Die Lage in Frankreich bleibt explosiv

Korrespondenz

Streiks in Krankenhäusern, Wut im Bildungsbereich und bei der Feuerwehr, spontane Arbeitsniederlegungen bei der französischen Bahn:

Ein Zug entgleist

Am Mittwoch, den 16. November, stieß ein Regionalzug TER auf einem Bahnübergang in Saint-Pierre-sur-Vence im Departement Ardennen nahe der belgischen Grenze mit einem LKW zusammen. Der Zug entgleiste und die Verbindung zur Leitstelle war unterbrochen. Der Zugführer musste, den Vorschriften gemäß, mit einer Signallampe 1.500 Meter am Bahndamm entlang laufen, um einen Folgeunfall zu verhindern, obwohl er Quetschungen am Bein hatte. Es war kein Zugbegleiter an Bord, so dass sich niemand um die 70 Fahrgäste kümmern konnte, von denen 11 ebenfalls verletzt waren, darunter schwangere Frauen, die unter Schock standen. Der Vorfall wurde unter den Beschäftigten der SNCF bekannt und zwei Tage später nahmen etliche Zugführer ihr »droit de retrait«, ein im Code du Travail verbrieftes Recht in Anspruch: Das Recht, die Arbeit zu verweigern, wenn Personal oder Fahrgästen eine schwere und unmittelbare Gefahr droht. War keine Zugbegleitung an Bord, weigerten sich die Lokführer, die Arbeit aufzunehmen. Diese in der Geschichte der SNCF bisher einmalige Aktion führte zu erheblichen Zugausfällen am ersten Wochenende der französischen Herbstferien. Nach Angaben der Regierung fuhren in Frankreich nur 25% der Regionalzüge. Der Verkehr im Großraum Paris war ebenfalls beeinträchtigt, ebenso einige TGV. (1) In den Regionen Okzitanien und Provence-Alpes-Côte d’Azur fuhr kein einziger TER. Die Regierung behauptete, es handele sich um einen wilden Streik und übte Druck auf die Direktion der SNCF aus, um jeden einzelnen Zugführer arbeitsrechtlich zu belangen. Dazu wird es nicht kommen.

Während die Arbeitsverweigerung der Zugführer abebbte, kam es am Montag, dem 21. Oktober, zu einer weiteren spontanen Arbeitsniederlegung: Im Wartungszentrum für die TGV der Atlantik-Linien (Bretagne, Westen und Südwesten) in Châtillon im Departement Hauts-de- Seine nahe Paris. Von 700 Beschäftigten des »technicentre SNCF« streikten 200, was zum Ausfall von 70% der TGVs auf den Atlantik-Linien führte. Auslöser war die Ankündigung der Direktion, 12 Ruhetage zu streichen. Schon am Mittwoch nahm die Direktion die angekündigten Maßnahmen zurück. Der Streik drohte sich dennoch auf andere Wartungszentren auszuweiten. Gefordert wird der Verzicht auf Sanktionen gegen die Streikenden, die Bezahlung der Streiktage, eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, ein Ende mit der unaufhörlichen Ausdehnung der Arbeitszeit, mit den mangelhaften Arbeitsmitteln. »Wir schämen uns, mit anzusehen, wie die SNCF für Fragen der Flexibilität und Rentabilität mit der Sicherheit und dem Komfort der Fahrgäste spielt« schrieben die Streikenden im Betrieb in Châtillon.(2)

Explosive Mischung

Die explosive Stimmung bei den Beschäftigten der SNCF ist auch der Direktion nicht verborgen geblieben. Der 1. Januar 2020, der das Ende des Statuts für die dann neu Eingestellten bringt, die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft und die Öffnung für die Konkurrenz, macht allen Angst, so Bruno Poncet, Sprecher von Sud-Rail.(3) Neben der allgemeinen Verschlechterung der Lage der Lohnabhängigen in Frankreich, etwa durch die Verschärfung der Arbeitslosenunterstützung sehen sich die Beschäftigten kampfstarker Betriebe wie der Électricité de France (edf), des Pariser Nahverkehr, der RATP, oder der SNCF einem verschärften Angriff auf ihre spezifischen Rentenregelungen ausgesetzt.

Wie in allen unter »Reorganisation« leidenden Unternehmen gibt es auch bei der SNCF einen hektischen Rhythmus des Wechsels von Aufgaben, Arbeitsorganisation und -zuweisung. Seit der Reform von 2018 agiert die Direktion brutal, ohne Absprachen oder Erklärungen mit den Gewerkschaften oder den Gebietskörperschaften: Schließung von Bahnhöfen und Streichung von Strecken oder Direktverbindungen wie Paris-Lille, die von einem Tag auf den anderen gestrichen wurde, Wegfall sämtlicher Schalter im Großraum Paris und Ersatz durch eine Internet-Seite, kein Personal am Bahnsteig bei der Abfahrt der Züge oder eben die Streichung der Zugbegleiter.

Es war offenbar Teil des Deals zwischen Regierung und SNCF, dass die Übernahme von 35 Milliarden Euro Schulden der SNCF mit einem positiven Cash-Flow ab 2024 bezahlt werden soll. Wir erinnern uns an die Vorbereitungen für den Börsengang bei der Deutschen Bahn, die im Dezember 1993 von Bundestag und Bundesrat beschlossen wurde, und die Auswirkungen bis heute: Ein Unternehmen am Rand des Kollapses. Der angeblichen Rentabilität wurden bei der SNCF in weniger als 20 Jahren 65.000 von 220.000 Beschäftigten geopfert, seit 2008 mehr als 2.000, Jahr für Jahr. Um in 2024 Gewinne zu erzielen, reicht all das nicht aus. Von der Basis werden drastische Einsparungen gefordert, die sich die Spitze des Unternehmens natürlich nicht auferlegt. Wer erinnert sich noch an Bahn-Chef Mehdorns Gehalt für das Jahr 2006?(4)

Angst, Depressionen, Suizid: Die schöne neue Welt der Arbeit

Alle Gesprächspartner bei der SNCF nannten als Referenz die Ereignisse bei der France Télécom während der Umstrukturierung unter Thierry Breton von 2002 bis 2005, so Martine Orange.(5) Bei der Brutalsanierung und Privatisierung kam es zu einer Selbstmordwelle, die bis heute ein juristisches Nachspiel hat. Thierry Breton ist genau jener Mann, den Macron wegen seiner Tatkraft gerade als EU- Kommissar vorgeschlagen hat. Im letzten Jahr wurden unter den SNCF-Beschäftigten 50 Selbstmorde gezählt.(6) Die Kolleg*innen erzählen von Sinnverlust, vom Verschwinden ihrer Welt, in der Regeln strikt eingehalten wurden, die heute als Nebensächlichkeiten gelten. »Die Pünktlichkeit der Züge war der kategorische Imperativ, heute ist sie nur noch relativ. Der Service für die Fahrgäste, die Versorgung der Fläche: weggefegt im Namen der Konkurrenz. Viele wissen nicht mehr, wofür sie arbeiten.« Die Ingenieure der SNCF beispielsweise waren früher die Kapazitäten für alle Belange der Bahn in Frankreich. Heute werden die Studien an »private Experten« ausgelagert. Die Ingenieure der SNCF dürfen nur noch externe Studien kontrollieren, die schlechter gemacht und teurer sind als das, was sie selber können. Als Dreingabe für den Sinnverlust ihrer Arbeit werden die Beschäftigten noch vom Neusprech der Direktion genervt, Worte die ihre Stupidität und Armut hinter einer modern wirkenden Fassade verbergen: »vernetzt«, »Mobilität«, »Internet«, »Anschlüsse«.

Bérenger Cernon, Generalsekretär der CGT am Bahnhof Gare de Lyon in Paris, erzählt, dass er Kollegen beobachtet, die versuchen den Mangel dadurch auszugleichen, dass sie manchmal zwei oder drei Aufgaben übernehmen, damit der Betrieb läuft, und die schließlich zusammenbrechen. »Und dafür werden wir als privilegierte Nichtstuer beschimpft«, empört er sich.(7) Tatsächlich läuft seit der Ankündigung der »Reform« der SNCF eine Medienkampagne gegen die »Cheminots«, die Bahnerinnen und Bahner in Frankreich, um sie der Öffentlichkeit als »Wohlhabende« oder »Nichtstuer« zu diffamieren. Regierung und Mainstream-Medien brauchen Sündenböcke um Neid auf die Errungenschaften der Beschäftigten zu wecken, die ihnen nicht geschenkt wurden, sondern hart erkämpft werden mussten. Selbst nach dem Unfall in Saint-Pierre-sur-Vencein wurde dem verletzten Zugführer von Guillaume Pepy, bis Ende diesen Jahres Präsident der SNCF, nicht gedankt. Stattdessen wurde mit Sanktionen gedroht. Die Wut über all diese Beleidigungen bricht sich manchmal in gemeinsamen und solidarischen Aktionen Bahn.

Die Demütigung der Gewerkschaften

Der französische Historiker Stéphane Sirot erinnert daran, dass Ronald Reagan die Bewegung der Fluglotsen brechen musste, Margaret Thatcher den Streik der Bergarbeiter, um der Bevölkerung zu zeigen, dass der neoliberale Umbau der Gesellschaft unausweichlich sei. Macrons Gesellenstück war die öffentliche Demütigung der Cheminots und ihrer Gewerkschaften. (8) Aber das makroökonomische Umfeld ist 2019 ein anderes als das Ende der 1970iger – Anfang der 1980iger Jahre. Der damals initiierte Boom des deregulierten Finanzkapitals konnte die Verwerfungen im Vereinigten Königreich und den USA eine Weile überblenden. Nach der Krise von 2008 funktioniert das nicht mehr. Auch das hochgelobte Modell Deutschland mit seiner Exportlastigkeit beginnt an Glanz zu verlieren. Die Tristesse eines neoliberalen Frankreichs à la Macron ist nur mit Mühe zu überschminken.

Die Demütigung und Schwächung der Gewerkschaften, auch der sozialpartnerschaftlichen, am DGB orientierten, wie der CFDT, ist klar beabsichtigt. Nach der Annahme der SNCF-»Reform« wurde die Zahl der Delegierten der örtlichen Gewerkschaftsgliederungen stark reduziert, die Direktion weigerte sich zu verhandeln, weder vor, noch während oder nach einem Streik, so Laurent Brun, Generalsekretär der CGT-Cheminots. Diese Demütigung scheint eine unbeabsichtigte Spätwirkung zu entfalten. Um das Bündnis mit CFDT-cheminots und UNSA-ferroviaire nicht zu gefährden, hatte die Führung der CGT-cheminots vor dem April 2018 darauf verzichtet, zu einem unbefristeten Streik aufzurufen, so wie die kleine, aber entschlossenere SUD-rail das getan hatte. Stattdessen bestand die Taktik des Gewerkschaftsbündnisses aus einem Perlenkettenstreik mit je zwei Streiktagen, gefolgt von drei Arbeitstagen. Die mögliche Dynamik von Streikversammlungen war damit von vornherein gebrochen, die Gegenseite und die Fahrgäste konnten den Streik unterlaufen. Trotz erheblicher finanzieller Opfer der Streikenden, sie bekamen in dem drei Monate dauernden Arbeitskampf nur wenig Streikgeld von den Gewerkschaften und konnten auch die Bezahlung der Streiktage durch die SNCF nicht durchsetzen, lief die Kampagne ins Leere.

Die Probleme nach dem Streik beschreibt Roger Dillenseger, ehemals Generalsekretär und heute Berater der UNSA in Fragen der Bahn: »Die Lohnabhängigen wissen, dass sie auf die Gewerkschaften nicht mehr zählen können. In diesem Zusammenhang muss man zukünftig wilde Streiks befürchten.« Und Bérenger Cernon (9) bemerkt: »Früher war es nur für das rollende Personal und die Kontrolleure notwendig die Aufrechterhaltung des Services zu garantieren. Aber diese Verpflichtung wurden praktisch auf das gesamte Personal ausgedehnt. Das erlaubt der Direktion sich zu organisieren, die Bewegung unsichtbar werden zu lassen und ihre Wirkung zu begrenzen. Also gehen die Lohnabhängigen in einen wilden Streik und nehmen lieber Sanktionen in Kauf, als bei einem Streik mitzumachen, der zu nichts führt.« Ab dem November 2018, vier Monate nach der Niederlage der Bahner, zeigte eine andere soziale Bewegung, wie Erfolge erzielt und die Mächtigen zu Zugeständnissen gezwungen werden können. Stéphane Sirot nennt als Faktoren des Erfolgs der Gelben Westen die Mobilisierung, die unabhängig von jeder Organisation stattfand, die lange Dauer der Bewegung und ihre Fähigkeit den Entscheidungsträgern Furcht einzuflößen: »Das bedeutet nicht, dass systematisch Gewalt angewendet werden muss, aber es ist zwingend, Bedingungen für Aktionen zu finden, die den üblichen Rahmen sprengen.«(10) Das erste Mal seit 2006 waren Präsident und Regierung im Dezember 2018 gezwungen, vor einer sozialen Massenbewegung zurückzuweichen. Macron kündigte an, 17 Milliarden Euro zu mobilisieren, um die Massenkaufkraft zu fördern. Weil weiter privatisiert wird (11) und die antisozialen Reformen nur zeitlich verschoben und nicht gestoppt werden, kann Geld allein die soziale Wut nicht löschen.

Soziale Konflikte überall

An Konflikten mangelt es nicht. Die »Reform« des öffentlichen Dienstes, Ende März angekündigt, sieht den Abbau von 120.000 Stellen vor, soll den Kündigungsschutz schwächen, »leistungsgerechte Bezahlung«, Auslagerungen und Werkverträge begünstigen. Der Bildungssektor war im Frühling außerdem mit der geplanten Zusammenlegung von Vor-, Grund- und Mittelstufenschulen konfrontiert, gegen den sich lokal Widerstand organisierte. Die Reform des baccalauréat durch Bildungsminister Michel Blanquer führte zu einem Notenstreik Ende Juni, Anfang Juli: Etwa tausend Korrektor*innen hatten sich geweigert, die Prüfungsergebnisse ans Bildungsministerium weiterzuleiten. Dadurch musste bei ca. 10% des Jahrgangs »improvisiert« werden, also wurden Jahresnoten herangezogen oder es wurde schlicht geraten, oft zugunsten der Prüflinge. Eine Störung des baccalauréats hatte es zuletzt 1968 gegeben, das Ministerium reagierte mit Repressionen. Die Streikenden wurden wie Held*innen gefeiert.(12)

Wegen Unterbesetzung und zunehmenden Anfeindungen demonstrierten am 15. Oktober wütende Feuerwehrleute in Paris vom Platz der Republik zum Platz der Nation. Es kam zu Verkehrsblockaden, dann zu Zusammenstößen mit der Polizei und zum Einsatz von Wasserwerfern gegen die Feuerwehrleute. Steine flogen. Am Ende des Tages waren drei Polizisten verletzt, sechs Demonstranten wurden festgenommen. (13)

Die Bewegung im Gesundheitssystem, die im März von Streiks in Notaufnahmen in Paris ausging und sich rasch über das ganze Land verbreitete, wird nicht schwächer, sondern weitet sich immer weiter aus. Gesundheitsministerin Agnès Buzyn hatte im Juni 70 Millionen zusätzlicher Mittel versprochen, die Bewegung ging weiter. Im September sagte sie 754 Millionen für die Periode von 2019 bis 2022 zu, die Bewegung weitete sich auf den gesamten öffentlichen Krankenhausbereich und die medizinischen Universitätseinrichtungen aus. Ärzt*innen der Pariser Krankenhäuser AP-HP traten in einen Codierungsstreik, grève du codage, indem sie sich weigerten, über das Codierungssystem T2A die Behandlungsdaten an die Krankenkassen zu übermitteln.

Am 13. November veröffentlichten 70 Direktoren medizinischer Universitätseinrichtungen einen Alarmbrief, in dem sie vor dem Zusammenbruch des öffentlichen Gesundheitssystems warnten. Sie nennen hunderte stillgelegter Betten, zig stillgelegte Operationssäle, jede Woche kommen weitere dazu. Die Wartezeiten für die Patient*innen seien nicht mehr zu verantworten, von den Beschäftigten seien 49% einem Burn-out-Risiko ausgesetzt. All dies führe zu einem Punkt, an dem das System irreversibel kollabieren werde. Die dahinter stehende Logik: »Die jährliche Minderung des finanziellen Wertes der Krankenhausaufenthalte hat dazu gezwungen, ständig mehr Aufenthalte zu ,produzieren‘ und ihre Dauer zu verkürzen. Die Lage wurde durch die aufeinander folgenden jährlichen Effizienzpläne verschlimmert, mit der zunehmenden Reduzierung des medizinischen Personals der Abteilungen um die Budgetziele jeden Krankenhauses zu erreichen. (…) Außer den Notstandsmaßnahmen ruft das Ärztekollektiv zu einer kompletten Neugestaltung der Krankenhausfinanzierung und der Stellung des Krankenhauses in unserem Gesundheitssystem auf.« (14)

Am 14. November gab es in ganz Frankreich Demonstrationen von tausenden Pflegehelfer*innen, Krankenschwestern und -pflegern, Ärzt*innen, Dozent*innen und Medizinstudent*innen, die Präsident Macron die Zusage eines Notstandsplans mit »starken Entscheidungen« abtrotzen konnten. Während die Zustimmung zu den Aktionen der Gelbwesten im Oktober auf 47% gefallen ist, stehen um die 90% der Bevölkerung hinter den Aktionen der Feuerwehrleute und der Beschäftigten von Notaufnahmen und Krankenhäuser.(15)

Jour J (Tag X): Donnerstag, der 5. Dezember 2019

Was Präsident, Regierung und Bourgeoisie am meisten fürchten, ist das Zusammenlaufen der verschiedenen Kämpfe. Die Regierung hat erneut die Bahner*innen als bevorzugtes Ziel auserkoren, um die öffentliche Meinung gegen sie auszuspielen, damit die Bevölkerung die »Rentenreform« schluckt, so Martine Orange in ihrem Artikel in Mediapart: »,Wir müssen vor dem 5. Dezember ein Maximum an Themen entminen, gangbare Wege mit so vielen Berufsgruppen wie möglich finden, damit nur die SNCF und die RATP am Tag X mobilisieren, und es nicht zu einer Zusammenballung zwischen den 42 Gruppen mit spezifischem Rentensystem kommt‘, erzählte ein Mitglied der Regierung Le Monde, um deren Strategie der Sündenböcke zu erklären.« (16)

Einen Vorgeschmack auf den 5. Dezember, den Tag der gewerkschaftlichen Massenmobilisierung gegen die »Rentenreform«, gaben die Beschäftigten des Pariser Nahverkehrs, der RATP, am Freitag, den 13. September. Aufgerufen von den Gewerkschaften UNSA, CGT und CFE-CGC (17) wurde der Verkehr in Paris erheblich gestört, etliche Metro-Linien fuhren überhaupt nicht mehr. Die Beschäftigten würden nach der geplanten Rente »nach Punkten« nach jetzigem Stand 30% ihrer Rentenansprüche verlieren. Bereits Ende September hatten fünf Gewerkschaften der RATP zu einem unbefristeten Streik ab dem 5. Dezember, also zu einer politischen Machtprobe mit der Regierung aufgerufen: UNSA, CFE-CGC, SUD, FO und Solidaires. Die CGT-RATP zog am 21. Oktober nach.

Und auch die Beschäftigten der SNCF haben die Schnauze voll davon, als Sündenbock und Punching-Ball in der öffentlichen Meinung herhalten zu müssen. Sie haben für den 5. Dezember noch etliche Rechnungen mit der Direktion und der Regierung offen. Auf mittlere Sicht stellt sich nicht nur für die Beschäftigten in Frankreich die Frage, ob sie den in der Krise der Kapitalakkumulation immer stärker werdenden Druck, die Aggression und die Angst weiter nach innen, gegen sich selber, richten wollen, oder damit beginnen, das Problem an seiner Wurzel zu packen.

G.B., 18.11.2019

 


Tod einer Vorschuldirektorin

Am 21. September 2019 hat sich Christine Renon, Direktorin einer école maternelle (Vorschule) an ihrem Arbeitsplatz in Patin in Seine-Saint-Denis umgebracht. Die 58-jährige, die am Montagmorgen, vor dem Einlass der Kinder,erhängt in der großen Halle dieser Vorschule gefunden wurde, schrieb: „Heute, Samstag, bin ich in einem Zustand grauenvoller Müdigkeit erwacht, erschöpft nach nur drei Wochen seit dem Ende der Sommerferien.“

In der Sendung „être et savoir“, „Sein und Wissen“, am folgenden Sonntag wurde der Soziologe Vincent de Gauléjac, Experte für Leiden und Unwohlsein durch Arbeit,interviewt: „Dieses Drama illustriert das Leiden, das viele Beschäftigte öffentlicher Institutionen erleben, sei es in der Erziehung, im Krankenhaus, bei der Polizei, bei der Sozialarbeit. […] Man tötet sich in all diesen Einrichtungen, die man ,modernisiert‘: France Télécom, die SNCF, die RATP usw. […]

In ihrem Brief spricht Christine Renon von diesen kleinen Nichtigkeiten, die 200% ihrer Zeit fressen. Ich habe das ebenfalls an der Universität festgestellt. Man hat den Eindruck, dass man mehr und mehr Zeit damit verbringen muss, um Bedingungen zu schaffen, um besser arbeiten zu können. Viele Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes haben das Gefühl, dass dies alles zu nichts führt: Zielvereinbarungen erfüllen, Dossiers ausfüllen,Prozeduren anwenden, Standards gehorchen usw. Dieser Managementansatz ist total instrumentalisierend und vereinnahmt eine Wahnsinnszeit. Am Beginn meiner Karriere als Wissenschaftler bestand meine Arbeit aus Lehre und Forschung. Am Ende meiner Karriere verbringe ich 80% meiner Zeit damit, mich um Management zu kümmern, an Stelle der Aufgaben meiner Einrichtung. Diese Gefühl wird einmütig von allen Beschäftigten geteilt, die mit diesen Reformen konfrontiert sind, sei es in den Krankenhäusern, der Bildung, der Universität. All das hat das Ergebnis, den Beschäftigten das Gefühl zu geben, dass der größte Teil ihrer Zeit nicht für die Erfüllung der Aufgaben ihrer Einrichtungen dient, sondern nur die Verwaltungsmaschine und die Leitungsanforderungen füttert.“

Paradoxerweise, so Gauléjac, wird von den Beschäftigten „bienveillance“ verlangt, also Wohlwollen, Gefälligkeit und Achtsamkeit gegenüber den ihnen Anvertrauten. Weil aber die objektiven zeitlichen und personellen Mittel dafür fehlen, haben die Beschäftigten das Gefühl, verrückt zu werden, dieses Gefühl macht sie krank. Die Verfasser der neuen Vorgaben hätten den Kontakt zur realen Arbeit komplett verloren: „Der Brief von Christine Renon ist großartig, weil sie sich bei allen bedankt, die essentiell für die Einrichtung sind: Die Eltern, die Schüler, die Lehrer. Sie drückt in dem Brief ihre Liebe zu ihrem Beruf aus, und die Tatsache, dass sie sich ,komplett erledigt‘ fühlt, weil sie ihn nicht mehr ordentlich ausfüllen kann.“


 

1 Éric Béziat in Le Monde, 18.10.2019
2 Martine Orange in Mediapart, 31.10.2019. Um die SNCF-Reform fürs Personal schmackhafter erscheinen zu lassen, waren Karrierechancen durch größere Mobilität versprochen worden. Jetzt entdecken die Beschäftigten, „dass die SNCF in fünf Aktiengesellschaften umgewandelt wird und dass sie nicht von da weg können, wo sie angegliedert sind.“ so Bruno Poncet, Sprecher von Sud-rail
3 ebda.
4 3,18 Millionen Euro, so der Spiegel am 28.03.2007. Das macht bei 46 Arbeitswochen und 40 Stunden pro Woche einen Stundenlohn von 1.728,26 Euro. In diesen Dingen gilt es, genau zu sein.
5 Mediapart, 31.10.2019
6 Zu den Selbstmorden bei der SNCF siehe die Studie von Mathilde Goanec.
7 Mediapart, 31.10.2019
8 Mediapart, 01.11.2019. Interview: Mathilde Goanec
9 Generalsekretär der CGT am Gare de Lyon in Paris. Mediapart, 31.10.2019
10 Mediapart, 1.11.2019
11 So die Flughäfen von Paris (ADP) oder die nationale Lottogesellschaft Française des jeux (FDJ), beides äußerst gewinnbringende Unternehmen
12 Süddeutsche Zeitung, 9.7.2019
13 Le Parisien, 15.10.2019
14 Directeurs médicaux des départements médico-universitaires. Le Monde, 13.11.2019
15 Umfrage von Elabe für BMFTV, aus: Nice Matin, 3.10.2019. Gegen die Gelben Westen sprechen sich 41% aus, 12% sind unentschieden. Die Gewaltbilder des black-bloc, die in den Medien immer mit den Gelben Westen assoziiert werden, haben der Bewegung sicherlich nicht geholfen.
16 Mediapart, 31.10.2019
17 Bei den Berufswahlen der RATP 2018 kamen UNSA und CGT auf je 30%, die Gewerkschaft der leitenden Angestellten CFE-CGC auf über 10%


aus: Arbeiterpolitik Nr. 3/4 2019

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