»Flüchtlingskrise« und
Merkels Kampf für die Geschlossenheit der EU

Das Internierungslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos
Quelle: Wikimedia

Die Öffnung der deutschen Grenzen im August 2015, auf dem Höhepunkt der »Flüchtlingskrise«, verschaffte Merkel den Ruf (bis weit in linke und alternative Kreise), sie stehe für eine menschliche Lösung der Flüchtlingsfrage. Ihr gelang es, das durch die Spardiktate ramponierte Image der Bundesrepublik, aufzupolieren. Nunmehr galt Deutschland mit seiner »Willkommenskultur« als Repräsentant humanistischer Werte und nicht mehr als Lehrmeister Europas. Doch hinter diesem schönen Schein verbargen sich auch andere, staatspolitische Absichten und Ziele. Im Kern ging und geht es der Bundeskanzlerin um die Geschlossenhei der Europäischen Union und um die deutsche Führungsrolle auch in dieser Frage.

Blicken wir deshalb kurz zurück. Im März 2016 schrieben wir in der der Arbeiterpolitik unter der Überschrift:

»Flüchtlingskrise«, »Eurokrise«, »Syrienkrise« …
Scherbenhaufen, wohin man blickt

Für das deutsche Kapital ist die EU das Lebenselixier, da es ohne seine Exportmärkte, die überwiegend (2014: 58%) in der EU liegen, und Produktionsstätten in EU-Ländern (VW z.B. hat alleine 32 Produktionsstandorte in EU-Ländern außerhalb Deutschlands) nicht überleben kann. Das deutsche Industriekapital hat insbesondere nach der Weltwirtschaftskrise 2008/9 seine führende Rolle in der EU ausgebaut, weil es vom Euro, den durch Hartz IV gedeckelten Lohnkosten und seinem technologischen Vorsprung profitieren konnte. Das brachte Deutschland in die Position der führenden Nation innerhalb der EU.

Als im August letzten Jahres Ungarn die Grenzen gegenüber den Flüchtlingen schloss, handelte die deutsche Regierung ganz konsequent im Sinne einer europäischen Regierung und damit im Sinne des deutschen Kapitals: Es galt eine Kettenreaktion auf die ungarische Maßnahme zu verhindern, nämlich, dass ein Land nach dem andern Zäune baut und die Grenzen schließt. Damit wären der Binnenmarkt und der freie Waren- und Kapitalverkehr gefährdet, mithin die wichtigste Errungenschaft für das deutsche Kapital. Es drohte die Renationalisierung der EU, d.h. der Rückzug in einzelne Nationalstaaten. Es war also durchaus logisch, als Merkel darauf reagierte und ankündigte, dass Deutschland die Grenzen öffnen werde. Als heimliche EU-Regierungschefin dachte sie natürlich, dass die anderen Länder über kurz oder lang mitziehen würden, da auch sie kein Interesse an einem Zusammenbruch des Binnenmarktes und der Wiedereinführung von Grenzkontrollen haben dürften.

Wenn die EU keine politisch bestimmende Regierung und kein gemeinsames Ziel mehr hat und jedes Land machen kann, was es will, und dies auch tut, dann wird die EU bedeutungslos auf der weltpolitischen Bühne.

Zur Einwanderung in die EU heißt das Zauberwort jetzt: »Sicherung der Außengrenzen«. Wenn man den Schengen-Raum und den Binnenmarkt für Waren und Güter aller Art aufrecht erhalten wolle, müsse man die EU-Außengrenzen dicht machen.

Zaun des Internierungslagers Moria, Lesbos
Quelle: Wikimedia

Die Sicherung der Aussengrenzen: der EU-Türkei-Deal

Schon im März 2016 wurde mit der verstärkten Sicherung der Aussengrenzen begonnen, durch einen Deal zwischen der EU und der Türkei, mit entsprechenden finanziellen Gegenleistungen. Die Türkei wurde zu einem sicheren Herkunftsland erklärt und verpflichtete sich, soweit dies überhaupt möglich ist, die Grenzen zu Griechenland dicht zu machen. Die Fluchtroute zu den in Sichtweite liegenden griechischen Inseln wird seither von den türkischen Sicherheitsbehörden blockiert. Griechenland wurde verdonnert, die Bootsflüchtlinge auf den Inseln festzuhalten, um sie an der Weiterfahrt zu hindern. Die Informationen und Bilder von den Zuständen im Lager Moria – beschönigend »hot-spots« genannt – auf der Insel Lesbos sollen der Abschreckung dienen. Für 1.800 Personen geplant, werden derzeit über 7.000 Menschen dort interniert – unter unmenschlichen Bedingungen und mit der Ungewissheit über ihr weiteres Schicksal werden sie dort monatelang festgehalten. Der EU-Türkei-Deal wird bis heute von Merkel und den Regierungen der anderen EU-Staaten vehement gegen alle Kritik verteidigt. So viel zu den moralischen Motiven, die viele in Merkels Flüchtlingspolitik zu entdecken glaubten.

Während der »Finanz- und Eurokrise« waren die Mitgliedsländer in der EU noch den fiskalischen und sozialpolitischen Vorgaben der deutschen Regierung gefolgt. Die Erwartungen Merkels, die Bundesregierung könne auch bei der Bewältigung der »Flüchtlingskrise« eine einheitliches Handeln erzwingen, gingen nicht in Erfüllung. Die Differenzen in wesentlichen Fragen, wie der Verteilung der Geflüchteten oder einer einheitlichen Regelung der Asyl- und Aufnahmeverfahren, blieben bestehen und haben sich vertieft. Zahlreiche osteuropäische Regierungen, allen voran die ungarische unter Orban, weigern sich strikt, Geflüchtete ins Land zu lassen. Die Mittelmeerländer, Griechenland, Italien und nun verstärkt auch Spanien, blieben/bleiben auf den »Gestrandeten« sitzen, während andere europäische Staaten, wie Dänemark, zunehmend ihre Grenzen dicht machten.

Im Juni 2016 folgte die Entscheidung der britischen Wähler für den Austritt aus der EU. Für die Brexitbefürworter spielte die Zuwanderungsfrage, vor allem osteuropäischer Arbeitskräfte, eine wesentliche Rolle. Die britische Regierung solle diese selbst steuern und einschränken und sich nicht mehr den Gesetzen und Regelungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU unterwerfen. An der Arbeitnehmerfreizügigkeit haben gerade die ärmeren ost- und südeuropäischen Länder ein großes Interesse, mindern sie doch die Erwerbslosigkeit im eigenen Land und sorgen für einen finanziellen Rückfluss durch die innereuropäischen Arbeitsmigranten. Dies ist einer der Gründe, warum nicht nur die nationalpopulistischen Regierungen in Osteuropa sondern auch eine Mehrheit in der Bevölkerung die EU-Mitgliedschaft nicht in Frage stellen.

Trotz aller Bemühungen der Bundesregierung konnten die Differenzen innerhalb der Europäischen Union in der »Flüchtlingsfrage« in den letzen beiden Jahren nicht beigelegt werden. Die Verfechter nationaler Eigeninteressen, durch die Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien gestärkt, haben eine Einigung blockiert. Und ausgerechnet in dieser Situation drohte Innenminister Seehofer mit der umgehenden Schließung der Grenze zu Österreich, mit einem nationalen Alleingang der Führungsmacht in der EU. Das hätte alle bisherigen Bemühungen der Bundesregierung auf europäischer Ebene konterkariert und Merkel desavouiert. Dem konnte die Bundeskanzlerin nicht nachgeben. Sie suchte fieberhaft nach einem Kompromiss, um den Streit innerhalb der Unionsfraktion nicht außer Kontrolle geraten zu lassen. Die Rückführungen in andere EU-Staaten sollten auf keinen Fall einseitig, sondern nur nach bilateralen Absprachen erfolgen. Merkel erhielt die Zusicherung von 14 Regierungen zu Gesprächen für derartige Abmachungen. Seehofer akzeptierte und muss nun über die zwischenstaatlichen Lösungen und entsprechende Verträge verhandeln, beispielsweise mit Österreich und Italien.

Das einzige, worauf sich die EU-Regierungen auf ihrem letzten Gipfel überhaupt gemeinsam verständigen konnten, war eine verstärkte Sicherung der europäischen Außengrenzen. So soll mit der Abwehr von Geflüchteten an den Außengrenzen zugleich die zerstrittene EU vor dem weiteren Zerreißproben bewahrt werden. Eine Reihe von Maßnahmen wurde in diesem Zusammenhang beschlossen:

Stärkung von Frontex: Die geplante personelle Aufstockung der EU-Grenzschutz-Agentur Frontex soll der verbesserten Kontrolle der Außengrenzen dienen. Von insgesamt 10.000 Polizisten die Rede, der Ausbau soll bis 2020 abgeschlossen sein. Diese Angaben sind allerdings nicht im Abschlussdokument enthalten. »Dort heißt es aber, Frontex solle ein »erweitertes Mandat« erhalten. Die Erklärung klingt so, als ob Frontex künftig auch an der »Rückführung irregulärer Migranten« beteiligt wird. Näheres wird nicht mitgeteilt.« (taz, 30.06.2018)

»Ausschiffungsplattformen« Nordafrika: »Die Regierungschefs wollen, dass ein Konzept »regionaler Ausschiffungsplattformen« »ausgelotet« wird. Darunter werden Einrichtungen in Nordafrika verstanden, in die Flüchtlinge gebracht werden, die auf seeuntüchtigen Booten im Mittelmeer gerettet wurden. […] Bisher wurden solche Flüchtlinge vor allem nach Italien und Malta gebracht. […] Im Gipfeldokument heißt es ausdrücklich, man wolle »vermeiden, dass eine Sogwirkung entsteht“. In den Plattformen soll auch nicht EU-Recht, sondern nur internationales Recht gelten. Gemeint ist wohl die Genfer Flüchtlingskonvention, die nur eine Rückschiebung in den Verfolger-Staat verbietet.« (taz, 30.06.2018) So wird verhindert, dass die Geflüchteten europäischen Boden betreten und europäisches Asylrecht beanspruchen können. Auch deren Verteilung innerhalb der EU, die für so viel Streit unter den Mitgliedsstaaten sorgt, würde dadurch umschifft. Bisher haben allerdings alle Staaten Nordafrikas die Errichtung von »Ausschiffungsplattformen« dankend abgelehnt.

»Kontrollierte Zentren« in Europa: »Weil also Ausschiffungsplattformen in Nordafrika bis auf weiteres unrealistisch sind, heißt es im nächsten Punkt der Gipfel-Erklärung, dass Flüchtlinge, die im Mittelmeer gerettet werden, zu »kontrollierten Zentren« auf EU-Boden gebracht werden sollen. […] Diese Einrichtungen sollen freiwillig sein. Bisher ist aber kein Land bekannt, das ein derartiges Zentrum einrichten will. […] Auch die Übernahme von anerkannten Flüchtlingen aus diesen Zentren soll freiwillig sein.« Die Pläne für derartige »kontrollierte Zentren« ähneln den sogenannten »Hot Spots«, wie sie die Europäische Union schon seit 2015 mit dem Lager Moria auf Lesbos in Griechenland betreibt, oder den von Horst Seehofers Innenministerium konzipierten deutschen Ankerzentren in Manching und Bamberg. Dort müssen die Flüchtlinge wohnen bleiben (»Residenzpflicht“) bis das Verfahren abgeschlossen ist. Es gibt allerdings bisher keinen Staat auf europäischem Boden, der sich zur Einrichtung solcher Zentren zu Verfügung stellt.

Auch in weiteren Streitfragen der Migrationspolitik konnten die Regierungsoberhäupter auf dem EU-Gipfel keine Einigung herstellen. Die Europäische Union zeigt sich zerstrittener denn je. Bilaterale Abkommen sollen die Gräben überbrücken. Nationale Alleingänge werden zunehmen, um sich Vorteile in diesen bilateralen Verhandlungen zu verschaffen. Italien und Malta praktizieren dies mit der Schließung ihrer Häfen, übrigens nicht nur für zivile, sondern auch für Schiffe der EU-Mission »Sophia«, wenn sie Flüchtlinge an Bord haben.

2016 wurde die Abwehr von Bootsflüchtlingen in der Ägäis den türkischen Sicherheitsheitskräften übertragen. Zwei Jahre später wird die Seenotrettung in lybischen Hoheitsgewässern praktisch deren Küstenwache überlassen. Die nichtstaatlichen, humanitären Rettungsboote wurden beschlagnahmt, der Kapitän der »Lifeline« in Malta vor Gericht gestellt. Es gibt derzeit keine NGO-Rettungsschiffe mehr im Mittelmeer. Nicht moralische, sondern materielle Interessen und stategische Ziele (die Geschlossenheit der EU im weltweiten Konkurrenzkampf) bestimmen die Politik der EU-Regierungen. Wissentlich nehmen diese die steigende Zahl Ertrunkener zur Abschreckung in Kauf. Die moralischen Hürden bis zur Anwendung militärischer Gewalt zum Schutz der europäischen Aussengrenzen werden mit den wachsenden Erfolgen der nationalistischen Rechtspopulisten immer niedriger.

26.07.2018


aus Arbeiterpolitik Nr. 4 / 2018

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