Im August 2020, also unmittelbar nach den Erfahrungen mit der ersten Welle der Pandemie, erschien dieses Buch von Klaus Dallmer.
In 17 Interviews berichten Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen und Gewerkschaftsvertreter*innen über die Arbeitsbedingungen in der Branche. Statt mit einer Besprechung stellen wir das Buch vor mit der Wiedergabe des Vorworts vom Herausgeber.
Worum geht’s?
Wer die hier versammelten Interviews liest, wird verstehen, wo der Sachverstand des Gesundheitswesens wirklich sitzt. Und steht und rennt und schwitzt und hebt und hetzt und über die Grenzen der Erschöpfung arbeitet. Dieser Sachverstand wird von der Gesundheitspolitik missachtet, und das schon über Jahrzehnte.
Mit der Corona-Epidemie ist der Öffentlichkeit noch einmal deutlicher geworden, was da im Argen liegt. Schon die simple Bevorratung mit Schutzausrüstung kommt im just-in-time-System nicht vor, weil Vorratshaltung Geld kostet, unsere Krankenhäuser aber nach Konkurrenz und Gewinn organisiert sind. Will die Gesellschaft das weiter so hinnehmen, oder ist es nicht höchste Zeit, dass wir hier endlich aufräumen – zugunsten von Beschäftigten und PatientInnen? Die Beschäftigten im Gesundheitswesen haben es mehr als verdient, dass sie in ihren Kämpfen unterstützt werden, und zwar von möglichst vielen. Denn sie haben mächtige Gegner, denen ihre Gewinne wichtiger sind als das Wohl derer, die diese Gewinne erarbeiten – oder das Wohl der PatientInnen. Und schließlich kann es uns alle treffen, dass wir schlecht behandelt werden, wenn unsere Krankheit nicht gewinnbringend ist. Oder dass an uns herumgeschnitten wird, obwohl es eigentlich überflüssig ist – aber lukrativ. Oder dass wir am bewusst herbeigeführten Personalmangel sterben: Mein Bruder lag mit Herzinfarkt auf der Intensivstation und hörte nachts aus einem Nebenzimmer Wimmern und Hilferufe – stundenlang. Als endlich eine Pflegerin kam, sagte die, sie seien hier total unterbesetzt und hätten zwei Patienten reanimieren müssen – „wer noch um Hilfe rufen kann, dem geht es doch noch relativ gut.“
Nur noch einen Schritt weiter ist es bis zur Triage – der Anordnung, wegen Personalnot die Patienten mit den schlechtesten Überlebenschancen nicht zu versorgen. Soll trotz Protests des Intensivpflegepersonals auch schon vorgekommen sein – sicherlich nur im Ausland. Oder? Die Intensivstationen sind voll, weil die OP-Säle ausgelastet sein müssen.
Der Widerstand der GesundheitsarbeiterInnen und ihrer Gewerkschaft richtet sich vor allem gegen das System der Fallpauschalen (DRG[1]) und gegen deren Auswirkungen. Darum wiederholen sich diese Punkte in den Interviews – wir sollten das nicht als Doppelungen, sondern als Sprechchor lesen. Dieses Fallpauschalensystem hat bewirkt, dass Privatkliniken sich spezialisieren können auf die gewinnbringenden Behandlungen, und dass der aufwendige Minusbereich für die öffentlichen Versorger bleibt – die dann auch „auf Deibel komm raus“ sparen müssen, wenn sie die Gynäkologie aufrechterhalten wollen oder die Kinderstation.
Und woran wird gespart? Etwa zwei Drittel der Krankenhauskosten sind Personalkosten. Also sind seit Ende der 90er Jahre ca. 50.000 Stellen im Pflegebereich abgebaut worden. Das Geld wird mit den Operationen verdient – wie gut man anschließend gepflegt wird, das ist für die Kostenerstattung uninteressant. Je weniger Pflegekräfte also zwischen den Patienten hin-und herhetzen, desto mehr Gewinn wird gemacht. Diesem wirtschaftlichen Zwang unterliegen auch die öffentlichen Krankenhäuser. Ein Operierter mehr pro Pflegekraft bedeutet statistisch eine um 7% höhere Sterblichkeit innerhalb der ersten 30 Tage. Übersetzt: je weniger Pflege, desto mehr Tote, desto besser fürs Budget. Dieses System ist pervers. Es muss weg.
Die neoliberale Wende hat bewirkt, dass das Streben nach Gewinnen sich auch noch in die letzten Poren der Gesellschaft hineingefressen hat – in Thüringen war sogar die Gefängnispsychiatrie, die Forensik, privatisiert. Aktionäre haben für die psychiatrische Behandlung von Straftätern Gewinne eingestrichen, bis die Landesregierung die Notbremse gezogen hat.
Diese neoliberale Wende müssen wir nun wohl endlich zurückwenden. Dafür brauchen die Beschäftigten des Gesundheitswesens und ihre Gewerkschaft ver.di auch die Unterstützung der anderen Gewerkschaften. In der Autoindustrie werden die Beschäftigten sich ja nicht ewig den Marktmanövern ihrer Geschäftsleitungen unterordnen können. Das Überangebot hat ja schon Mitte 2019 dazu geführt, dass die Autoindustrie Zehntausende von Arbeitsplätzen abbauen wollte. Bleibt den AutomobilarbeiterInnen etwas anderes übrig, als um ihre Arbeitsplätze zu kämpfen?
Der weltweite Profit-Produktionsapparat hielt sich nur noch durch Niedrigzinsen, Überschuldung und Finanzspekulation über Wasser, weil die aufgetürmten Produktionskapazitäten die kaufkräftige Nachfrage übersteigen und sich nicht mehr amortisieren können – Corona hat ihm mit der teilweisen Unterbrechung von Produktion und Lieferketten den Stoß auf eine Rutschbahn versetzt, von der wir nicht wissen, wo sie enden wird. Es wird womöglich die Katastrophe einer ungeheuren Arbeitslosigkeit auf die Menschen zukommen.
Werden die Gewerkschaften und ihre Mitglieder sich dann anders verhalten können, als sich für eine radikale Arbeitszeitverkürzung einzusetzen – und für Konversion von Produktion hin zu gesellschaftlich nützlichen Produkten?
Und ist es nicht denkbar, dass die Beschäftigten der Unternehmen, in die der Staat zur Rettung einsteigt, eine wirkliche Mitbestimmung einfordern? Die Flugbegleitergewerkschaft hat Forderungen in diese Richtung gestellt. Sollte der Anteil des Staatsfonds dann nicht empfindlich über die 25%-Marke gesteigert werden, die eine wirksame Einflussnahme ermöglicht, und die die Regierung bisher noch peinlich zu unterschreiten trachtet? Muss hier nicht auch die soziale Wende in die Köpfe der Regierenden? Erste Ansätze sind ja zu sehen: das Ersticken der Umwelt an den Auspuffgasen des Kapitalismus und die große Bewegung dagegen haben den Beginn einer Energiewende ins Handeln der Regierenden gezwungen. Sie legen sich nun sogar mit der mächtigen Autolobby an und verweigern ihr die Abwrackprämie.
Die Brennstoffzelle ist 1966 erfunden worden; die Wasserstofftechnologie wird aber erst jetzt gepuscht, und es ist der Staat, der sie puschen muss – damit ist über die Fähigkeit des Marktes, die gesellschaftliche Entwicklung zu steuern, alles gesagt. Und dass gewisse Fleischfabriken eigentlich enteignet und kommunalisiert werden müssten, kann auch dem begriffsstutzigsten Politiker nicht verborgen bleiben.
Dass das Regierungshandeln nicht so unzureichend und nachtrabend bleibt, dafür kann nur die immer größer werdende Protestbewegung sorgen, wenn sie die Masse der Beschäftigten erfasst. Noch können die Regierenden es sich leisten, die Unterschriften Hunderttausender von Petitionsunterstützern in den Papierkorb wandern zu lassen, und die Volksentscheide zum Gesundheitssystem in die Schubladen von Verwaltung und Gerichten.
Wenn die Arbeitenden in Bewegung kommen und sich für starke staatliche Beteiligung an den Unternehmen einsetzen, die „too big to fail“ geworden sind, und für ihre eigene Mitbestimmung der Unternehmenspolitik – dann wären wir ein Stück vorangekommen auf dem Weg zum alten Traum der Arbeiterbewegung, dass die wirklichen Sachverständigen gemeinsam und in großer Zahl bestimmen, wie gearbeitet und was produziert wird. Das wird die BMW-Aktionäre und die Bahlsen-Erben wenig freuen, und große Widerstände muss man einkalkulieren. Und wir müssen mit großzügig finanzierten Gegenkampagnen rechnen, die jede soziale Forderung ablehnen mit Hinweis auf die große Verschuldung, die ja zur Rettung „unserer Wirtschaft“ nötig war. Unserer? Nur die Solidarität der vielen kann da die Rettung bringen, und so mancher heute noch zögerliche Gewerkschafter wird wohl über seinen eigenen Schatten springen.
Ob die Beschäftigten es schaffen, Schritte auf dem Weg in eine bessere Zukunft durchsetzen, oder ob sie sich wieder mit einer gesellschaftlich untergeordneten Position zufriedengeben – einer untergeordneten Position, die sie beispielsweise zwingt, mitten in der höchsten Ansteckungsgefahr der Corona-Epidemie im Dreischichtbetrieb U-Boote zu bauen – das hängt von der Stärke ihrer Bewegung ab.
Die GesundheitsarbeiterInnen sind die ersten, die für ihren Arbeitsbereich die Bestimmung durch die Marktlogik mehrheitlich ablehnen, und dafür bereits die gesellschaftliche Hegemonie in den Köpfen erreicht haben. Und sie haben mit dem System der Teamdelegierten eine alte Form der Arbeiterdemokratie bereits wieder neu erfunden. Sie brauchen die Unterstützung aller anderen Arbeitenden. Jetzt wird ihnen auch noch die versprochene Corona-Prämie verweigert. Wenn die Pandemie vorbei ist und Massenaktionen wieder möglich werden, sollten die Verantwortlichen, die Profiteure und ihre Helfer sich warm anziehen.
Die vorliegenden Interviews sind eine Momentaufnahme. Welche Stellung in der Gesellschaft die Beschäftigten erobern oder in welche Stellung sie sich zurückdrängen lassen, das entscheiden letztendlich sie selbst. Sie sind diejenigen, auf deren Arbeit diese Gesellschaft beruht.
Klaus Dallmer, Juni 2020
Markt zerfrisst Gesundheitswesen! – Stimmen aus einem zornigen Bereich
von Klaus Dallmer [Hg.]
256 Seiten
12,00 €
Verlag Die Buchmacherei
ISBN 978-3-9822036-4-5
[1] Diagnosis Related Group. Im Jahr 2020 sind insgesamt 1.292 DRGs für stationäre Krankenhausleistungen generiert worden.
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