führte zu keinem Ergebnis. Ver.di leitete daraufhin Warnstreiks ein. Die waren allerdings schlecht vorbereitet. Unter den Beschäftigten bestand wenig Bereitschaft, das halbherzige Vorgehen der Gewerkschaft zu unterstützen. So nahmen an den regionalen Kundgebungen nur wenige Mitglieder teil. In einem ZSP in Berlin schlossen sich von etwa 55 Zustellern nur 12 dem Aufruf der Gewerkschaft zur Arbeitsniederlegung an.

Die schwache Mobilisierungskraft der Gewerkschaft und die fehlende Bereitschaft der Beschäftigten, in dieser Tarifrunde einen ernsthaften Konflikt zu führen, entging der Post nicht. In der abschließenden Verhandlungsrunde präsentierte sie mitten in der Nacht ein Angebot, ohne dass sich Gewerkschaft und Post, wie bisher immer üblich, vorher geeinigt hatten. Es enthielt für die Zeit bis zum Oktober 2018 lediglich eine Einmalzahlung in Höhe von 250 Euro, ab 01.10.2018 eine 3% Lohnerhöhung und ab 01.10.2019 eine weitere um 2,1%. Die Laufzeit wurde auf 28 Monate, festgelegt.

Ratlose Gewerkschaft

Die ob des robusten Vorgehens der Post sprachlose Verhandlungskommission empfahl nicht wie in den Jahren davor der großen Tarifkommission die Annahme des Angebotes. Sie plädierte aber auch nicht für die Ablehnung. Denn ein Scheitern der Verhandlungen hätte zwangsläufig zu einem Streik geführt. Da war die Gewerkschaft nicht sicher, ob die Mitglieder ihr folgen würden. Außerdem war sie darauf überhaupt nicht vorbereitet.

Der Vorstand beschränkte sich darauf, das Lohnangebot für 2019 als zu gering und das gesamte Angebot des Arbeitgebers als »schwierig« zu bezeichnen. Sie schlug der Konzerntarifkommission vor, kein eigenes Votum abzugeben, sondern die Gewerkschaftsmitglieder zu befragen. So geschah es.

Mitgliederbefragung

Die Befragung zum Tarifergebnis wurde wie eine Urabstimmung organisiert. Für eine Nichtannahme des Arbeitgeberangebotes mussten 75% der Abstimmenden votieren.

Bei seinem Aufruf zur Abstimmung gab der Fachbereichsvorstand keine Empfehlung. Etwa zwei Drittel der 50.000 teilnehmenden Gewerkschaftsmitglieder stimmten für die Annahme des Tarifangebots. Dafür sind mehrere Gründe verantwortlich.

Für viele Beschäftigte war es schwierig einzuschätzen, welche Bedeutung die Lohnerhöhung von 2,1% für 2019 für sie haben werde. Aber auch diejenigen, die das Angebot als mager einschätzten, waren häufig der Meinung, dass der Punkt allein nicht konfliktfähig sei. Bei den anderen Punkten des Tarifangebots überwog die Einschätzung, dass man damit leben könne.

Entscheidendes Motiv für das Mehrheitsvotum war allerdings das Misstrauen gegenüber der Gewerkschaftsführung, einen größeren Konflikt führen zu können. Einen erneuten Streik ohne Aussicht auf Erfolg wollte die Mehrheit der Mitglieder nicht. Die akzeptablen Teile des Tarifangebots sollten nicht gefährdet werden.

Bewertung des Ergebnisses

Die Lohnerhöhungen werden in den kommenden Jahren kaum die offizielle Inflationsrate ausgleichen können.

Positiv zu sehen ist die Abschaffung des variablen Entgeltes, auch als »Nasenprämie« bezeichnet. Die Ungerechtigkeiten, die bei den bisher jährlich vorzunehmenden Leistungsbeurteilungen entstanden, fallen zukünftig für die Lohngruppen 1-4 weg. Weder Krankheitstage, individuelle Besonderheiten, noch gewerkschaftliches Engagement werden zukünftig mehr Einfluss auf die Entgeltzahlung haben. Mit der Einbeziehung des variablen Entgeltes in die Lohntabellen erhöhen sich die Tarifentgelte aller in den ersten vier Lohngruppen deutlich. Damit verringern sich die Abstände zu den sog Besitzständlern, die schon vor 2003 bei der Post beschäftigt waren und ihren alten Lohn behielten. Kritisch an dieser Vereinbarung ist, dass die Lohngruppen 5 – 9 ausgenommen wurden.

Bei der zweiten wichtigen Regelung des Tarifvertrages, der Fixierung des Rechtes, die kommenden Lohnerhöhungen in Freizeit nehmen zu können, bleibt die Frage, welche Auswirkung sie auf die zukünftige Tarifpolitik haben wird. Wird es zukünftig schwieriger, für Lohnerhöhungen zu mobilisieren, weil die Interessenlage der Beschäftigten zu unterschiedlich ist? Wer wird diese Möglichkeit in Anspruch nehmen? Nur die älteren KollegInnen in den höheren Lohngruppen oder doch jüngere, bei denen Familie und Freizeit den lebensmittelpunkt stellt? Oder vor allem diejenigen, die die höchsten Belastungen tragen?

Der Abschluss folgt in diesem Punkt dem neoliberalen Grundsatz, dass soziale Verbesserung für die Beschäftigten diese im Wesentlichen selber zu tragen haben. Diese Richtlinie hat die Tarifpolitik der letzten Jahre geprägt. Bei der Altersteilzeitregelung müssen die Postler erhebliche Vorleistungen erbringen, um in den Genuss einer Wochenarbeitszeitreduzierung und einer Ruhephase in den letzten Monaten vor Rentenbeginn zu kommen. In den 70er und 80er Jahren erkämpfte Arbeitserleichterungen, wie die bezahlten Erholungspausen, zwei freie Arbeitstage im Jahr, bezahlte Pausen für Nachtarbeiter sind in den letzten Jahren reduziert und/oder in Tarifverhandlungen, wenn auch zumeist befristet, ausgesetzt worden.

Welche Auswirkung die beiden anderen Bestandteile des Tarifvertrages haben werden, lässt sich noch nicht genau abschätzen. Bei den Kraftfahrern, die aus dem TV 37b fallen sollen, wird für die Leistung von Überstunden der relativ restriktive MTV gelten. Doch wird die Post hier sicher versuchen, mitbestimmungsfreie Korridore in Betriebsvereinbarungen zu definieren.

Auch lässt sich noch nicht abschätzen, wie sich die Möglichkeit, Überstunden in der Zustellung ohne Zustimmung der Betriebsräte auszuzahlen, auswirken wird. Trotz der Begrenzung von Überstunden durch die Betriebsvereinbarungen werden insbesondere jüngere KollegInnen versuchen, diese Option in Anspruch zu nehmen.

Unruhe im sozialdemokratischen Lager

Verdi hat in der abgelaufenen Lohntarifrunde die Nullrunde des Jahres 2015 im Tarifjahr 2018 trotz des starken Rückwindes einer guten Konjunktur und exzellenter Betriebsergebnisse der Post nicht ausgleichen können. Sie hat allenfalls einen Tarifabschluss erzielt, der die Inflationsrate ausgleichen wird.

Die Post hat mit kalter Berechnung die Mobilisierungsschwäche von ver.di ausgenutzt und ihr ein Tarifergebnis vorgesetzt, dass die Post fast nichts kostet. Allerdings hat das Unternehmen vermieden, ver.di eine vernichtende Niederlage beizubringen.

Für ver.di bedeutete diese Tarifrunde eine Zäsur. Zum ersten Mal hatte der Vorstand am Ende einer Tarifrunde keine Meinung und war nicht wie bisher immer überzeugt, das »Beste« herausgeholt zu haben. Er musste die Mitglieder befragen. Ver.di wird zukünftig kaum mehr hinter diese Entwicklung zurückfallen können.

Die Ablehnung des Tarifergebnisses durch ein Drittel der abstimmenden Mitglieder ist Ausdruck für die weit verbreitete Unzufriedenheit der Mitglieder mit der Politik des Vorstandes. Allgemein interpretiert, spiegelt sie die Unruhe wieder, die derzeit im sozialdemokratischen Lager herrscht. Beim DGB-Kongress haben ca. 30% der Delegierten den Vorsitzenden Hofmann nicht gewählt. Die Abstimmung in der SPD zum Koalitionsvertrag, die Wahl von Nahles zur Parteivorsitzenden, aber auch die Wahl des Berliner Parteichefs Müller führten nur zu Zweidrittelmehrheiten. Auch wenn die Unzufriedenen noch nicht wissen, in welche Richtung sie gehen wollen, sich personelle oder inhaltliche Alternativen nicht abzeichnen, so wird doch offenbar, dass der Widerspruch zur neoliberalen Wende der SPD, zum so genannten Schröder-Kurs immer breiter wird.

H, 10.06.2018

Post will Delivery-Gesellschaften auflösen

Die Tarifrunde wurde überlagert durch die Absicht der Post, die 2015 gegründeten Delivery-Gesellschaften, die Anlass für den großen Streik von 2015 waren, aufzulösen und die Beschäftigten wieder zurück in die Post zu führen. Unternehmerisch hatte sich gezeigt, dass die Doppelstrukturen zu erheblichen Kosten führten. Die Personalstellen mussten in nahezu allen Betriebsstätten mit zwei Tarifsystemen hantieren, die sich im Aufbau und in der Struktur erheblich voneinander unterscheiden.

Die Post musste ferner zur Kenntnis nehmen, dass sie mit Billigtarifen nur bedingt einen Stamm stabiler Zusteller aufbauen konnte, der verlässlich Gewerbetreibende und Großkunden bedienen kann. Als sog. Marktführer wird von ihr verlangt, dass sie stabile Leistungen und qualifizierten Service bietet. Die Fluktuation bei DHL Delivery betrug in einigen Niederlassungen in Jahr etwa 50%.

Während die Entscheidung über die Auflösung der Delivery-Gesellschaften schon gefallen ist, bleibt noch die Frage zu klären, welche Konditionen für die Delivery Beschäftigten und die Neueinzustellenden zukünftig gelten. Auch wenn die Post es akzeptieren wird, im Kern nur ein Entlohnungssystem zu haben, so möchte sie kaum mehr bezahlen. Derzeit wird darüber mit ver.di verhandelt. Eine Lösung für die Post wäre die Einführung von Niedriglohngruppen unterhalb des bestehenden Tarifes, mindestens für die ersten Jahre der Beschäftigung. Die andere Variante wäre regional differenzierte Löhne wie sie im Ansatz schon im 2017 abgeschlossenen Technikertarifvertrag realisiert wurden.

Objektiv befindet sich ver.di bei den Verhandlungen in einer starken Position. Der Paketmarkt boomt, qualifizierte Beschäftigte für die Zustellung lassen sich kaum finden und auf Dauer nur schwer halten, wenn nicht Lohn und sonstige tarifliche Leistungen deutlich über denen von Delivery liegen. Und sicher werden auch die Beschäftigten in der Sparte Paket ver.di dabei unterstützen, das Entlohnungssystem der Post auf alle Paketbeschäftigten zu übertragen.


  1. Vgl. ausführlich dazu Arpo 5/6 2015

aus Arbeiterpolitik Nr. 2/3 2018

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