Der hier publizierte Artikel wurde Ende Februar abgeschlossen und gibt den Stand der Auseinandersetzungen zu diesem Zeitpunkt wieder. Wie überall hat das Coronavirus die Verhältnisse komplett über den Haufen geworfen. In aller Kürze lässt sich folgendes anmerken:
Wegen fehlender Streiks in der Privatwirtschaft fehlte der längsten sozialen Bewegung seit 1920 die nötige Durchsetzungsfähigkeit, um die Reform aus eigener Kraft zu stoppen. Andererseits war es auch kein kompletter Erfolg für Macron. Es zeigten sich bereits vor der Coronakrise Risse im eigenen Lager. Das Rahmengesetz musste in der Nationalversammlung mit Artikel 49-3 durchgesetzt werden. D.h. trotz klarer parlamentarischer Mehrheit wurde es mit der Vertrauensfrage verbunden und jede Debatte verhindert. Für das zweite notwendige Gesetz, das den Aufbau einer komplett neuen Rentenkasse regeln sollte, wäre Artikel 49-3 nicht mehr anwendbar gewesen. Wichtiger ist, dass Macron die klare Mehrheit der Bevölkerung nicht überzeugen konnte und es mit größter Wahrscheinlichkeit unzählige Scharmützel und Konflikte in allen institutionellen Ebenen der französischen Gesellschaft um diese Reform gegeben hätte. Für die Durchsetzung der Reform in der Coronakrise fehlt Macron die Kraft. Vor dem Frühjahr 2022 ist wahrscheinlich keine Initiative in dieser Richtung zu erwarten und niemand kann heute sagen, wie die Welt dann aussehen wird.
Frei nach Bertolt Brecht:
Wer kämpft,
wie die organisierten, mutigen und entschlossenen Lohnabhängigen in Frankreich,
kann verlieren.
Wer nicht kämpft,
wie die bisher noch vereinzelten, mut- und orientierungslosen Lohnabhängigen in Deutschland,
hat schon verloren.
Wie immer dieser Konflikt ausgehen wird, die Lohnabhängigen in Frankreich haben dem mittlerweile üblichen Abbau von Errungenschaften, die von unseren Großmüttern und Großvätern erkämpft wurden, bisher einen Widerstand entgegengesetzt, der härter ist als in allen anderen entwickelten Industrieländern. Immerhin ist es ihnen gelungen, die Konterreform Macrons zu bremsen, wenn auch bisher nicht, sie zu verhindern. Die Jahrgänge von 1963 bis 1974 werden nicht betroffen sein. Die Überlegung einer Rente mit 70 wagen weder Unternehmerverbände noch Präsident oder Regierung in den Mund zu nehmen.
Der längste Streik in Frankreich seit 1920[1]
Die von der französischen Regierung geplante „Reform“ der insgesamt 42 verschiedenen Rentensysteme ist die achte seit knapp 30 Jahren. Schritt für Schritt wurde das Niveau gesenkt, immer gegen den massiven Widerstand der Beschäftigten. Jetzt sollen alle bestehenden Systeme abgeschafft und durch ein Punktesystem wie in Deutschland ersetzt werden, mit dem Ziel: Länger arbeiten für weniger Geld. Die „Reform“ soll Macrons Paradestück werden, was die Schwächung der Gewerkschaften und die Aufkündigung des Klassenkompromisses angeht, der nach 1944 von der politischen Rechten und Linken im Wesentlichen respektiert wurde. Die durch die Schwächung des Umlagesystems entstehende Lücke soll durch private, kapitalmarktgestützte Produkte von Anbietern wie BlackRock gefüllt werden. Das deutsche Lohn- und Sozialdumping setzt die französische Bourgeoisie unter erheblichen Druck.
Macrons Vorlage für den Konflikt ist die erhebliche Schwächung der britischen Gewerkschaften durch Margaret Thatcher nach dem Bergarbeiterstreik von 1984/ 1985. Die Vorlage der klassenbewussten Gewerkschaften ist die Verhinderung der Renten-“Reform“ des damaligen Premierministers Alain Juppé 1995 und dessen von einer Massenbewegung erzwungener Rücktritt. Der am 5. Dezember 2019 offiziell begonnene Streik bei der Bahn SNCF und dem Pariser Nahverkehr RATP ist mit bisher 45 Streiktagen die längste Arbeitsniederlegung in Frankreich seit 1920. Nach seinem faktischen Ende flammen die Kämpfe in den Schulen, Häfen, Müllverbrennungsanlagen, Kraftwerken, Altersheimen, Krankenhäusern, dem öffentlichen Nahverkehr, bei Radio France, bei den Feuerwehrleuten, bei den Anwälten, den Fluglotsen und bei der Müllabfuhr immer wieder auf.
Anders als es die Regierungspropaganda weismachen will, kämpft nicht eine kleine Minderheit um ihre Privilegien. Nach dem Zugeständnis der Regierung, die „Reform“ nicht ab Jahrgang 1963 sondern erst ab 1975 wirken zu lassen, streikten Beschäftigte weiter, die persönlich nicht mehr betroffen sein werden. „Wir streiken hier für unsere Kinder und Enkel“, ist häufig zu hören. Und eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung unterstützt bis heute die Streiks als Kämpfe, von denen alle Betroffenen profitieren. Auch wenn der Streik bei der SNCF faktisch beendet ist, sind Solidaritätsspenden weiterhin sinnvoll. Die Streikenden sitzen jetzt zum zweiten Mal nach dem Sommer 2018 auf ihren Kosten durch den teilweise erheblichen Verdienstausfall. Je besser die Streikkassen gefüllt werden, desto weniger wird sich bei ihnen ein Gefühl der Bitterkeit breitmachen und um so eher werden sie zu neuen Arbeitskämpfen bereit sein.
Den Kampf um die öffentliche Meinung haben Macron und seine Wahlplattform LREM klar verloren. Argumente wurden durch Tränengas, Gummi-ummantelte Stahlgeschosse und Polizeiknüppel ersetzt. In Parlamentsfraktion und Regierung zeigen sich erste Ermüdungserscheinungen. Die Kommunalwahlen am 15. und 22. März werden LREM keinen überwältigenden Sieg bescheren wie 2017. Die Vorsitzende des Rassemblement National (ehemals Front National), Marine Le Pen, hat bereits angekündigt, sollte sie 2022 zur Präsidentin gewählt werden, werde sie das Rentenalter wieder auf 60 herabsetzen. Das Geld dafür will sie aus den „Milliarden“ nehmen, „die Frankreich heute ausgibt, um illegale Einwanderer zu empfangen“. Nach der Vorlage der „Reform“ in der Nationalversammlung am 17. Februar hat die Fraktion von La France Insoumise, LFI, schon über 19.000 Änderungsvorschläge eingereicht, um den parlamentarischen Prozess auszubremsen. Die Beratungen in Nationalversammlung und Senat werden sich bis Juni hinziehen.
Die geplante „Reform“: Teil eines umfassenden Verarmungsprogramms
Macron hatte schon im Wahlkampf 2017 angekündigt, die französische Wirtschaft konkurrenzfähiger zu machen, indem er das deutsche Modell nachahmt.[2] Druck in diese Richtung wird seit Jahren von der OECD, aus Brüssel und Berlin ausgeübt. Schon die Regierung unter dem sozialistischen Präsidenten Hollande hatte am letzten Tag des Jahres 2013 den „Pacte de la responsabilité et de solidarité“ verkündet, ein Maßnahmenpaket mit dem Versprechen, Arbeitsplätze zu schaffen. Ein Geschenk von gut 50 Milliarden Euro an die französischen Unternehmer. Im August 2014 wurde der Investmentbanker und geschäftsführende Partner bei Rothschild, Emmanuel Macron, Wirtschaftsminister. Das Arbeitsgesetz Loi Travail im August 2016 erlaubte das Unterbieten von Branchentarifen und deregulierte das Arbeitsrecht zugunsten betrieblicher oder individueller Vereinbarungen. Eine Art nationales Pforzheimer Abkommen[3], weiter verschärft durch die Verordnungen von Macron im September 2017.
Seit dem 1. November 2019 greift die „Reform“ der Arbeitslosenversicherung, von Le Monde als „Strafreform“ bezeichnet. Sogar der Chef der rechtssozialdemokratischen Gewerkschaft CFDT, Laurent Berger, sprach von einem „Gemetzel“. Pro Jahr sollen über eine Milliarde eingespart werden. Für Einkommen über 4 500 Euro wird nach sieben Monaten das Arbeitslosengeld monatlich um 30% gekürzt bis zu dem Mindestbetrag von 2 260 Euro. Zumutbar sind ab jetzt auch Beschäftigungen, die deutlich schlechter entlohnt werden. Nach zwei Ablehnungen wird die Unterstützung für einen Monat gestrichen.
Viel härter trifft es die Geringverdiener, besonders Berufsanfänger mit den typischen Zeitverträgen. Hatte man in den letzten 28 Monaten vier Monate gearbeitet, war man anspruchsberechtigt. Jetzt sind es sechs Monate innerhalb von nur 24 Monaten. Für die Erneuerung der Ansprüche reichte bisher ein Monat Arbeit, jetzt sind es sechs.[4] Von den sechs Millionen gemeldeten Erwerbslosen soll eine Minderheit von 30 000 die Möglichkeit haben, sich als Existenzgründer selbständig zu machen.[5] Jeder seines Glückes Schmied…
Die Verschärfung bei der Arbeitslosenversicherung würde mit der Rente nach Punkten direkt auf die späteren Renten durchschlagen. Da die Unterstützung für viele wegfällt, können sie in diesem Zeitraum auch keine Punkte sammeln.
Was die Renten betrifft, geht es nicht mehr um eine Verschlechterung der bestehenden Systeme, sondern um die „Neugründung“ eines universellen Systems nach Punkten, um die komplette Ersetzung des vom nationalen Rat der Resistance 1945 begründeten Systems der umlagegestützten Grundrente im Régime général de la Sécurité sociale. In den vom Ministerium für Solidarität und Gesundheit am 9. Januar veröffentlichten zwei Gesetzen für ein „universelles Rentensystem“ heißt es: (Das Engagement des Präsidenten der Republik ist es) „zum Aufbau der sozialen Sicherung des 21. Jahrhunderts beizutragen, durch die Errichtung eines universellen Systems, gerecht, transparent und zuverlässig, in dem jeder exakt von den gleichen Rechten profitiert.“ [6]
Drei Punkte sind dabei von herausragender Bedeutung:
Erstens werden sämtliche Sondersysteme, régimes spéciaux, kassiert, die insgesamt nur 1,4 % der Beschäftigten betreffen. Allerdings soll damit die Kampfkraft von Belegschaften gebrochen werden, wie die der Bahn, des Pariser Nahverkehrs, der Energiewirtschaft usw., deren Widerstand in der Vergangenheit die Renten der Mehrheit mit verteidigt hat.
Zweitens wird es ein Scharnieralter geben, age pivôt, was bedeutet, dass es auch mit vollen Beitragsjahren Abschläge geben soll.
Drittens, und das erregt die französischen Lohnabhängigen am meisten, wird die bisherige Art der Anrechnung gestrichen und durch eine für die überwältigende Mehrheit ungünstigere Regelung ersetzt. Statt der 25 besten Jahre in der Privatwirtschaft und der letzten sechs Monate im öffentlichen Dienst werden nun alle Zeiten eingerechnet, auch die schlecht bezahlten und die Zeiten der Erwerbslosigkeit. Besonders hart für die Jungen mit ihren zerstückelten Erwerbsbiographien, für die es immer schwerer wird, eine unbefristete Stelle zu ergattern. Schlecht für die Frauen wegen der Zeiten für Kindererziehung oder die Pflege von Angehörigen.
Absolutes Dogma ist wie in Deutschland das finanzielle Gleichgewicht des Systems, dessen Stellschrauben aber keine Naturgesetze, sondern politische Entscheidungen zugunsten der Millionäre und Milliardäre sind. Es sei an die Streichung der Steuer für Kapitalvermögen erinnert. Romanic Godin berichtet, dass seit 2018 jedes Jahr 3,4 Milliarden Euro an 340 000 Haushalte zurückerstattet werden – 10 000 Euro pro Haushalt.[7] Das Forschungsinstitut OFCE hat ermittelt, dass das im Dezember verabschiedete Finanzgesetz einen negativen Effekt auf die ärmsten 40 % der Bevölkerung hat. Bevorzugt werden die „oberen Mittelklassen“.[8]
.
Der Wert der Punkte soll nicht an die Preisentwicklung gekoppelt werden, sondern an die Einkommensentwicklung, also Löhne und Gehälter aus Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst, aber auch die Einkommen der Selbständigen. Am 12. Februar wurde bekannt, dass bisher offensichtlich ein verbindlicher Index fehlt, um diese anzugeben.[9] Obwohl der Rentenkommissar Jean-Paul Delevoye im Juli 2019 seinen Bericht vorgelegt hatte, bleiben viele Details im Vagen. Das höchste Verwaltungsgericht bemängelte am 24. Januar, die beiden die Renten betreffenden Gesetze seien Lückentexte, bei denen etliche Bestimmungen erst später, durch Verordnungen gefüllt werden sollen.[10] Dieser „Staatsrat“ kann die Gesetze zwar nicht kassieren, sondern nur Empfehlungen aussprechen. Die von ihm attestierte Verfassungswidrigkeit könnte später das Verfassungsgericht Conseil constitutionnel zum Eingreifen veranlassen. Es zeigt sich aber, dass von Nationalversammlung und Senat eine Art Blankoscheck verlangt wird. Diese Unbestimmtheit war nicht gerade geeignet, die Bevölkerung zu beruhigen.
Frankreich und Deutschland im Vergleich
Ein Vergleich mit Deutschland zeigt die zerstörerische Wirkung der geplanten „Neugründung“: Die entscheidenden Zahlen betreffen den
Anteil der Renten am BIP:
10 % in Deutschland und 14 % in Frankreich. Dem steht eine
Altersarmut
in Deutschland von 18,7 % gegenüber nur 7,3 % in Frankreich.[11]
Die Altersarmut in Frankreich hat sogar stark abgenommen: 2009 betrug sie noch 13,4 % also fast das Doppelte. In Deutschland ist sie dagegen seit 2009 um 3 % gestiegen.[12]
Die Durchschnittsrente beträgt in Frankreich zwischen 1400 und 1600 Euro[13], in Deutschland West nach Angaben der GRV von 2018 dagegen nur 864 Euro mit einem gewaltigen Unterschied zwischen Frauen (647) und Männern (1 130). Für die 2018 neu in Rente Gegangenen lauten die Zahlen: 675 Euro für die Frauen, 928 Euro für die Männer, Durchschnitt: 750 Euro.[14]
Die Rentenbeiträge sind mit ca. 26 % in Frankreich deutlich höher als in Deutschland mit 18,6 %. Der sogenannte Arbeitgeberanteil beträgt in Frankreich 16,3 %, in Deutschland liegt er bei 9,3 %. Die Beschäftigten bekommen in Frankreich 11,2 % für die Rente abgezogen, in Deutschland 9,3 %.
Der Münchner Merkur veröffentliche am 06.12.2017 eine Liste des Rentenanteils vom Nettoverdienst:
Frankreich: 74,3 %,
EU – 28 Durchschnitt: 70,6 %,
OECD Durchschnitt: 62,9 %,
Deutschland: mit 50,5 % auf dem fünftletzten Rang, Tendenz fallend
Fazit: In Deutschland tickt eine soziale Zeitbombe, die mindestens die Hälfte der Bevölkerung fürchtet und gemeinsam mit den Gewerkschaften bisher nur beklagt. Bei weiterer Untätigkeit von Gewerkschaftsbasis und Apparat droht eine Kaperung dieses Themas durch die extreme Rechte.
Freie Fahrt für BlackRock
Die geplanten Einsparungen in Milliardenhöhe sollen eine Lücke hinterlassen, die die Anbieter privater Produkte für Altersvorsorge für sich nutzen möchten: Der Geschäftsführer des größten US-Vermögensverwalters BlackRock, Larry Fink, wurde mehrfach von Macron und der Regierung hofiert: Bereits drei Wochen nach Macrons Wahl wurde er 2017 im Élysee-Palast und dem Sitz des Premierministers empfangen, drei Wochen später traf ihn Wirtschaftsminister Bruno Le Maire in New York. Am 25. Oktober 2017 wurde er mit 21 anderen Fondsmanagern in den Saal Murat im Élysee eingeladen, laut der Satirezeitung Le Canard Enchainé eine Ehre, die nie zuvor einem Privatunternehmern gewährt wurde.
Im Oktober 2017 rief der Premierminister das Komitee für „Strukturreformen“ der staatlichen Aufgaben ein. Eines der 30 Mitglieder ist der Vorsitzende von BlackRock-Frankreich, Jean-François Cirelli, der am Neujahrstag 2020 mit dem Orden der Ehrenlegion ausgezeichnet wurde. Der von Macron im September 2017 zum Rentenkommissar ernannte Jean-Paul Delevoye war genau wie Cirelli Regierungsmitglied unter Chirac. Er musste am 16. Dezember 2019 zurücktreten, drei Tage nachdem bekannt wurde, dass er für monatlich 5 300 Euro nebenberuflich bei Ifpass beschäftigt war, der Bildungsanstalt der privaten Versicherer.[15]
BlackRock-Gründer Larry Fink formulierte das strategische Ziel Anfang 2019 folgendermaßen: „Weil die Staaten angesichts tiefgreifenden ökonomischer Veränderungen nicht mehr in der Lage sind, Lösungen anzubieten, blickt die Gesellschaft mehr und mehr auf die Unternehmen, um die drängendsten sozialen und wirtschaftlichen Probleme anzugehen. Die Welt braucht unsere Führung.“ [16] Privatisierung bei Krankenhäusern, Wasser, Wohnungen, öffentlichem Transport, „Digitalpakt Schule“, der Appetit bleibt gewaltig.
Der Widerstand gegen die geplante „Reform“
Die Länge der Streiks bei der Bahn und im Nahverkehr des Großraums Paris (RATP), der dadurch verursachte direkte finanzielle Schaden, die Vielfältigkeit der Streiks und die ungebrochene Unterstützung durch die öffentliche Meinung lassen die These wagen, dass die französische Bourgeoisie des Jahres 1995 vor dieser Bewegung hätte zurückweichen und ihr den Sieg überlassen müssen. Aber nach all den Jahren des Sozialdumpings, der niedrigen Lohnstückkosten und der Exportoffensive Deutschlands ist der Druck, unter dem Unternehmerlager, Präsident und Regierung stehen, offensichtlich zu groß. Allein der direkte Schaden bei der SNCF beträgt gut eine Milliarde, beim Pariser Nahverkehr noch einmal zweihundert Millionen. Der indirekte Schaden durch den bestreikten Güterverkehr konnte bisher noch nicht beziffert werden, er betrifft Produktion und Handel, aber auch die Bereiche Tourismus oder Gastronomie. Die Transportschwierigkeiten von Gütern und Personal beeinträchtigten die gesamte Wirtschaft in vielfältiger Weise.
Der Streik begann am 5. Dezember mit einem Donnerschlag, dessen Echo sogar die Tagesschau erreichte. Die nächste starke Mobilisierung gab es am 17. Dezember. Die Bewegung überlebte die Weihnachtspause und erreichte am 9. Januar einen weiteren Höhepunkt. Kurz davor gab es einen Alarmruf aus den Reihen der RATP, dass sie und ihre Camarades von der Bahn allein die Regierung nicht würden stoppen können. Daraufhin verstärkten sich dezentrale Aktionen, Flashmobs, Stromabschaltungen direkt am Verteilerkasten, wiederholte Aktionen „Toter Hafen“ in sieben der größten französischen Häfen.[17]
Schon am 5. Dezember wurde der Streikaufruf an Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen stark befolgt, in Krankenhäusern und Altenheimen parallel zu den Kämpfen, die schon das ganze Jahr 2019 über stattgefunden haben. Mitte Januar kamen noch die Müllabfuhr und Müllverbrennungsanlagen im Großraum Paris dazu. Der öffentliche Sender Radio France, bei dem Stellenabbau geplant ist, erlebte einen bisher einmaligen Streik von 63 Tagen Länge, der Anfang Februar unterbrochen wurde. Der Versuch einer Neujahrsansprache durch die Geschäftsführerin wurde durch den Gefangenenchor aus Nabucco unterbrochen. Auf französisch: „Chor der Sklaven“. [18]
Die Rechtsanwälte verteidigten ihre vollkommen autonome Rentenkasse und warfen vermehrt ihre schwarzen Roben der Justizministerin vor die Füße. Wütende Feuerwehrleute lieferten sich Straßenschlachten mit der Bereitschaftspolizei CRS, selbst Polizisten streikten für ihre Renten. Polizei und Militär wurde daraufhin die Beibehaltung ihrer Sondersysteme garantiert.
Schon ab Anfang Dezember wurden der Elektrizitätsbereich bei EDF (Électricité de France), Engie und Enedis mit einer Beteiligung von 40 – 60 % bestreikt. Anfang Januar waren alle acht Raffinerien in Frankreich von Arbeitsniederlegungen betroffen, so dass es regional zu Benzinmangel kam. Schon direkt vor dem 5. Dezember hatten Unternehmer, die im Bereich öffentliche Gebäude und Arbeiten (BTP) tätig sind, Benzindepots blockiert, weil ihnen ein Steuervorteil für Benzin gestrichen werden sollte.
Die Beispiele der wilden Streiks bei Wartungszentren der SNCF und der Arbeitsniederlegung durch Zugführer nach einem Zugunglück Mitte November zeigen, dass die Basis der Gewerkschaften einen enormen Druck in Richtung Arbeitskampf ausübte. Der Kampf um die Renten verband sich mit den parallel laufenden Kämpfen um den Erhalt der öffentlichen Krankenhäuser. Begonnen in den Notaufnahmen Mitte März 2019 konnte er durch Zugeständnisse von ca. 700 Millionen nicht gelöscht werden. Die Frage der Finanzierung stellt sich prinzipiell: Können, dürfen Krankenhäuser „profitabel“ sein? Bei einem grève du codage verweigerten Ärzt*innen die Weitergabe von Behandlungsdaten an die Krankenkassen um wirtschaftlichen Druck zu erzeugen. Am 13. Januar erklärten 1000 Ärzt*innen öffentlich ihre Demission von allen administrativen Aufgaben.
Parallel zum Kampf um ihre Renten bewegt die Lehrer*innen die Reform des öffentlichen Dienstes und des Abiturs, was schon vor den Sommerferien zu einem „Notenstreik“ geführt hatte, der Weigerung, die Abiturnoten ans Bildungsministerium weiterzuleiten. Wegen des Fehlens von Prämien wären die Lehrer*innen stärker von der Renten“reform“ betroffen als andere Angehörige des öffentlichen Dienstes. Erziehungsminister Blanquer hatte als Kompensation 500 Millionen jährlich angeboten. Weil bisher unklar bleibt, wer welche Kompensation bekommen würde und weil damit eine andere Anrechnung von Arbeitszeit (also deren Ausdehnung) verbunden ist, sowie eine bessere Möglichkeit, Lehrkräfte nach Bedarf hin und her zu schieben, bleiben die Beschäftigten misstrauisch und mobilisiert.
Entscheidende Schwäche der Bewegung war bisher das Ausbleiben großer Streiks in der Privatwirtschaft. Die hier Beschäftigten haben zu große Angst vor dem Verlust ihrer Jobs durch Betriebsschließung oder Verlagerung ins Ausland. In der Regel kommt es nur bei dieser Art von Angriffen zu entschiedener Gegenwehr bis hin zu Betriebsbesetzungen.
Es zeigte sich, wie schon 2016, eine Spaltung des Gewerkschaftslagers. Am entschlossensten waren CGT, FO, FSU und Sud-Solidaires zusammen mit den Organisationen der Studierenden und Schüler, diesmal erweitert um die Gewerkschaft der leitenden Angestellten, CFE-CGC, die sich gegen die Verminderung des Umlageverfahrens bei hohen Einkommen und Renten und die damit verbundene Kapitalisierung wendet. Dieses Bündnis lehnt eine Rente nach Punkten generell ab. Auf der anderen Seite die CFDT unter ihrem Präsidenten Laurent Berger, der der DGB-Führung um Reiner Hoffmann politisch nahe steht. Auch er konnte allerdings die bei der CFDT organisierten Beschäftigten der Bahn nicht vom Streik abhalten. Die UNSA, stärkste Gewerkschaft beim Nahverkehr im Großraum Paris, RATP, war 2016 nicht in der Widerstandsfront. Dem Druck der Basis bei der RATP musste aber auch ihre Zentrale folgen.
Laurent Berger möchte, ebenso wie Macron, ein universelles Rentensystem, das für alle gilt. Allerdings können auch die Mitglieder der CFDT rechnen und merken, dass sie bei Macrons „Reform“ verlieren würden. In den Medien wurde die Empörung Bergers über das Scharnieralter (age pivôt) von 64 Jahren und das angebliche Einlenken der Regierung am 11. Januar in dieser Frage breit behandelt. Die Regierung hatte natürlich die Absicht, die Streikfront zu schwächen. Ihr angebliches Nachgeben erweist sich bei genauerem Hinsehen als geschicktes Manöver. Die Regierung fordert die verhandlungsbereiten „Sozialpartner“ dazu auf, die für ein Scharnieralter von 62 Jahren fehlenden 12 Milliarden bis April 2020 irgendwo aufzutreiben. Gelingt ihnen das nicht, wird dieses Alter eben per Verordnung auf 64 festgelegt, wie gehabt. Es war schon im Januar klar, dass der Streik mit großer Wahrscheinlichkeit im April beendet sein wird. Als zusätzliche Demütigung für Berger berichteten die Medien bereits am 20. Januar, dass dieses Alter, inzwischen in „Gleichgewichtsalter“ umbenannt, bis 2037 wahrscheinlich auf 65 Jahre erhöht werden wird: Das „Gleichgewicht“ mache dies eben nötig. Es kam zu Austritten aus der CFDT, die genaue Zahl ist nicht bekannt, aber mindestens 5 000.
Es ist nicht zu übersehen, dass die Demonstrationen kleiner werden, zu denen das Bündnis aus fünf Gewerkschaften und den Jugendorganisationen Woche für Woche aufruft, dass die Streiks im Transportsektor erst einmal beendet sind und dass die Blockaden von Häfen, Raffinerien und Benzindepots nicht lang genug dauerten, um eine wirkliche Benzinknappheit herbeizuführen. Trotzdem versucht ein entschlossener Kern die Bewegung aufrecht zu erhalten und zu erweitern und neue Aktionsformen zu finden. Matthieu, Ingenieur für Bauausführungen bei der Stadtverwaltung von Paris und aktiver CGTler, legt jeden Morgen mit anderen Kollegen für einige Stunden die Arbeit nieder. Sie gehen zu den Streikposten, informieren sich, knüpfen Kontakte, versuchen die Mobilisierung aufzubauen. Manon unterstützt mit anderen Studierenden die Streiks bei der Müllabfuhr. „Das ist ein atomisierter Sektor mit einer Konkurrenz zwischen Öffentlichen und Privaten. Es gibt viele Befristete, die schwer zu mobilisieren sind. Wir gehen von Garage zu Garage um eine Verbindung zwischen ihnen aufzubauen.“ Ein erstes gemeinsames Treffen hat stattgefunden, ein gemeinsames Transparent wurde auf der Demonstration am 20. Februar in Paris getragen. Gaël Quirante, Sekretär der Gewerkschaft Sud-Poste im Departement Haute-Seine, sagt: „Der große Widerspruch ist, dass es mehr ,Dampf‘ an der Gewerkschaftsbasis, bei der Jugend, bei den Arbeitern gibt als auf der Ebene der Zentralen. Es ist nötig, die Strategie einer nationalen Bewegung anzukurbeln, mit der zentralen Frage, die Wirtschaft lahmzulegen, den unbefristeten Streik auf die Tagesordnung zu setzen, der bis heute nicht im Kern der Strategie der Gewerkschaftszentralen stand.“ Ebenfalls in Paris fand am 23. Februar ein Koordinierungstreffen verschiedener branchenübergreifender Versammlungen und Streikkomitees aus ganz Frankreich statt.[19]
Trotz aller Schwächen handelt es sich um den längsten Streik seit 1920 mit der stärksten Beteiligung seit 2010. Auf der Streikdemonstration am Donnerstag, den 9. Januar, in Metz demonstrierten gemeinsam Anwält*innen mit Beschäftigten der Krankenhäuser und der Automobilindustrie, natürlich der Bahn, mit Lehrer*innen und mit Gelben Westen. Eine soziale Breite, die von den Beteiligten so noch nie gesehen wurde. Gelbe Westen trugen ein Schild mit der Parole: „Wenn alles privat sein wird, werden wir von allem ausgeschlossen sein!“ [20] Die fast gleichlautende Parole trugen streikende Gewerkschafter*innen von Radio France bei ihrer Protestaktion auf die Bühne. Und in Frankreich traut sich bisher niemand, öffentlich auch nur einen Gedanken an eine Rente mit 70 zu verschwenden. Passiv bleiben, wie bisher in Deutschland, lohnt sich offensichtlich noch weniger.
Macrons Niederlage im Kampf um die öffentliche Meinung
Obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung grundsätzlich für eine Vereinheitlichung der verschiedenen Rentensysteme ist, misstraut sie doch Macron und seiner Regierung und kann nachrechnen, dass sie bei der „Reform“ verlieren würde. Die Umfragen zeigen auch nach 42 Streiktagen übereinstimmend eine klare Mehrheit, die die Bewegung unterstützt.[21] Bei einer Jugendarbeitslosigkeit von knapp 20 % wollen es die Alten einfach nicht einsehen, länger zu arbeiten und damit den Jungen die Jobs wegzunehmen. In etlichen Familien ziehen die Kinder nach einer Scheidung zusammen mit den Enkeln wieder bei ihren Eltern ein. Das Wort Promiskuität bedeutet auf Französisch den Mangel an Privatsphäre, z.B. wegen einer überbelegten Wohnung. Während des Streiks im Pariser Nahverkehr äußerten befragte junge Erwachsene kurz vor Weihnachten, sie würden lieber die Strapazen beim Arbeitsweg und ein missglücktes Weihnachten in Kauf nehmen, als für Generationen die falschen Weichen zu stellen. Im Januar sammelten Streikende in den Pariser Metrostationen bei den bestreikten Fahrgästen Geld für die Streikkasse. Mit Erfolg!
Macrons Frankreich ist nicht Thatchers Vereinigtes Königreich. Die Bergarbeiter in England wurden 1985 faktisch nicht mehr gebraucht, Lokführer, Krankenschwestern, Lehrer und Fluglotsen in Frankreich heute dagegen schon. Die öffentliche Meinung in Großbritannien wandte sich zuletzt gegen die Streikenden und die als übermächtig empfundenen britischen Gewerkschaften („Heizer auf der E-Lok“). Und 1985 schien ein strahlendes Zeitalter des Neoliberalismus zu beginnen. Inzwischen sind weltweit viele Illusionen zerplatzt.
Schließlich hat ihr Sieg über die Gewerkschaften Margarete Thatcher politisch nicht geschadet, im Gegenteil. Der politische Preis, den Macron wird zahlen müssen, ist dagegen schon in Ansätzen erkennbar. Anfang Februar beantragte die konservativ-liberale UDI in der Nationalversammlung den Urlaub für Eltern nach dem Tod eines Kindes von 5 auf 12 Tage zu verlängern. Arbeitsministerin Pénicaud[22] und die Abgeordneten lehnten ab: Zu teuer für die Unternehmer. In der Welle der öffentlichen Empörung wurden die Abgeordneten von LREM als „gefühllose Playmobil-Männchen“ bezeichnet, aus der Regierung hieß es, in der Fraktion säßen nur Idioten, Macron rügte sie wegen ihrer Herzlosigkeit.[23] Diese empörten sich öffentlich darüber, gerade Macron sei kein Beispiel übertriebener Humanität.
Am 14. Februar erschütterte der Rücktritt des LREM-Kandidaten für die Wahl des Pariser Bürgermeisters die Republik: Benjamin Griveaux, einer der engsten Vertrauten Macrons, zog die Konsequenzen aus der Veröffentlichung von anzüglichen Videos und Textbotschaften, die einen außereheliche Bezug haben. Kurzfristig muss nun die bisherige Ministerin für Solidarität und Gesundheit, Agnes Buzyn, einspringen, die bis zu diesem Zeitpunkt mit den heftigen Auseinandersetzungen um die öffentlichen Krankenhäuser, mit dem Coronavirus und mit eben der Rentenreform beschäftigt war. In anderen Städten konnte sich LREM nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Ermüdungserscheinungen auch hier.
Romaric Godin schreibt am 30. Januar bei Mediapart, der Sieg der französischen Regierung habe den Geschmack einer Niederlage. Zwischen dem Gestammel der Arbeitsministerin und den Rechtfertigungsversuchen der Regierungssprecherin spüre man eine Form der Panik und eines intellektuellen Debakels. Allein die Rechtfertigung der „Reform“ über die höhere Lebenserwartung lasse beispielsweise außer Acht, dass Arbeiter im Durchschnitt früher sterben als leitende Angestellte. Beide dem gleichen Schema zu unterwerfen, bedeute gerade das Gegenteil von Gerechtigkeit:
„Die Unfähigkeit der Regierung, mit ihrer Erzählung durchzudringen, wird nicht ohne Konsequenzen bleiben. Wie soll konkret eine Reform von derartigem Ausmaß politisch realisiert werden, ohne erfolgreich von ihrer Nützlichkeit, Gerechtigkeit und Eignung überzeugt zu haben? Das wird deutlich komplexer werden, zumal die Verabschiedung des Projekts nur der Anfang dieser Reform ist, die einen Weg voll technischer Hindernisse vor sich hat, übersät mit verschiedenen Fallstricken, derer sich die Regierung mehr oder weniger bewusst ist.
Ohne dazu zu rechnen, dass es unter diesen Bedingungen sehr schwierig sein wird, die Demütigung zu akzeptieren, die die Regierung einer der längsten sozialen Bewegungen in unserer Geschichte zugefügt hat. Sie scheint eine kurzfristige Lösung gefunden zu haben: Augen zu und durch. Mehr als jemals hat sich die Macht eingesperrt, allein, in einem intellektuellen Gefängnis, in dem sie sich mit ihren eigenen Gewissheiten zufrieden gibt. Aber die Wahrheit ist, dass der Neoliberalismus nicht mehr das Monopol der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ideen zu haben scheint. Darin ist die soziale Bewegung ein Wendepunkt. Ihre Existenz, in Taten und in Ideen, ist vielleicht ihr größter Sieg gewesen.“
(25.02.2020)
Nachtrag am 07.04.2020:
Während in Frankreich die Region Grand Est und besonders das Elsass bereits ertrinken[24], die Corona-Welle sich über den Großraum Paris verbreitet und im Begriff ist, die anderen Regionen Frankreichs zu überfluten, muss sich die Regierung gegen Vorwürfe wehren, zu spät gehandelt zu haben. Wenn über Ausgangsbeschränkungen debattiert wird, dann, angesichts der dramatischen Berichte aus Krankenhäusern in Straßburg oder Mulhouse, höchstens über eine Verschärfung. Eine Ärztin berichtete am 29.03., dass in ihrem Krankenhaus zwischen Straßburg und Mulhouse die überwiegende Mehrzahl des Personals bereits infiziert sei und bleibende Lungenschäden befürchtet.
Wir können davon ausgehen, dass nicht nur die deutsche Regierung bereits Ende Januar einigermaßen über die Entwicklung im Bilde war. Agnes Buzyn, gelernte und lange Zeit praktizierende Ärztin und bis zum 16. Februar französische Gesundheitsministerin, erklärte am 17. März unter Tränen vor den Kameras, sie habe bereits am 30. Januar den Premierminister davor gewarnt, dass ein Tsunami auf Frankreich zurolle und man auf keinen Fall die Kommunalwahlen am 15. und 22. März werde abhalten können, deren erste Runde dann bereits unter dem Confinement (Eindämmung, Einschließung) stattgefunden haben. Mehrere Wahlhelfer wandten sich bereits an die Öffentlichkeit, weil sie positiv getestet wurden.[25]
Am 19. März erstatteten mehr als 600 Ärzt*innen des Kollektivs C 19 Anzeige gegen Buzyn und Édouard Philippe, weil sie nicht rechtzeitig die notwendigen Maßnahmen ergriffen hatten um die Ausbreitung der Krankheit zu verlangsamen. Die o.g. Ärztin aus dem Elsass: „Ich denke auch, dass die Bedrohung lange verharmlost wurde. Die Ausgangssperre wurde viel zu spät beschlossen. Es sind aber vor allem zwei Dinge, die mich fassungslos machen: Frankreich hat am 15. März, einen Tag vor der Ausgangssperre, noch Kommunalwahlen abgehalten. Das Problem war, dass es zu diesem Zeitpunkt kaum Atemschutzmasken gab. Viele dieser Masken wurden an die Wahlhelfer und Wähler verteilt, obwohl wir sie in den Krankenhäusern viel dringender gebraucht hätten. (…) Wichtig ist aber vor allem, wie jetzt die Bevölkerung reagiert. Ich kann nur noch einmal betonen, wie wichtig es ist, sich an die Ausgangssperren zu halten.“ [26]
Der französische Arzt Philippe Klein, einer der letzten Franzosen in Wuhan, berichtete am 22. März in den Abendnachrichten „20heures“: „In den 60 Tagen, seit die Quarantäne begonnen hat, habe ich weder meine Frau, noch meine Kinder gesehen. In einer so außergewöhnlichen Situation müssen wir außergewöhnliche Opfer bringen.“ Die französischen Maßnahmen, obwohl zu diesem Zeitpunkt schon deutlich strikter als die deutschen, würden zu nichts führen. China habe der Welt gezeigt, wie man die Krise beherrschen könne, für die westlichen Regierungen gäbe es jetzt keine Entschuldigung mehr, so Klein.
In der Tat sind alle Ausgangs- und Kontakteinschränkungen fragwürdig, solange die Beschäftigten der nicht lebensnotwendigen Betriebe gezwungen werden, sich auf der Arbeit dem Infektionsrisiko auszusetzen. Das Arbeitsverbot in diesen Bereichen ist aber unter kapitalistischen Verhältnissen ein Tabu. Zu diesem Mittel haben Italien und Spanien erst gegriffen, als die Ereignisse völlig außer Kontrolle geraten waren und die Ausgangssperre ohne Arbeitsverbot nicht gegriffen hatte. Von deutschen Medien wurde es bisher zu keinem Zeitpunkt thematisiert. Auch in Frankreich soll bisher noch in den nicht lebensnotwendigen Bereichen gearbeitet werden. Allerdings nehmen viele Beschäftigte dort ihr „Droit de Retrait“, ein im „Code du Travail“ verankertes Recht in Anspruch, die Arbeit zu verweigern, wenn ihre Gesundheit gefährdet ist. Die Beschäftigten des Louvre berufen sich schon seit dem 1. März auf dieses Recht, seit diesem Tag ist das meistbesuchte Museum der Welt geschlossen. In vielen Branchen und Betrieben machen Beschäftigte und Gewerkschaften Druck in Richtung Arbeitseinstellung.
Ein besonders schönes Beispiel beschreibt Marco Wenzel am 1. April auf den Nachdenkenseiten: „Anfang letzter Woche hat Airbus Druck ausgeübt, um die Produktion wieder aufzunehmen. Dafür hat Airbus bereits Zehntausende von Masken für ihre Mitarbeiter und die ihrer Subunternehmer beschafft. Die gleichen Masken, nach denen die Mitarbeiter des Gesundheitswesens ständig verlangen. Aus diesem Grund trafen sich am 26. März mehr als zwanzig kämpferische Betriebsräte von Airbus und Subunternehmern und fordern in einer Mitteilung die Schließung der Fabriken während der Eindämmungsphase sowie die 100%ige Zahlung der Löhne während dieser Zeit für alle Beschäftigten. Sie fordern ferner, dass alle von Airbus und den Subunternehmen bereits beschafften Masken sofort an die Pflegekräfte ausgehändigt werden. Weiterhin fordern sie ‚die Frage der Umlenkung der Produktion, zum Beispiel zur Herstellung von künstlichen Beatmungsgeräten‘. In der Luftfahrtindustrie schlossen viele Fabriken am 17. März oder an den folgenden Tagen.“ [27]
Zu der angeordneten Schließung von nicht lebensnotwendigen Geschäften und dem daraus folgenden Boom des Onlinehandels äußerte die französische Regierung, sie werde dafür sorgen, dass Firmen wie Amazon einen erheblichen und schwerwiegenden Beitrag werden leisten müssen, um nach der Krise den kleinen Läden wieder auf die Beine zu helfen. Wirtschaftsminister Bruno Le Maire kritisierte am 19. März Amazon scharf für seinen Umgang mit den Mitarbeitern.
Überhaupt geht vielen Verantwortlichen in Macrons Wahlplattform LRM gerade auf, dass diejenigen, die immer verachtet wurden, das Land am Laufen halten: die Arbeiter und Angestellten. Die höheren Ränge verrichten derweil Telearbeit. Der Abgeordnete Guillaume Chiche: „Es sind die prekärsten Kategorien, die die notwendigsten Tätigkeiten ausführen um das Land in Gang zu halten, und die außerdem den Risiken einer Ansteckung am meisten ausgesetzt sind. Das wird ihren Forderungen eine deutliche Rechtfertigung verschaffen.“ Er schätzt, dass dadurch erneut die Erscheinung des Klassenkampfes auftauchen wird. Der Generaldelegierte von LRM, Stanislas Guerini dazu: „Wir befinden uns in einem Moment der Rehabilitierung der Arbeiter, die für die Nation unersetzlich sind: Die Lieferanten, die Kassierer, die Beschäftigten der Müllabfuhr und der Straßenreinigung… Der lebensnotwendige Charakter einiger Berufe sticht hervor. Frankreich kann ohne sie nicht durchhalten.“ [28] Ob die während der Krise ausgesetzte Rentenreform später politisch durchsetzbar sein wird, kann angesichts dieser Erfahrungen bezweifelt werden.
GB
- Jérôme Fourquet in Die Zeit, 22.01.2020 ↑
- Wir sollten an dieser Stelle nicht vergessen, dass Macron in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 2017 die Stimmen von nur 18 % der Wahlberechtigten sammeln konnte. Seinen Wahlsieg verdankt er der Ablehnung von Marine Le Pen. Seine Wahlplattform LREM konnte durch das Mehrheitswahlsystem eine komfortable Mehrheit in der Nationalversammlung erreichen, weil die Gaullisten stark geschwächt und die Sozialisten kollabiert waren. ↑
- Das von der IG-Metall Baden-Württemberg und dem Unternehmerverband Südwestmetall 2004 vereinbarte Pforzheimer Abkommen erlaubt die Abweichung von Tarifverträgen nach unten (betriebliche Öffnungsklauseln). ↑
- Ralf Klingsiek in ND, 05.11.2019 ↑
- Rudolf Walter in Freitag 47/2019 ↑
- Projet de loi instituant un système universel de retraite. NOR : SSAX1936438L/Rose-1, RÉPUBLIQUE FRANÇAISE, Ministère des solidarités et de la santé ↑
- Romaric Godin in Mediapart, 30.01.2020 ↑
- Le Figaro, 05.02.2020. Untersucht werden die Auswirkungen verschiedener Steuerreformen und Unterstützungssysteme. Bei einer Einteilung der Haushalte in 20 Gruppen verlieren die unteren vier Gruppen, während die Gruppen 13, 14 und 15 am stärksten profitieren. ↑
- 20heures: https://www.francetvinfo.fr am 12.02.2020. Wahrscheinlich soll das nationale Institut für Statistik, Insee, diese Aufgabe übernehmen. ↑
- Bernard Schmid in Labournet, 27.01.2020 ↑
- Martine Bulard in Le Monde diplomatique, Januar 2020 ↑
- Romaric Godin in Mediapart, 03.01.2020 ↑
- Die erste Angabe stammt von Monika Queisser, Leiterin der Abteilung für Sozialpolitik bei der OECD in Paris und Mitglied des französischen Rentenrats COR im Spiegel, 05.12.2019. Die zweite Angabe von Ulrike Herrmann in der taz vom 09.12.2019 ↑
- Romaric Godin ebda. Die Werte für den Osten betragen laut GRV für den 31.12.2018 im Durchschnitt 958 Euro, dabei 1 095 für Männer und 885 für Frauen. ↑
- Marco Wenzel auf https://www.nachdenkseiten.de/?p=57476 vom 06.01.2020. Verkehrsminister Scheuer dagegen wurde von Kanzlerin Merkel „gute Arbeit“ bescheinigt. Er muss nicht gehen. Der Aufsichtsratsvorsitzende von BlackRock-Deutschland heißt Friedrich Merz, CDU. ↑
- Le Monde diplomatique, Januar 2020 ↑
- Dünkirchen, Le Havre, Rouen, Nantes-Saint-Nazaire, La Rochelle, Bordeaux und Marseille ↑
- https://www.20minutes.fr/arts-stars/medias/2690839-20200109-greve-radio-france-voeux-sibyle-veil-interrompus-choeur-radio ↑
- Bertrand Bissuel und Aline Leclerc in Le Monde, 22.02.2020 ↑
- „Quand tout sera privé, on sera privé-es de tout !“ Das Verb „priver“ bedeutet „ausschließen, ausgrenzen“. ↑
- Odaxa am 16. Januar: 66 %; Harris interactiv am 13. Januar: 60 % Unterstützung. ↑
- Muriell Pénicaud hat als Managerin bei Danone Aktienoptionen eingelöst, als 900 Stellen abgebaut wurden. Dadurch konnte sie an einem Tag 1,1 Millionen € Gewinn machen. Für diesen Betrag muss ein Empfänger des französischen Mindestlohns 80 Jahre lang arbeiten -in Deutschland noch länger. ↑
- Thomas Hanke im Handelsblatt, 14.02.2020 ↑
- Die Lage in den Notaufnahmen im Elsass scheint sich etwas zu entspannen. Wie es nach einer Lockerung der Quarantäneregeln aussehen würde, wissen wir nicht. ↑
- Nina Belz in NZZ, 29.03.2020 ↑
- Interview: Julian Bernstein im Standard, 29.03.2020 ↑
- Marco Wenzel, 01.04.2020, in https://www.nachdenkseiten.de/?gastautor=marco-wenzelZu den aktuellen Auseinandersetzungen um das droit de retrait siehe auch Bernard Schmid bei labournet. ↑
- Alexandre Lemarié in Le Monde, 31.03.2020 ↑
Hinterlasse jetzt einen Kommentar