Außenpolitische Lage und Interessen der deutschen Bourgeoisie

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Es gibt eine Tradition in Teilen der Linken, in der »Deutschland« ein geradezu genetisch implantierter Drang zur »Weltmacht« unterstellt wird. Da seit Ende des Zweiten Weltkriegs offensichtlich ist, dass das in der nationalen Beschränkung nicht wiederholbar ist, wird ein »deutsch dominiertes Europa« dafür herangezogen. Die Oppositi­on gegen deutsches Weltmachtstreben, sei es national begründet oder im europäischen Verbund, entspringt ei­nem prinzipiell richtigen Gefühl, aus der Geschichte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, Deutsch­land betreffend, wie auch aus der heutigen Situation weltweiter sozialer Ungerechtigkeit Lehren zu ziehen, die den Weg aus der kapitalistischen Vergesellschaftung weisen könnten. Aber mit einer materialistischen Analyse der Klasseninteressen der deutschen Bourgeoisie in der Weltpolitik von heute hat das oft nichts zu tun. Es wider­spricht auch den Bedürfnissen und Einstellungen der Arbeiterklasse und anderer Gesellschaftsschichten, wie sie beispielhaft immer wieder in Umfragen, die Themen von Krieg und Frieden berühren, zum Ausdruck kommen.

Das Kapital, wo auch immer in der Welt, will Ordnung und einen verlässlichen Rechtsrahmen, damit es seinen Geschäften nachgehen kann. Wer immer das garantieren kann, ist ihm willkommen. Nationalistische Engstirnig­keit ist ihm im allgemeinen fremd. Ob ein einzelner Nationalstaat für eine solche Rolle in Frage kommt, hängt daher entscheidend von seinen Machressourcen und seiner internationalen Stellung ab. Er muss ökonomische, politische und militärische Macht mobilisieren können und weltweit präsent sein. Im 19. Jahrhundert galt das für Großbritannien und sein Weltreich. Im 20. Jahrhundert übernahmen die USA. Deutschland hat um diese Position zweimal gekämpft und verloren. In heutiger Zeit ist es erst recht zu klein dazu. Die deutsche Wirtschaft ist stark, im europäischen Rahmen und global. Wenn in Berlin bzw. Frankfurt Entscheidungen getroffen werden, hat das für andere Länder Konsequenzen. Das hat sich etwa in der Krise in und um Griechenland gezeigt: An Berliner Forderungen kamen die EU und Athen nicht vorbei. Umgekehrt ist die deutsche Position jedoch nicht die eines unumschränkten Befehlshabers. Das zeigte zuletzt das Postengeschacher nach den EU- Wahlen 2019. Die deutsche Hegemonie (Vorherrschaft, die auf Akzeptanz stößt) hängt an der deut­schen Wirtschaftskraft und diese wiederum ist auf einen europäischen Wirtschaftsraum, noch weiter auf den Weltmarkt angewiesen. Das ist für die deutsche Situation existenziell. Es kann nicht durch politische Vorgaben geändert oder umgangen werden. Die deutsche Wirtschaft braucht einen großen europäischen Binnenmarkt und einen freien Zugang zum Weltmarkt. Das zu garantieren, kann ein einzelner Nationalstaat mittlerer Größe nicht leisten.

Für andere zentrale Ökonomien der EU dagegen gilt die Weltmarktabhängigkeit so nicht: Zwar spielt für sie alle der globale Absatz eine wichtige Rolle, weshalb die EU nachhaltig Weltmarktinteressen im Auge hat. Aber dennoch gibt es Unterschiede zu Deutschland: Italien verkauft zwar eine Menge im Ausland, aber ers­tens vor allem in die EU und zweitens nicht mehr so sehr im Industriesektor wie noch vor ein paar Jahrzehnten. Großbri­tannien ist so deindustrialisiert, dass es kaum Waren auf dem Weltmarkt absetzen kann. Entscheidend sind dort nur noch der Ölmarkt und vor allem, weit vorneweg, der Finanzmarkt der Londoner City. Frankreich hat zwar immer noch ein paar Konzerne, die Global Player sind, aber zugleich – gerade wegen der Schwäche der übrigen Wirtschaft – immer noch einen nicht zu unterschätzenden Binnenmarkt: Nur dort werden die anderen französi­schen Unternehmen ihre Produkte los.

Üblicherweise erwächst zwar die politische Macht aus der ökonomischen. Die Ideologen des Kapitals fordern daher, dass Deutschland endlich wieder eine stärkere politische Rolle in Europa und international spielen müsse. Das gehe freilich nur im Rahmen der EU. Wenn Deutschland mit den Weltmächten mithalten wolle, müsse die EU gestärkt werden und Berlin darin mehr »Führung« übernehmen. Aber es müsse einhergehen mit der Übernah­me größerer militärischer »Verantwortung«, also mit Aufrüstung. Hier liegen aber die Grenzen einer politisch of­fen auftretenden deutschen Machtposition. Eine deutsche Regierung, welcher Couleur auch immer, kann ökono­mi­sche Macht nicht so direkt in politische ummünzen wie Großbritannien, Frankreich oder die USA. Auch diese müssen in heutiger Zeit stärker Rücksicht nehmen auf Erwartungen, die etwa an geltendes Völkerrecht geknüpft werden, und sich darauf ggf. einrichten, ihr Verhalten gegenüber Kritik aus der eigenen Bevölkerung oder inter­national zu legitimieren. Für Deutschland aber liegen die Maßstäbe noch einmal höher.

Das große Problem der herrschenden Klasse in Deutschland sind zwei selbst verursachte und verlorene Welt­kriege und die dabei begangenen Verbrechen. Daraus erwuchs ein Misstrauen der Welt gegen deutsches Auftre­ten und deutsche Politik, das nicht enden wird. Das bestimmt die deutsche Staatsräson auf Schritt und Tritt. Ein permanentes Beispiel hierfür ist die bedingungslose Unterstützung Israels. Dass eine Kritik an Israels Besat­zungspolitik mit Antisemitismus rein gar nichts zu tun hat, sondern eine Frage internationaler Solidarität mit einer unterdrückten Bevölkerung ist, muss dabei von den Regierenden und der Hauptströmung der öffentlichen Meinung ausgeblendet werden. Eine weitere Folge des Zweiten Weltkriegs ist in der Verfassung der Vereinten Nationen, dass Deutschland als eine der vier stärksten Nationalökonomien keinen ständigen Sitz mit Vetorecht im UNO-Sicherheitsrat hat, während diese Mandate für Frankreich und Großbritannien anachronistisch wirken (nach der reinen Logik der Großmächtedominanz kämen heute andere Mächte in Frage). Die über die NATO kontrollierte deutsche nichtnukleare Wiederbewaffnung, die Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags, die Begrenzung der Personalstärke der Bundeswehr als eine Bedingung im 2+4-Vertrag zur Eingliederung der DDR in die BRD, die vorwiegend logistischen Einsätze in Bündniskonflikten am Balkan, im Nahen Osten oder sonst wo: Für all das war und ist der Spielraum der Bundesregierung jedweder Zusammensetzung jeweils sehr eng ge­setzt.

Vor dem historischen Hintergrund der Weltkriege wird nicht nur die militärische Seite, sondern auch die ge­genwärtige ökonomische Machtstellung Deutschlands in der EU und in der Welt misstrauisch bewertet. So ist Deutschland am besten von allen EU-Staaten durch die Finanzkrise 2007/8 gekommen. Es ist immer noch das industrielle Schwergewicht der EU. Der deutschen Bundesregierung und der Bundesbank wird vorgehalten, den stärksten Einfluss auf die neoliberale Gestaltung der europäischen Verträge seit Maastricht genommen zu haben, in denen die deutsche Wirtschaftsmacht mehr Vorteile genießt als andere. Ähnliches gilt auch für politische Re­gelungen wie in der Frage der Zuwanderung, wo Deutschland ein Profiteur des Dublin-Abkommens ist. Dieses schreibt vor, dass für die Registrierung und Unterbringung von Flüchtlingen der erste Ankunftsstaat zuständig ist. Damit wur­den die Lasten zentral auf die südeuropäischen Küstenländer Griechenland, Italien und Spanien abgewälzt, wäh­rend das mitteleuropäische Deutschland ohne EU-Grenzen davonkommt. Aber es zeigt sich auch, dass vereinbarte Regelungen nicht in Stein gemeißelt sind, wenn sie den sich ändernden Bedingungen nicht standhalten können. Dann muss erneut verhandelt werden, um die erforderliche Mehrheit zu gewinnen. Ein Bei­spiel hierzu bildet die Migrationsfrage (vgl. Kasten).

Das alles kann nicht par ordre du mufti aus Berlin angeordnet oder in verräucherten Hinterzimmern ausbal­dowert werden, sondern muss durch die komplizierten Strukturen der europäischen Gipfeltreffen und Institutio­nen gehen. In diesem Zusammenhang wird zwar häufig das Auftreten deutscher Regierungs- und Interessenver­treter als hart und überdurchschnittlich präsent beklagt. Aber es erfordert eben nach außen taktische Zurückhal­tung, und die Strukturen setzen auch einem ökonomisch mächtigen Deutschland Grenzen. So ist schon das Auf­treten im EU-Rahmen davon gezeichnet, dass Berlin eher äußerlich zurückhaltend und im Bunde mit anderen, vor allem Paris, agieren muss. Hätte z. B. die Bundesregierung die Memorandumspolitik gegen die griechische Bevölkerung direkt durchgesetzt, wären die Griechen sehr viel stärker auf die Barrikaden gegangen. Es hat so schon immer wieder Anspielungen auf den Besatzungsterror der Nazis in Griechenland während des Zweiten Weltkriegs gegeben.

Daher lässt sich im Großen und Ganzen (nicht durchgängig in allen Fällen) eine Arbeitsteilung zwischen Paris und Berlin feststellen: Deutschland (Bundesregierung, Bundesbank, Wirtschaftsverbände) sieht sich für die öko­nomischen Vorgaben in der EU zuständig, während Frankreich im politischen Raum offensiver auftritt. Eine deutsche Dominanz ist praktisch unmöglich. Das gilt ganz besonders militärisch. Großbritannien konnte in der Tankerkrise mit dem Iran einen weiteren Zerstörer in den Golf entsenden. Verglichen mit den USA ist das zwar wenig – aber immerhin etwas. Als Trump in diesem Zusammenhang mehr NATO-Bodentruppen in Syrien einfor­derte, konnten Paris und London einwilligen. Berlin hingegen musste innerhalb eines Tages absagen.

An dieser Gesamtsituation wird sich sowohl für die EU als auch speziell für Deutschland perspektivisch nichts ändern. Deutschland rüstet zwar auf, angesichts des US- Drucks, mehr zur NATO beitragen zu müssen, sogar recht stark. Aber es wird immer hinter Frankreich und Großbritannien herhinken (ganz zu schweigen von den USA). Zunächst einmal steht wiederum die Geschichte im Weg: Da mag es noch so viele Forderungen geben, Deutschland müsse militärisch mehr tun. Würde Berlin aber wirklich entscheiden, einen Flugzeugträger zu bauen oder gar den Bau einer Atombombe angehen (was allerdings unmöglich ist, weil es mit der Schließung der Atomkraftwerke kein Ausgangsmaterial gibt), dürfte es einen weltweiten Aufschrei geben. Der wäre dem Ver­kauf deutscher Güter sicherlich abträglich. Das Kapital braucht aber in erster Linie Ruhe und Ordnung, um sei­nen Geschäften nachzugehen. Also wird man allein deswegen solche Schritte unterlassen.

Das alles kann nicht heißen, dass wir beruhigt zur Tagesordnung übergehen können. Auch ohne eine wirklich eigenständige Rolle in der Weltpolitik beteiligen sich Deutschland und die EU an dem Erhalt der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, zu Hause und global. Jeder in die Rüstung gesteckte Euro fehlt für sinnvolle soziale und infrastrukturelle Ausgaben. Der Ruf nach stärkerer internationaler »Verantwortung«, ob national oder im EU-Rahmen, bedeutet für die Lohnabhängigen aller Länder generell nichts Gutes.

F/HU, 15.10.2019

 


Beispiel Migrationspolitik

Brandkatastrophe in Moria

Die Brandkatastrophe im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos am 30. September verdeutlichte erneut die verfehlte Zuwanderungspolitik der EU-Staaten – verfehlt im zweifachen Sinne, dass sie Probleme nicht löst und auch für die Regierungen immer wieder Legitimationsdefizite schafft. Bekanntlich war im sogenannten Dublin-Abkommen geregelt, dass Flüchtlinge in dem EU-Staat zu registrieren seien, in dem sie zuerst EU-Boden betreten. Damit hatten zentrale EU-Staaten die Verantwortung auf Randstaaten wie Griechenland, Italien und Malta abgewälzt, die damit völlig überfordert waren. Die damit erzeugten Probleme führten in verschiedenen Ländern zum Anwachsen rechtspopulistischer und – in deren Schatten – faschistischer Strömungen. Ein Ausweg wurde schließlich in der Festlegung von Verteilungsquoten der Neuankömmlinge unter den EU-Staaten gesucht.

Besonders die Visegrad-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) verweigerten dies. In Italien bekamen Rechtspopulisten die Regierungsgewalt. Nach deren Sturz setzten sich die Innenminister von Deutschland, Frankreich, Italien und Malta zusammen, um eine vorläufige Regelung unter sich auszuhandeln und diese (nach dem Muster des »Europa der zwei Geschwindigkeiten«) den übrigen Mitgliedstaaten schmackhaft zu machen. Auch nach der Brandkatastrophe in Moria (einem Lager, das für 3000 Personen ausgelegt ist, in dem aber 12000 unter elenden Verhältnissen derzeit leben müssen) war es der deutsche Innenminister (der französische war kurzfristig verhindert), der mit dem Migrationskommissar der EU die Region besuchte, um mit Vertretern Griechenlands und der Türkei über eine Lösung zu verhandeln. Am 15. Oktober kam es unter ähnlichen Umständen zu einer Brandkatastrophe im Flüchtlingslager der Insel Samos.

Die Migrationspolitik befeuert in den EU-Staaten den Rechtspopulismus. Dieser verschärft die Probleme, spaltet die herrschende Politik und die Stimmungslagen in der Bevölkerung und lenkt die Emotionen von Frust und Hass gegen Minderheiten ab. Ein uraltes Rezept der Herrschenden und ihrer Handlanger ist es, innergesellschaftliche Konflikte nach außen zu wenden.

Türkischer Einmarsch in Rojava

In der aktuellen, durch den türkischen Einmarsch in Rojava (Nordsyrien) erzeugten Krise zeigt sich die EU insgesamt völlig hilf- und einflusslos. Erdogan hat sie mit der Drohung, Flüchtlinge in ihre Richtung zu treiben, in der Hand. Bezahlen muss das die Bevölkerung Rojavas, deren für viele auch hiesige Linke hoffnungsvolles Selbstverwaltungsprojekt zwischen den Interessen, Intrigen und Aktionen der lokalen (Erdogan, Assad) und überregionalen (Trump, Putin) Machthaber völlig zerrieben wird. Gleichzeitig zeigt der voreilig für geschlagen erklärte IS, dass er weiterhin und wieder stärker in der Lage ist, brutal zuzuschlagen.


aus: Arbeiterpolitik Nr. 3/4 2019

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