Leserbrief zur Novemberrevolution

Leserbrief

Liebe Genossinnen und Genossen,

Eurem Artikel zur Novemberrevolution in Arpo 5/6 vom letzten Dezember kann man in der Gesamtaussage nur zustimmen. Dennoch möchte ich einige Ergänzungen und kritische Anmerkungen beitragen.

Nicht die privilegierte Stellung der Facharbeiter war Ursache des deutschen Reformismus. Sie waren vielmehr Träger des Klassenkampfs und später der Revolution. Die kompromisslerische Politik der Führungen von SPD und Gewerkschaften durch die These von der bestochenen Arbeiteraristokratie, die die eigentlich revolutionäre Klasse behindert, zu erklären, taugt nicht für eine materialistische Analyse gesellschaftlicher Vorgänge. Durch die jahrzehntelangen gewerkschaftlichen und parlamentarischen Erfolge waren nicht nur die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsführung halb freiwillig, halb widerstrebend in das System hineingewachsen – dies galt für die gesamte Arbeiterklasse, die im engeren Sinne 13 Millionen Menschen umfasste. Man erwartete weiteres Erstarken und – irgendwann – die parlamentarische Machtübernahme der SPD, die bereits über eine Million Mitglieder hatte. Und in den Gewerkschaften waren 2,5 Millionen organisiert. Neben den Tausenden bezahlter Funktionäre gab es 100.000 Ehrenamtliche in den Arbeitsnachweisen, Sozialversicherungen und Gewerbegerichten, und 12.400 Tarifverträge waren 1912 zu verwalten. Der Reformismus war deshalb nicht wie in Russland eine vorwiegend theoretisch-ideologische Frage – er konnte nur durch praktische Kampferfahrungen überwunden werden. Theoretisch hatte Rosa Luxemburg ihn ja bereits 1899 widerlegt.

Die gesamte Vorkriegszeit hindurch, seit dem Fall der Sozialistengesetze, verhinderten die Partei- und Gewerkschaftsvorstände den Einsatz ihrer Organisationen zur aktiven Förderung von Massenaktionen und Generalstreiks, wie die Linke sie forderte. Massenhafte Lernprozesse der Arbeiterschaft im Kampf bargen für sie die Gefahr, das friedliche Erstarken zu stören, das große Organisationswerk zu erschüttern, die besonnenen Funktionäre wegzuspülen.

Als Deutschland den Krieg provozierte, hätte die einzige Möglichkeit, sich als sozialistische Führung anständig zu verhalten, darin bestanden, zu protestieren, zum Widerstand aufzurufen, sich verhaften zu lassen, die Organisationen zum Teufel gehen zu lassen – so wie Rosa Luxemburg es in ihrer Juniusbroschüre beschrieben hat. Dadurch hätte ein gesellschaftlicher Widerstand gegen den Krieg eingeleitet werden können. Friedrich Ebert dagegen rettete die Organisation und brachte die Kasse in der Schweiz in Sicherheit – seine Parteimitglieder hat er mit seiner Zustimmung in den Krieg schicken lassen, auf dass sie französische, belgische, englische und russische Klassenbrüder ermordeten. Mit dieser Haltung stand er nicht allein. Der Militarismus war vor dem Krieg tief in die Arbeiterklasse eingedrungen, sogar in ihren organisierten Kern. Andernfalls hätte der Reichstagsabgeordnete Gustav Noske schon 1907 aus der Partei ausgeschlossen werden müssen. Die eine Million, die am 28.Juli 1914 noch in vielen Demonstrationen überall im Reich gegen den Krieg protestierten, waren gegen den nationalistischen Massenwahn und angesichts der unmittelbar bevorstehenden Katastrophe erschreckend Wenige – und als die Reichstagsfraktion der SPD für die Kriegskredite stimmte, brach auch deren Widerstand zusammen.

So stark war die Tradition der Einigkeit und der sozialdemokratischen Hierarchie, dass die Kriegsgegner sich dem Fraktionszwang unterordneten und erst zweieinhalb Jahre später die Spaltung der SPD erfolgte. Diese Spaltung früher herbeizuführen hätte als Verrat gegolten, die Linken von jeglichem Zugang zu den Parteimitgliedern abgeschnitten und den Verzicht auf die Wirkungsmöglichkeiten in den Organisationsstrukturen bedeutet. Es war ja keine ideologische Frage; es kam auf die Vorbereitung praktischer Widerstandsbewegungen an, nicht auf die Propagierung einer besseren politischen Linie. Genau diese praktische Entwicklung musste die MSPD-Führung zu verhindern suchen – ihr war aus jahrzehntelanger Auseinandersetzung mit den Linken klar, dass eine Entfaltung der Revolution ihren politischen – und persönlichen – Untergang bedeuten würde.

Die von den gewerkschaftlichen Vertrauensleuten organisierten großen Streiks, die im Januar 1918 eine Million erfassten, reichten zum Sturz des Kaiserregimes nicht aus. Erst als es in der Niederlage zerfiel, konnte der Matrosenaufstand die Revolution auslösen. So war es kein Wunder, dass die MSPD trotz ihres Kriegskurses noch große Mehrheiten in der Arbeiterschaft und den Räten hatte – bereits am Einheitstaumel am 10. November 1918 im Großberliner Arbeiter- und Soldatenrat war das abzulesen (vergleichbar dem Einheitsrausch nach der russischen Februarrevolution). Die Räte entstanden naturwüchsig, wie sie immer entstehen, wenn die Arbeiterklasse ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nimmt, und nicht als „Fernwirkung der russischen Revolution“, und es gab, anders als in Russland, keine Doppelherrschaft: der Rat der Volksbeauftragten, dem übrigens Noske am Anfang nicht angehörte, war Organ und Ausdruck der noch mit reformistischen Illusionen überladenen vorläufigen Räteherrschaft.

Endgültig klar wurden die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der MSPD vor dem Reichsrätekongress anhand der Delegiertenwahlen. Sogar in Berlin erhielt sie mehr Mandate als die USPD. Auf dem Kongress selbst wurde am 19. Dezember 1918 mit 400 gegen 50 Stimmen die Wahl zur Nationalversammlung auf den 19. Januar 1919 festgelegt. Damit war klar, dass die Nationalversammlung nicht mehr zu verhindern war – auf welche Arbeiterdemokratie hätte sich ein solcher Versuch auch stützen sollen? Und es war klar, dass die Forderung nach dem Sturz der Regierung der Volksbeauftragten keinen Sinn mehr machte – für vier oder sechs Wochen kann man keine Regierung stürzen, wenn feststeht, dass danach eine andere kommt. Die deutsche Revolution stand am Anfang, und wie die russische Arbeiterklasse acht Monate Zeit für Lernprozesse bis zur Entscheidung der Machtfrage hatte die deutsche nicht.

So hatte Ebert wegen der Entscheidung „Nationalversammlung oder Rätesystem“ keinerlei Veranlassung, den Reichsrätekongress auseinanderzujagen, wie in Eurem Artikel behauptet, und weder er noch die mit ihm heimlich verbündete Oberste Heeresleitung hatten zu diesem Zeitpunkt, nach den gescheiterten Putschversuchen vom 6. und 10. Dezember, die Machtmittel dazu. Zwei andere, mit großer Mehrheit gefasste Beschlüsse des Reichsrätekongresses jedoch bereiteten der MSPD-Führung große Schwierigkeiten, weil auch eine große Mehrheit der MSPD-Anhänger dahinterstand: der Rat der Volksbeauftragten war mit der sofortigen Entmachtung des Offizierskorps und dem unverzüglichen Beginn der Sozialisierung beauftragt worden. Das hätte die Volksbeauftragten in Konflikt mit der Obersten Heeresleitung und mit der Bourgeoisie gebracht. Sie schoben – gegen den Einspruch der USPD-Volksbeauftragten – die Umsetzung auf die lange Bank.

Als die Oberste Heeresleitung Ebert soweit unter Druck gesetzt hatte, dass er mit Wissen seiner MSPD-Kollegen den Befehl gab, am 24. Dezember die revolutionäre Volksmarinedivision in Schloss und Marstall beschießen zu lassen, hatte die Militärführung ihn endlich in der Hand – entgegen dem Beschluss des Reichsrätekongresses hatten die MSPD-Volksbeauftragten das Militär nicht nur nicht aufgelöst, sondern es gegen die revolutionären Matrosen eingesetzt. Auf keine der Revolution verbundene Truppe würde die MSPD-Führung sich jetzt mehr stützen können. Der Donner der Artillerie hatte allerdings auch das Heulen der Fabriksirenen ausgelöst und 100.000 Arbeiter und Arbeiterinnen auf den Plan gerufen, die die Soldaten von den Geschützen wegzerrten – das Militär hatte wieder eine Niederlage erlitten und war geschwächt.

Im Hagel der sich täglich überstürzenden Ereignisse ist anscheinend nur langsam klar geworden, dass für die Revolutionäre eine Umstellung der Taktik, unterhalb der Frage Nationalversammlung oder Rätesystem, notwendig geworden war. Statt nun an den Beschlüssen zur Sozialisierung und Entmachtung der Offiziere anzusetzen, dafür Massen zu mobilisieren und ihre Machtpositionen auszunutzen, hatte die Linke ihre Wahl in die Exekutive des Reichsrätekongresses (den Zentralrat) verweigert, und damit die gesamte Regierung der MSPD überlassen, als dann die USPD-Volksbeauftragten Ende Dezember wegen der Weihnachtskämpfe zurücktraten und der Zentralrat Noske und Wissel zu Nachfolgern wählte.

Selbst die riesigen Protestdemonstrationen gegen die Beschießung der Matrosen ließen Liebknecht und die USPD-Linken mit der undurchführbaren Parole zum Sturz von Ebert-Scheidemann ratlos stehen, statt sie auf die Besetzung des Kriegsministeriums und die Übernahme der Betriebe zu orientieren. Hier hätte sich die MSPD-Basis – in Erfüllung der Beschlüsse des Reichsrätekongresses – noch anschließen können. Stattdessen wurde der Graben zwischen den beiden Zweigen der Arbeiterbewegung weiter vertieft. Am 29. Dezember wurden die getöteten Matrosen in einem nach Hunderttausenden zählenden Trauerzug zu Grabe getragen. Aber auch die MSPD hatte – zusammen mit der Bourgeoisie – zum Schutz der Regierung Hunderttausende mobilisiert. Die beiden Demonstrationen beschimpften und umschlichen sich, aber sie griffen sich nicht an.

Rosa Luxemburg war seit dem 23. Dezember von ihrer Forderung nach unmittelbarer Umsetzung des Rätesystems zurückgerudert und propagierte jetzt die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung. Nachdem die USPD-Führung die Forderung nach einem Parteitag vor den Wahlen abgelehnt hatte und eine gemeinsame Kandidatenaufstellung auf den Listen der USPD gescheitert war, gab sie ihren Widerstand gegen die eigenständige Parteigründung auf. Nicht so Leo Jogiches. Wie sich an den Beschlüssen des Gründungsparteitages gegen die Teilnahme an den Wahlen und an den Diskussionen zur Gewerkschaftsfrage versus Einheitsorganisation sowie zur Gewaltfrage zeigte, war die Spartakusführung trotz der Orientierung Rosa Luxemburgs auf eine längerfristige Taktik (siehe Rede zum Programm) zur Gefangenen ihrer linksradikalen Basis geworden. Die Partei landete im Abseits der politischen Aufmerksamkeit, hatte die Revolutionären Obleute abgestoßen, blieb eine sehr kleine Massenpartei von einigen tausend Mitgliedern und hatte sich abgeschnitten von der Einflussnahme auf den Gärungsprozess der USPD, der im Laufe des Jahres 1919 700.000 neue Mitglieder zuströmen sollten. Die Parteigründung war zu früh erfolgt und nicht „endlich“, wie Ihr schreibt. Hier hinkt der Vergleich Eures Artikels mit Russland: die Partei Lenins hat ihre organisatorische Stärke und ihren Massenanhang erst im Zuge des achtmonatigen Lernprozesses der russischen Arbeiter nach der Februarrevolution erlangt, des Lernprozesses, der der deutschen Arbeiterklasse erst noch bevorstand, und den die MSPD- Führung zu verhindern trachtete.

Als der Polizeipräsident Eichhorn entlassen werden sollte, zeigte die Berliner Arbeiterschaft, dass ihr die Aufgabe sämtlicher Machtpositionen gar nicht recht war. In Riesendemonstrationen strömten die Massen am 5. und 6. Januar in die Innenstadt, und wieder wurden sie mit der undurchführbaren Orientierung auf den Sturz von Ebert- Scheidemann stehen gelassen – so kam es zu Ersatzhandlungen wie der strategisch unsinnigen Besetzung des Zeitungsviertels. Der Revolutionsausschuss aus Obleuten und linker USPD, mit Beteiligung von Liebknecht und Pieck, erklärte sich zur Regierung, wusste aber nicht, wie er seinen Anspruch umsetzen sollte. Die Massenbewegung befand sich in einer Sackgasse, und es wurde kein Weg gefunden, der hätte hinausführen können; und die Bewegung flaute ergebnislos ab. Die Militärführung konnte nun unter Deckung der MSPD mit reorganisierten Truppen und Minenwerfereinsatz die besetzten Gebäude räumen und 160 Menschen brutal massakrieren. Wie später zu erfahren war, hatte die konterrevolutionäre Seite den Konflikt bewusst provoziert, um den Widerstand niederzuwerfen, und die spontane Massenbewegung war in die Falle gegangen. Liebknecht und Pieck handelten gegen den Willen der Zentrale der KPD, die den Versuch der Machtergreifung abgelehnt und ihnen die weitere Teilnahme untersagt hatte. Die von Clara Zetkin beschriebene halbherzige Unterstützung in der Roten Fahne, um die kämpfenden Massen nicht allein zu lassen, war Ergebnis dieser Situation. Luxemburg machte Liebknecht Vorwürfe wegen seines Putschismus, und nach Aussage Paul Levis wäre nach Abschluss der Aktion ein Donnerwetter über Liebknecht hereingebrochen. Dazu ist es wohl nicht mehr gekommen.

Die MSPD hatte nun den Widerstand gebrochen gegen die Nationalversammlung, die die Revolution eindämmen würde, und die Revolution war enthauptet. In der Folge konnte die Militärführung unter politischer Deckung der MSPD-geführten Regierung eine lokale Räteregierung nach der anderen militärisch abräumen und massakrieren, die großen Streiks im Ruhrgebiet, in Mitteldeutschland und in Berlin per Massenmord niederschlagen und den Aufstand im Ruhrgebiet nach dem Kappputsch brutal im Blut ersticken. MSPD und Militärführung, verbunden im gemeinsamen Überlebensinteresse, schlugen die revolutionären Ansätze nieder, bevor die sozialen Klassenkämpfe sich hätten voll entfalten und die Lernprozesse der Arbeiterklasse bis zur Revolution hätten reifen können. Dass noch Interessengegensätze die einheitliche Willensbildung des Proletariats verhinderten, wie Ihr schreibt, ist eben Ausdruck der Tatsache, dass die Revolution erst am Anfang stand. Ihre Entfaltung wurde unterbunden. Bei dieser präventiven Konterrevolution brauchte die deutsche Bourgeoisie sich die Finger nicht schmutzig zu machen, und sie war, anders als die russische, noch nicht ökonomisch und politisch am Ende. Die sozialdemokratisch gedeckten Massenmorde trieben den revolutionären Teil der Arbeiterklasse derart in die empörte Selbstisolierung (und in die Arme der Komintern), dass gemeinsame Klassenaktionen kaum noch zustande kamen, die Arbeiterbewegung kampfunfähig wurde und ihre Anziehungskraft verlor. Die so angezüchteten Freikorpsverbände bildeten die Reichswehr und schwarze, faschistische Verbände, die sich dann 1933 wieder verschmelzen konnten zur Vernichtung der Arbeiterbewegung und zur Vorbereitung des Revanchekrieges der deutschen Bourgeoisie.

K.B, 12.02.2019


aus Arbeiterpolitik Nr. 1 / 2019

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