Der Artikel »Programm Weltmacht der EU – eine Rechnung ohne den Wirt« geht davon aus, dass es ein Gesamtinteresse der herrschenden Klassen in den EU-Staaten gebe, dass ihr Staatenbund zwischen anderen großen Staatsgebilden der Welt, also USA, China und Russland, ein gehöriges Wort mitsprechen müsse, kurz: zur Weltmacht werden müsse. In Diskussionen zu dieser Thematik wird daraus häufig gefolgert, dass die EU hierzu keine Alternative habe und deshalb auf dem Weg zur Bildung eines den traditionellen Nationalstaaten vergleichbaren Bundesstaates mit einer eigenen, wirksamen Zentralregierung zwangsläufig fortschreiten werde. Tatsächlich sind prinzipielle Zweifel angebracht, dass eine abstrakte Logik ausreicht, den Lauf der Geschichte zu bestimmen.
Strukturfragen
Zur Kennzeichnung der EU findet sich in dem Artikel der folgende Satz: »Die EU mit ihrer komplizierten Institutionenstruktur ist weder ein Staat noch ein Nicht-Staat, sondern ein völkerrechtliches und realgeschichtliches Unikum, das jeder systematischen Einordnung spottet.« Was macht sie so besonders? Die EU hat die – teils Jahrhunderte alte – Souveränität ihrer Mitgliedstaaten gründlich beseitigt, weil in dem seit Gründung ihrer Vorgängergemeinschaften in den fünfziger Jahren laufenden Integrationsprozess immer mehr Kompetenzen auf »Brüssel« übertragen wurden. Im Ergebnis ist der einzelstaatliche Gesetzungsgebungsprozess nunmehr zu rund 80 % von Vorgaben durch EU-Richtlinien und -Verordnungen festgelegt. In wichtigen Politikbereichen ist sogar die Alleinzuständigkeit der EU – also der Kommission, des Parlamentes und des Europäischen Gerichtshofs – geregelt: Hierzu gehören die Funktionsregeln des Binnenmarktes, die Zollunion, der Außenhandel, die Agrar- und Fischereipolitik und internationale Verträge in diesen Bereichen. Dazu gehört auch – aber nur für die Eurozone, der perspektivisch alle Mitgliedstaaten beitreten sollen – die Währungspolitik. Also sind wichtige Bereiche »vergemeinschaftet« und in diesem Maße Voraussetzungen zur Bildung eines Staates gegeben.
Das ist so weit richtig. Aber auf der anderen Seite steht eben alles, was nicht von »Brüssel« geregelt wird. Hierzu gehören vor allem Kernbereiche der Sozialpolitik und damit zusammenhängende Rechtsfragen, die also die große Masse der Bevölkerung betreffen. Weiter gehören dazu »hoheitliche Aufgaben«, in denen die Staatsmacht nach innen und außen sich darstellt und geltend macht. Die vielfältigen europäischen und globalen Zwänge zur Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf ökonomischem, politischem und militärischem Gebiet sind natürlich unübersehbar wirksam. Aber die EU setzt in ihrer Konstruktion an die Stelle der aufgelösten Souveränität der Nationalstaaten keine eigene aus »Brüssel«. Statt einer zentralen Bundesregierung mit einem kompetenten bürgerlichen Parlament steht hier eine anachronistische Versammlung fast feudalen Zuschnitts: der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs. Er – und nicht ein zentraler Premierminister, gewählt von einer Mehrheitskoalition – setzt die Rahmenrichtlinien der Politik, die die EU-Instanzen zu befolgen haben, und bemüht sich um Koordination der Aktivitäten der Mitgliedstaaten. In diesem Gremium hat jeder Staat ein Vetorecht.
Dieses Vetorecht ist ein Instrument, einzelstaatliche Interessen und Widersprüche zum Ausdruck zu bringen und damit ggf. einheitliche Aktionen, Stellungnahmen und Prozesse zu blockieren oder gar zu verhindern (Beispiele lassen sich leicht finden, etwa in migrations- und klimapolitischen Fragen). Ein zumindest zeitweiliger Ausweg kann organisiert werden in dem Vorgehen einzelner Staatengruppen (hervorstechende Beispiele sind die Eurozone, der militärische Verbund PESCO – Permanent Structured Cooperation von 25 Einzelstaaten, das begrenzte Seenotrettungsabkommen zwischen Deutschland, Frankreich, Italien und Malta).
Hier lautet ein Einwand, dass solche Integrationsprozesse eben kompliziert sind und Jahrzehnte erfordern. Das ist natürlich richtig. Aber solange das Vetorecht gilt, ist es ein ernsthaftes Hindernis für einheitliches außenpolitisches Handeln und für die Schaffung einer großen und schlagkräftigen Militärmacht. Das ist die Wurzel der Schwäche der EU in der Weltpolitik. Sie kann nur unzureichend durch ökonomische Macht ausgeglichen werden. Ein qualitativer Fortschritt in der Integration der EU zu einer Weltmacht kann nur erreicht werden, wenn das Vetorecht fällt und Mehrheitsvoten im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs zugelassen werden. Wir können nicht darauf spekulieren, dass das irgendwann kommt, weil es angeblich im Interesse der herrschenden Klassen in der EU liege. Wir können nur feststellen, was ist.
Es ist auch nicht vorauszusehen, was in einer großen – ökonomischen oder sonstigen – Krise passieren wird. Wird die europäische Integration einen Sprung nach vorn machen? Wird der Euro – und damit ein wesentlicher Anker der Gemeinschaft – zerbrechen? Werden die sozialen Widersprüche zur Auflösung der EU in Blöcke oder einzelne Staaten führen? Wird nichts von alledem passieren, sondern es geht »einfach« so weiter? Wir können es nicht sagen. Wir können nur versuchen, die jeweiligen Entwicklungen zu untersuchen und eine Position darin vom Standpunkt der Interessen der Lohnabhängigen zu bestimmen.
Die EU ist ein geschichtlich junger Verband von Nationalstaaten, die teilweise Jahrhunderte alt sind, teils erst in der Auflösung früherer Universalreiche wie Österreich-Ungarn, russisches Zarenreich, Osmanisches Reich, später im Untergang der Sowjetunion und Jugoslawiens ihre »Souveränität« erreicht haben. Sie haben ihre jeweiligen Traditionen und Gründe, daran festzuhalten. Das zu überwinden, ist schwer und vom heutigen Stand völlig offen. Auch die weitgespannten sozialen Unterschiede kommen dazu. Die Nordstaaten der EU sind im allgemeinen wirtschaftlich mächtig und von daher an weiteren Integrationsschritten interessiert. Allerdings sind diese Interessen selektiv, bezogen auf die Bereiche und Methoden weiterer Vergemeinschaftung, und davon geprägt, dass sie ihre Vorherrschaft innereuropäisch weiter stärken und nach außen wirksamer werden lassen wollen. Die ökonomisch schwächeren südeuropäischen Staaten sehen das natürlich mit Misstrauen, Griechenland und Portugal, auch Italien und Spanien können ein Lied davon singen. Die osteuropäischen Staaten betrachten die EU etwa wie die NATO: als Schutz vor Russland. Im übrigen möchten gerade sie sich nicht von Brüssel – und schon gar nicht von Berlin – in ihre neu gewonnene »Souveränität« – und sei es auch nur, um den Schein zu wahren – reinreden lassen.
All das sind Gegentendenzen zur Tendenz einer Fortsetzung der europäischen Integration. Was sich durchsetzt, kann nur die Wirklichkeit ergeben.
Vergleich mit USA, Russland, China
Demgegenüber stehen die USA, Russland und China ganz anders da. Sie verfügen über Zentralregierungen und entsprechend gefestigte Traditionen, die in ihrer jeweiligen, durchaus wechselvollen Geschichte frühzeitig auftauchten. Obwohl gerade auch in diesen riesigen Flächenstaaten jeweils große Regionen mit eigenständigen Entwicklungen, Kulturen, politischen Verhältnissen existieren, gab es immer eine Klammer, die das Ganze zusammenhielt bzw. bei vorübergehender Desorganisation (China – Zeiten der streitenden Reiche und der »Warlords« der Republik, Russland – Invasoren von den Mongolen über Napoleon bis Hitler, USA – der Sezessionskrieg) wieder zusammenführte.
Die USA entstanden als überschaubare Vereinigung von 13 britischen Kolonien. Sie führten 1776 den Unabhängigkeitskrieg (auch als bürgerliche Revolution gegen die Krone), der sie zur Unterordnung unter ein militärisches Kommando zwang. Sie gründeten 1783 einen losen Staatenbund (mit Vetorecht für alle 13 Mitglieder). Aber schon 1789 ersetzten sie ihn durch die heute noch gültige Verfassung mit klaren Zuständigkeiten und einheitlichem Auftreten durch die Bundesorgane in Washington. Die Gebiete, die sie in der Ausbreitung nach Westen dann gewannen, konnten sie auf dieser gefestigten Basis eingliedern, bevor sie ein zu starkes Eigenleben entwickelten. Bekanntlich beruht der amerikanische Staat auf dem Völkermord an der Urbevölkerung.
Ein Beispiel für die Integration bisher selbständiger 25 Einzelstaaten in Europa ist die Gründung des Deutschen Reiches 1871. In dieser Geschichte kann man viele Parallelen zur Bildung und Organisation der EU finden, aber auch klare Unterschiede, die wiederum deutlich machen, wo Schwierigkeiten der EU liegen. Die deutsche Einigung gelang, weil 1. sie einen geografisch überschaubaren Rahmen mit einer Sprach- und Kulturgemeinschaft umfasste, 2. der Boden ökonomisch durch den 1834 von Preußen gegründeten Deutschen Zollverein schon bereitet war und 3. nach der Ausschaltung Österreichs Preußen ökonomisch, militärisch, bevölkerungsmäßig und territorial doppelt so stark war wie alle übrigen 24 Bundesstaaten zusammen. Das bereits bestehende Machtzentrum in Berlin musste nur durch Überhöhung des preußischen Königs zum deutschen Kaiser, Bildung des Bundesrates als Vertretung der Einzelstaaten, Wahl des deutschen Reichstags und weitere ähnliche Maßnahmen ergänzt werden. Dabei zielte die Reichsgründung für viele ihrer Befürworter gerade aus dem ökonomischen Interesse auch auf die weitere Bildung einer mindestens Mitteleuropa umfassenden Zoll- und Wirtschaftsunion ab. Der Griff zur europäischen Vormacht, dann Weltmacht ging allerdings schief.
Was der Vergleich ausdrücken soll, ist dies: Der EU in ihrer weiträumigen Dimension fehlt ein vergleichbares Machtzentrum, wie es der preußische Staat im deutschen Einigungsprozess darstellte. Die ökonomische Stellung Deutschlands in der Welt oder die Mandate Frankreichs und Großbritanniens im UN-Sicherheitsrat und ihre Atomwaffen können das nicht ersetzen.
Geschichte ist offen
Geschichte ist grundsätzlich ein offener Prozess. Zwar ist es für die marxistische Analyse immer notwendig, herrschende Tendenzen festzustellen und diese zu bewerten, um sich im Interesse der Arbeiterklasse dazu positionieren zu können. Aber in einer verwickelten Thematik wie der EU sind immer viele unterschiedlich mächtige und einander gegenläufige Tendenzen festzustellen. Wenn also gesagt werden kann, dass die EU-Staaten gegenüber weltpolitischen Akteuren wie USA, China und Russland ökonomisch, politisch und militärisch keine Alternative haben als ihre Integration zu einem aktiven Bundesstaat weiterzutreiben, ist das eine richtige und wichtige Feststellung. Sie kann aber nicht als Prognose gelten, dass sie sich unvermeidlich durchsetzen wird.
Geschichte ist umkehrbar. Wir haben das am Beispiel der Sowjetunion erlebt. Wie viele politisch kundige und aktive Menschen hätten noch in den achtziger Jahren ihren Zerfall vorausgeahnt? Frühe WarnerInnen gab es natürlich, einer davon war Thalheimer. Wenn es der Arbeiterklasse nicht gelinge, ihre »Atomisierung« zu überwinden und sich die sozialistischen Grundlagen, die sie in schweren Kämpfen aufgebaut hatte, gegen die Widerstände der Bürokratie erneut anzueignen, sei die Rückkehr zum Kapitalismus in Russland nicht mehr auszuschließen (1). Er war damit aber nur einer der wenigen »Rufer in der Wüste«.
Selbstverständlich ist auch die EU nicht in Stein gemeißelt
Die Vorstellung, dass die herrschenden Klassen in Europa zur europäischen Integration keine Alternative hätten und diese also bis zu ihrem angeblich logischen Ende zwangsläufig fortgesetzt werde, erinnert in ihrer Abstraktheit an eine Wiedereinführung des Hegelschen Weltgeistes in die Analyse. Wir müssen natürlich darauf bestehen, die Analyse vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Großenteils handelt es sich hier um grundsätzliche Überlegungen. Sie liefern aber einen praktischen Erkenntniswert: Die EU in ihrer labilen Konstruktion und in der vor uns liegenden ökonomischen, ökologischen und politischen Krisendynamik wird weiterhin hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt sein. Darauf müssen wir uns einstellen.
Die Erwartungen an die EU sind unterschiedlich. Für die Kapitalisten ist sie ein großer Binnenmarkt mit seinen Vorteilen der Vereinheitlichung der Normen, Vereinfachung der grenzüberschreitenden Bürokratie, Senkung der Produktionskosten und Ausweitung der Produktmassen. Für die Regierenden der Mitgliedstaaten ist sie ein Instrument zur Verstärkung ihres Gewichts in der Weltpolitik – mit den hier beschriebenen Möglichkeiten und Einschränkungen. Für die Lohnabhängigen ergeben sich Fragen der Angleichung von Lebens-, Arbeits- und Kampfbedingungen: Demokratisierung der EU-Institutionen, europaweite Zusammenarbeit der Gewerkschaften, z. B. durch Aufstellen vergleichbarer Mindestforderungen in Tarif- und Sozialpolitik, Schaffung einer politischen Interessenvertretung. Solche Punkte grob benennen ist noch keine Strategie (sie kann unter gegebenen Umständen in diesem Artikel nicht geleistet werden). Ansätze dafür können nur in Bedingungen gefunden werden, wenn sie herangereift sind.
F/HU, 3. 11. 2019
1 „Die Umkehrung kann nur erfolgen, wenn die atomisierten Arbeiter ein selbstbestimmtes und kollektiv handelndes Ganzes werden im Widerstand und Kampf gegen die allmächtige Staatsmaschine (in der Sowjetunion, F/HU). … Eine Lösung des Widerspruchs ist auch der Untergang dieses ersten Versuches, in großem Maßstab, den Horizont der kapitalistischen Gesellschaft zu überschreiten.“ (Thalheimer, Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst. Ein Versuch, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben; hier zitiert nach München 2008, hrsg. von H. Jestrabek, S. 52 f.)
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