Die nationalen Kapitale im Überlebenskampf
Die beginnende kapitalistische Krise wird durch die Corona-Pandemie vertieft

Seit die Corona-Pandemie auch die westlichen Industrieländer erfasst und zu drastischen Einschränkungen geführt hat, zeichnet sich ein Wirtschaftsrückgang historischen Ausmaßes ab. Es wäre allerdings falsch zu glauben, dass dieser Rückgang alleine auf die Ausbreitung des Corona-Virus zurückzuführen sei. Wie Winfried Wolf (Lunapark 21 49/2020) nachweist, begann das Einsetzen der zyklischen kapitalistischen Überproduktionskrise bereits im Herbst 2019. Wolf führt dazu den Rückgang der Weltindustrieproduktion, insbesondere der Automobilproduktion, an. Er bezeichnet die Corona-Pandemie als einen Beschleuniger, der im Zeitraffertempo eine sich entwickelnde zyklischen Krise zu einer großen Krise zu machen drohe.

Wie wir wissen, gab es die letzte große Wirtschaftskrise, die sogenannte „Finanzkrise“, 2008/09. Wir haben in der „Arbeiterpolitik“ (Nr. 1/2 2015) über die Bewältigung dieser Krise geschrieben:

Die Weltwirtschaftskrise nach 2008 wurde bislang dadurch »überwunden«, dass die Staaten und die Zentralbanken durch eine enorme Aufblähung der Schulden und durch eine Schwemme neuen Geldes die Vernichtung großer Teile des Banken- und industriellen Kapitals und damit die Auslösung einer katastrophalen weltweiten Depression verhinderten. Die zu Grunde liegenden Probleme – gewaltige industrielle Kapazitäten einerseits, beschränkte Konsumtionsfähigkeit andererseits –, die sich immer mehr angehäuft hatten, blieben dadurch aber bestehen.

Damals hatten alle Staaten versucht die Konsequenzen der kapitalistischen Krise: nämlich eine gewaltige Vernichtung von Kapital, d.h. von Produktionsanlagen und Geldkapital, mit dem damit einher gehenden Massenelend zu verhindern, indem sie ihre Kapitale stützten („Bankenrettung“, Konjunkturpakete, vorübergehende Verstaatlichungen). Da die Kapitalvernichtung nicht erfolgte, steht sie immer noch aus; sie muss kommen in noch größerem Ausmaß als 2008/09, da die Kapazitäten seither erweitert wurden und die Kapitale gewachsen sind. Bei jeder kleineren Zwischenkrise, z.B. bei der Eurokrise 2015, war zu beobachten, wie die betroffenen Kapitalfraktionen versuchten, den Schwarzen Peter weiter zu schieben. US-Kommentatoren forderten z.B. einen Schuldenschnitt für Griechenland, wohl wissend, dass hauptsächlich französisches und deutsches Bankenkapital betroffen gewesen wäre. Umgekehrt trieben die Gläubiger Griechenlands über die Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF Griechenland ins Elend um ihre Kredite zu retten. Ebenso kennt das US-Kapital keine Gnade, wenn es z.B. um Argentiniens Schulden geht.

(Karl Marx bezeichnete die zyklischen Krisen als die „Lösung“ innerhalb des Systems zur Bereinigung der regelmäßig entstehenden Überakkumulation und Überproduktion. Die „Lösung“ besteht in der Vernichtung von Kapital. Natürlich ist es keine Lösung im Sinne der Beschäftigten und der Arbeitslosen, auf die die Kosten der Krise abgewälzt werden. Und „Überproduktion“ heißt nicht, dass Armut und Elend beseitigt wären und alle im Überfluss lebten. Sondern es werden zu viele Waren produziert, die keine Käufer mehr finden.)

Motto: Wer zuerst reagiert, verliert.

Der Verlauf der bisherigen Pandemie und ihrer Bekämpfung folgt ziemlich exakt diesem Konkurrenz-Muster. Als in China das Virus im Dezember 2019 entdeckt wurde, versuchten die dortigen Behörden zunächst alles um die Meldungen zu unterdrücken und keine einschränkenden Maßnahmen für die eigene Wirtschaft ergreifen zu müssen. Die erfolgten erst Mitte Januar, als sich das Virus rasant ausbreitete. Eine Provinz wurde komplett abgeriegelt und im übrigen Land die Produktion und das öffentliche Leben drastisch eingeschränkt. Von Hilfsangeboten aus westlichen Ländern war nichts zu hören, im Gegenteil: Hämische Kommentare über Chinas hausgemachtes Problem und dessen „autoritäre Maßnahmen“ beherrschten die Medien. Sie rechneten offensichtlich einen Konkurrenzvorteil aus. Als das Virus Europa erreichte und sich zunächst vor allem in Norditalien ausbreitete, war die Reaktion der Verantwortlichen: keine. Weder kam man in Italien oder der EU auf die Idee, Norditalien abzuriegeln, noch erklärten sich andere EU-Länder bereit im Falle einer Abriegelung Norditalien zu helfen. In Deutschland erklärte Gesundheitsminister Spahn (CDU) am 29.Januar nach der ersten Infektion in Deutschland: „Für übertriebene Sorge gibt es keinen Grund“. („Welt“, 29.1.20)

Dabei wurde z.B. in Deutschland das Ausbreiten eines Corona-ähnlichen Virus bereits 2007 in einer Krisengruppe auf Regierungsebene durchgespielt und daraufhin ein Krisenstab eingerichtet. In einer Bundestagsdrucksache (Drucksache 17/12051 17. Wahlperiode; 03. 01. 2013) wurde das angenommene Szenario ausführlich dokumentiert. Es weist geradezu gespenstische Ähnlichkeit zum jetzigen Verlauf auf. Deutschland war vermutlich nicht das einzige Land, das solche Szenarien durchspielte. Auch der Film „Contagion“ („Ansteckung“) aus dem Jahre 2011 ist sehr genau in seiner Ablaufbeschreibung. Auffällig ist, dass in dem Bundestagsdrucksache-Szenario nie von einer Abschottung wie dieses Jahr in China die Rede ist. In der Regierung ging man immer von einer unvermeidlichen Infektion der gesamten Bevölkerung aus, die man nur verlangsamen könne.

Die Regierenden wussten also Bescheid. Deshalb sagen jetzt viele Kommentatoren, die Regierung habe geschlafen. Oder es gebe so viele Bundestagsdrucksachen, da wisse eh keiner, was drin stehe. Das ist allerdings ziemlich blauäugig. Richtiger ist sicher anzunehmen, man wusste Bescheid oder wollte nicht Bescheid wissen, wollte aber nichts Ähnliches wie China unternehmen, um den Konkurrenzvorteil eines späteren Reagierens nicht zu verlieren, nach dem Motto: Wer zuerst reagiert, verliert. Am deutlichsten machte das US-Präsident Trump mit seinem Konkurrenzinstinkt und dem Riecher für „America first“. Er spottete am längsten über das „China-Virus“ und die „europäische Krankheit“. Und er drängt am heftigsten auf Aufhebung der Beschränkungen, um die eigene Industrie nicht zu gefährden.

Es kann durchaus sein, dass sich das lange Warten im Konkurrenzkampf noch rächt. China, Südkorea und Taiwan mit ihren drakonischen Maßnahmen scheinen Ende März die Ausbreitung des Virus weitgehend gestoppt zu haben. Sie heben die Beschränkungen der Produktion schon wieder auf, während in den westlichen Industrieländern sich das Virus weiter ausbreitet. „Krisengewinnler China?“ fragt ganz besorgt deshalb am 30.3. auch schon die FAZ auf S. 1.

Rette sich, wer kann.

Da es sich nicht nur um eine Pandemie handelt, sondern gleichzeitig um eine zyklische Wirtschaftskrise, geht es jetzt eben nicht nur darum, möglichst viele Menschenleben sondern das eigene Kapital – und damit verbunden: die kapitalistische Profitwirtschaft überhaupt – zu retten.

Das heißt, jeder Staat versucht, seinem eigenen Kapital unter die Arme zu greifen. Das ist der wesentliche Inhalt der gewaltigen Rettungspakete, die jetzt von den Regierungen allenthalben geschnürt werden. Das ist auch in der EU so. Theoretisch könnte sie jetzt als Block agieren und ein gemeinsames Rettungspaket zusammenstellen, das allen Staaten zugutekommt. Aber zuvörderst die deutsche Bundesregierung stemmt sich dagegen. Dagegen gilt: Jeder ist sich selbst der nächste, verabschiedet Rettungspakete für die eigene Wirtschaft, macht die Grenzen nach Belieben dicht und verfolgt seine nationalen Eigeninteressen. Faktisch existiert die EU nur noch als Grenzregime gegen Flüchtlinge.

Manche sagen, das Ganze diene vor allem den großen Konzernen, die die Corona-Krise nutzten, um ein gewaltiges Umverteilungsprogramm zu ihren Gunsten ins Werk zu setzen und vor allem den Mittelstand zu enteignen. Ein solches Denken unterschätzt die Dimension und Wucht einer kapitalistischen Weltwirtschaftskrise. In ihr beginnt alles zu schwanken und es gibt auch für die Großen keinen sicheren Boden. Es ist wie mit einem gewaltigen Sturm auf dem Meer: Alle Schiffe kämpfen gegen die Wogen, wahrscheinlich verschlingt der Sturm eher die kleinen, aber auch einige große werden daran glauben müssen. Die Regierungen werfen ihnen in ihrer Panik Rettungsringe zu in der Hoffnung, dass sie nicht untergehen.

Je länger die Pandemie andauert, desto mehr wird die Rettung des Standortes in den Vordergrund rücken.

HH


aus Arbeiterpolitik Nr. 1/2 2020

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