Die geschilderten Konflikte bei dem Unternehmen ‚Gorilla‘ sind typisch für die Probleme, die die Beschäftigten derzeit in der sog. Plattform-Ökonomie[1] haben. Bevor wir auf deren Situation näher eingehen, wollen wir uns kurz mit den spezifischen Merkmalen dieses Unternehmenstyps befassen.
Was versteht man unter Plattform-Ökonomie?
Unter Plattform-Ökonomie versteht man eine in den letzten Jahren stark gewachsene Unternehmensform, in der Verträge zwischen Leistungsanbietern und Leistungsabnehmern auf Plattformen im Internet oder über Smartphone-Apps angebahnt und abgeschlossen werden.
Nicht mehr der persönliche Kontakt ist Voraussetzung für den Abschluss eines Geschäfts, sondern die digitale Einverständniserklärung zu einem Angebot, das nicht angeschaut oder berührt werden kann, sondern nur als Bild erscheint und textlich beschrieben wird. Bezahlung und Warenlieferung zum Kunden werden jeweils nach einem standardisiertem Verfahren abgewickelt.
Solche Unternehmen brauchen kaum Geschäfte der klassischen Art, wo man sich beraten lassen, die ausgesuchten Waren testen und anschließend selbst mit nach Hause nehmen kann. Nur selten bieten einige Firmen sog. Showrooms an, in denen sie ihr Angebot präsentieren.
Die Abkehr von Verkaufsstätten spart den Unternehmen erhebliche Kosten. An ihre Stelle sind riesige Hallen getreten, in denen die angebotenen Waren gelagert und nach Eingang einer Bestellung von sog. Pickern zusammengestellt werden. Zum Kunden gebracht werden sie je nach Art und Konzept der Firma von eigenen oder fremden Transportunternehmen, Paketdiensten oder Kurieren.
Neben Unternehmen, die Waren verkaufen, gibt es auch Firmen, die sich allein als Transporteur verstehen. Lieferando etwa bringt Essensgerichte von unterschiedlichen Restaurants zu Kunden. Manche vermitteln gar nur Dienste zwischen zwei Gruppen, ohne selber eigene Leistungen außerhalb der Plattform anzubieten. Andere bieten über Plattformen Aufträge an, die am heimischen PC erledigt werden müssen.
Unternehmen der Plattform-Ökonomie dringen in immer mehr Lebensbereichen vor. Inzwischen ist es möglich, sich nahezu alle Dinge des Alltags liefern zu lassen. Zeitaufwendige Fahrten zu Verkaufsläden entfallen. Ob der Wochenendeinkauf im Supermarkt, die Getränkeversorgung für den Partyabend, die Pizza für die Kleinfamilie, fast alles, was der Durchschnittshaushalt benötigt, kann mittlerweile über Plattformen geordert und bis an die Wohnungstür gebracht werden. Die Corona-Pandemie hat diesen Unternehmen einen großen Wachstumsschub beschert.
Die Unternehmen beginnen in der Regel als Start-Ups mit einer interessanten Idee. Sie prüfen anfangs in einem engen Bereich die Funktionsfähigkeit ihres Konzeptes. Haben sie Erfolg, versuchen sie von vermögenden Einzelpersonen oder Kapitalanlagegesellschaften Geld für ihre Expansion zu bekommen. Können sie potentielle Geldgeber überzeugen, kommen schnell hohe Summen zusammen. ‚Gorilla‘ etwa hat bei einer Veranstaltung von Investoren 275 Millionen Euro bekommen.
Erhält ein Unternehmen solche Summen steigt unweigerlich sein Wert. Bei ‚Gorilla‘ ist der binnen eines Jahres von nahezu Null auf eine Milliarde Euro gestiegen. Mittlerweile dürften es etwa 2,5 Milliarden sein.
Ist ein Unternehmen auf Erfolgskurs, wollen die Geldgeber bald eine hohe Rendite einstreichen. Da gute Ideen schnell kopiert werden, wächst der Druck auf die Start-Ups. Geraten sie in Schwierigkeiten, weil sie das schnelle Wachstum mit dem häufig jungen und unerfahrenen Management nicht in Erträge umsetzen können, stehen Großunternehmen bereit, die Anteile erwerben oder gar das ganze Start-Up übernehmen. So hat sich jüngst REWE den ‚Gorilla‘ Konkurrenten Flink einverleibt.
Unternehmen der Plattform-Ökonomie sind Datenkraken
Das Interesse an der Übernahme von Unternehmen der Plattform-Ökonomie hat im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen können auf diesem Wege etablierte Firmen, ohne selbst ein großes Risiko eingehen zu müssen, sich zukunftsweisende Geschäftsfelder erschließen. Zum anderen erwerben die übernehmenden Gesellschaften so eine Unmenge von Daten sowie Algorithmen, mit denen ein erfolgreiches Geschäftsmodell entwickelt wurde. Im Kern spiegeln die hohen Summen, die bei solchen Transaktionen auf den Tisch gelegt werden, den Wert der Daten und die Technik ihrer Verarbeitung wider. Bezahlt wird die Komplexität der App.
Mit den Daten lassen sich alle möglichen Auswertungen erstellen. Sie reichen von Persönlichkeitsprofilen bis zu Sozialstrukturanalysen. Mit ihnen können die eigenen Verkaufsstrategien qualifiziert und Werbekampagnen zielgerechter gesteuert werden. Durch den Hinzukauf von weiteren Datenbeständen können neue Potenziale für das eigene Geschäft erschlossen werden.
Eigene Datenbestände können aber auch verkauft werden. Interessenten gibt es zuhauf, etwa bei Unternehmen der Werbesprache, die Verkaufsstrategien für Produkte entwickeln, bei Interessenorganisationen, die ihr Anliegen bekannt machen wollen oder bei Parteien, die Strukturdaten für ihre Wahlkampagne benötigen. Dass der Handel mit Daten mittlerweile ein lukratives Geschäft ist, lässt sich am Beispiel der Deutschen Post AG aufzeigen. So ist das Unternehmen zwar nach wie vor der größte Logistiker der Bundesrepublik und führend bei der Zustellung von Briefen und Paketen. Zugleich ist es aber auch der größte Datenhändler der Bundesrepublik, vielleicht sogar Europas.
Welche Macht diejenigen haben können, die eine App entwickeln, musste jüngst die chinesische Regierung erfahren. Als sich die Programmierer der Firma DIDI vor einiger Zeit zusammen mit denen der Nachrichtenagentur Xinhua den Spaß erlaubten, eine MINI App ins Netz zu stellen, mit der sie nach Auswertung aller Fahrten der Firma von und zu den Ministerien aufzeigten, in welchen Ministerien die meisten Überstunden gemacht wurden. Speziell werteten sie die Fahrten zum und vom Ministerium für Innere Sicherheit aus und spekulierten anhand der aktuellen Nachrichtenlage welche politischen Ereignisse wohl zu Mehrarbeit führten. Da DIDI, auf Deutsch kleiner Bruder, chinaweit aktiv ist und für sein Geschäft die persönlichen Informationen all seiner Mitarbeiter besitzt, deren Einträge ins Strafregister aus Sicherheitsgründen kennt, den Familienstand wie die Kontodaten seiner Fahrer gespeichert und unzählige Daten seiner Kunden registriert hat, wird schnell klar, dass mit deren Verknüpfung eine Gegenmacht zum Staat entstehen kann. Welche Bedeutung DIDI zwischenzeitlich gewonnen hat, lässt sich daran ermessen, dass das Unternehmen im Laufe von nur neun Jahren seinen Börsenwert von 0 auf 76 Milliarden Dollar steigern konnte.
Da DIDI, ohne sich mit der chinesischen Regierung abzusprechen, Kapital an der amerikanischen Börse aufnehmen wollte und damit für ausländische Unternehmen, Nachrichtendienste oder gar kriminelle Gruppierungen interessant wurde, stoppte die Regierung all seine Aktivitäten. Die Firmenzentrale in Peking wurde durchsucht und andere High-Tec Firmen ebenfalls schärfer kontrolliert.
In den Focus geriert auch die Preisbildung von DIDI. Etwa mussten Nutzer eines Apple-Handys mehr für die gleiche Leistung bezahlen als Nutzer eines Android-Handys. Das Unternehmen unterstellte den Apple-Nutzern ein höheres Einkommen und so eine größere Zahlungsbereitschaft. Ebenso wurden die Beschäftigungsverhältnisse bei DIDI vom Transportministerium geprüft. In der Mehrzahl gab es bei dem Unternehmen wie auch in Europa bei vergleichbaren Firmen prekäre Arbeitsverhältnisse und kaum Abführungen an die Sozialkassen. Die Beschäftigten hatten mehrfach gegen ihre Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen öffentlich protestiert. Mit den jüngst von der KP verabschiedeten „Leitlinien“ zu den „neuen Beschäftigungsverhältnissen“, die ein reguläres Arbeitsverhältnis mit Steuer- und Sozialversicherungspflicht zur Norm erklären, versucht China die Fehlentwicklungen in dieser Branche in den Griff zu bekommen.
Die Situation der Beschäftigten in der Plattform-Ökonomie
Die brutale Konkurrenz zwischen den Unternehmen der Plattform-Ökonomie ist der zentrale Grund, weshalb diese Firmen versuchen, an allen Ecken und Enden die laufenden Kosten zu drücken. Ein Mittel ist die Entlohnung. Je nach Marktlage wird gedrückt oder ein bisschen nachgegeben. Ein anderes die Einschränkung der Rechte der Beschäftigten. Stabile, durch Tarifverträge abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse hassen diese Unternehmen ebenso wie Betriebsräte, die ihre Handlungsfähigkeit einschränken. Gesetze achten sie nur, soweit dies unvermeidlich ist. Dabei können sie auf Behörden setzen, die kaum kontrollieren und noch weniger sanktionieren.
Intern kommunizieren die Manager im Wesentlichen über Plattformen. Die Beschäftigten bekommen über diese ihre Aufträge zugewiesen oder müssen sie darüber abrufen. Häufig werden ihnen über eine spezielle App auch die Zeitfenster für ihre Arbeitseinsätze mitgeteilt. Sie können die Angebote zwar ablehnen. Geschieht dies aber häufiger, müssen sie mit Nachteilen beim Einkommen rechnen. Ihre Boni zum Monatsende werden dann geringer ausfallen als bei denjenigen, die jederzeit Arbeitsaufträge annehmen. Die Jahresgratifikation kann gar entfallen.
So wie ihre Leistungsbereitschaft über die Plattformen für den Arbeitgeber transparent wird, können diese auch eine minutiöse Kontrolle der Arbeitsleistung durchführen. Über Standortdaten lassen sich Pausen nachvollziehen und Aussagen zur Intensität der Arbeitsleistung treffen. Die Fülle der digitalen Daten, die über die Plattformanbindung der Beschäftigten anfällt, lässt sie zu gläsernen Menschen werden.
Das Problem der Betriebsratsgründungen in der Plattform-Ökonomie
Damit aus den Auswertungen für die Beschäftigten wenigstens keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen gezogen werden können, wäre die Gründung von Betriebsräten ein geeignetes Mittel. Doch schon der Versuch, eine Wahl zu organisieren, stößt auf eine Vielzahl von Schwierigkeiten, wie wir es am Fall der Beschäftigten von ‚Gorilla‘ gesehen haben. Neben den Union-Busting-Methoden der Arbeitgeber ist das spezifische Problem in fast allen Unternehmen dieser Branche der arbeitsrechtliche Status der Beschäftigen.
Schon bei der Wahl eines Betriebsrates in einem solchen Unternehmen gibt es ein Hindernis für die Entstehung einer starken Vertretung. Laut Betriebsverfassungsgesetz dürfen nur diejenigen sich an der Betriebsratswahl beteiligen, die am Wahltermin mindestens ein halbes Jahr im Unternehmen beschäftigt sind. Besteht ein großer Teil der Mitarbeiter aus befristet Beschäftigten, so ist auch der Anteil derjenigen hoch, die noch kein halbes Jahr im Unternehmen sind.
Dass es hier ein grundsätzliches Problem gibt, ist dem DGB spätestens seit dem Bundeskongress 2018 bekannt. Dort trat Orry Mittermeier auf. Er hatte es erstmalig geschafft, in einem Unternehmen der Lieferbranche eine Betriebsratswahl durchzuführen. Er wurde als befristet Beschäftigter sogar zum Betriebsratsvorsitzenden der Firma Deliveroo in Köln gewählt. Doch nach und nach fielen seine Mitstreiter aus, da ihre Verträge nicht verlängert wurden. Schließlich musste er aufgeben, weil das Unternehmen ihn nicht weiter beschäftigen wollte[2].
Der Chefredakteur der gewerkschaftsnahen Zeitschrift Mitbestimmung Guggemos, der ein Bild Mittermeiers auf das Cover der Ausgabe 3’18 setzte, kommentierte die Haltung des DGB-Kongresses zu den Ridern: „Das „Parlament der Arbeit“ stärkte den Ridern mit einer Resolution den Rücken. Ihr Tenor: Es darf nicht sein, dass dieser Teil der Plattformökonomie des 21. Jahrhunderts ihren Fahrern Arbeitsbedingungen zumutet, die aus dem 19. Jahrhundert stammen.“[3]
Aber auch in vielen Großunternehmen, ja sogar in öffentlichen Institutionen wie etwa den Rundfunkanstalten, sind befristet Beschäftigte faktisch von der betriebsrätlichen Vertretung ausgeschlossen. Bei den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten beträgt ihr Anteil zusammen mit den aus anderen Gründen prekär Beschäftigten bis zu 50%[4]. Bei der Post liegt ihr Anteil über die letzten Jahre stabil bei etwa 15%.
Obwohl Bundesarbeitsminister Heil all diese Probleme kannte, hat er Lösungen dafür nicht in das jüngst verabschiedete ‚Betriebsrätemodernisierungsgesetz‘ aufgenommen[5].
Der Focus der politischen Argumentation muss allerdings auf die Änderung der Arbeitsverhältnisse gelegt werden. Erst die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung, die noch stärkere Einschränkung der sachbegründeten Befristung und das Verbot von Kettenarbeitsverträgen würde die Lage der Beschäftigten in der Plattform-Ökonomie deutlich verbessern. Der von Heil im April 2021 vorgelegte Gesetzentwurf zur Änderung des ‚Teilzeit- und Befristungsgesetzes‘ bringt in diesen Fragen keine substanziellen Verbesserungen.
Kolleg:innen organisieren sich
Da die Beschäftigten der Plattform-Ökonomie mittels des Betriebsrätegesetzes nicht in der Lage sind, eine stabile Interessenvertretung zu bilden, bleibt ihnen nur die Möglichkeit, eigene Koalitionen zu bilden, die selbständig in der Öffentlichkeit agieren und streikfähig sind. Die Aktionsbereitschaft von Belegschaften wie denen von ‚Gorilla‘ ist deshalb nicht Ausdruck einer prinzipiellen gewerkschaftsfeindlichen Haltung, sondern Notwehr.
Schon seit einiger Zeit agieren die Kolleg:innen von ‚Gorilla‘ nicht mehr individuell. Sie haben sich im ‚Gorillas Workers Collective‘ (GWC) zusammengeschlossen. Diese lose Organisationsform, in der im Wesentlichen über Telegram und Twitter kommuniziert wird, ist der Ausgangspunkt ihrer Aktivitäten. In Köln hatten es die Deliveroo Kolleg:innen um Orry Mittermeier ähnlich gemacht und sich über Facebook ausgetauscht, unterstützt hier von der NGG. Auch bei Domino in Dresden und bei Lieferando in Berlin gibt es ähnliche Gruppierungen, sicher noch in einer Vielzahl weiterer Städte.
Bei Lieferando existiert offensichtlich eine überregionale Zusammenarbeit. Auch in vielen Ländern Europas haben sich die Beschäftigten dieser Branche zusammengeschlossen. Besonders stark sind sie in Spanien organisiert.
Um über ihre Lage zu informieren, treten sie mittlerweile mit anderen Belegschaften in Kontakt und beteiligen sich an politischen Aktionen. So waren Vertreter des GWC bei den Protestaktionen der Krankenhausbeschäftigten und auf der Kundgebung vor dem Bundestag aus Anlass der Verabschiedung des Betriebsrätemodernisierungsgesetzes anwesend[6].
Vorläufiger Höhepunkt ihrer Vernetzung in der Bundesrepublik war ein in mehreren Städten organisierter Aktionstag am 13. August, an dem sich Beschäftigte diverser Lieferdienste beteiligten. Er wurde koordiniert vom Verein ‚arbeitsunrecht‘.
Streik- und Koalitionsrecht für Plattformbeschäftigte
Rechtlich gesehen bilden diese Zusammenschlüsse jeweils eine adhoc-Koalition. Streiks von solchen Gruppierungen sind nach herrschender Rechtsauffassung ‚wilde Streiks‘. Eine Gewerkschaft, die zu solchen Arbeitsniederlegungen aufruft oder es hinnimmt, dass ihre Mitglieder derartige Streiks organisieren, kann, wie vor Jahrzehnten die IG Metall, für die Streikfolgen haftbar gemacht werden.
Die Unterscheidung zwischen ‚wilden‘ und ‚legalen‘ Streiks geht zurück auf die Frühphase der Bundesrepublik. Sie wurde im Wesentlichen durch den Arbeitsrechtler und späteren Präsidenten des Bundesarbeitsgerichtes Hans Carl Nipperdey definiert. Seine Auffassung von den beschränkten Rechten der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften ist allerdings nicht neu. Er hat sie bereits 1934 vertreten, als er Mitverfasser des 1934 erschienenen grundlegenden Werkes zum faschistischen Arbeitsrecht, dem ‚Arbeitsordnungsgesetz‘ war[7].
Folgt man Nipperdey sind Streiks nur dann rechtmäßig, wenn sie von einer Gewerkschaft getragen werden und diese Forderungen aufgestellt hat, die in einen Tarifvertrag münden können. Nur eine nicht tarifvertragsfähige Forderung in einem Katalog von Streikzielen kann dazu führen, dass der Arbeitskampf für illegal erklärt wird. Nach dieser Rechtsmeinung, die bis heute im Wesentlichen gilt[8], sind Streiks mit politischen Forderungen gesetzeswidrig.
Diese Rechtsauffassung steht dem Grundgesetz entgegen, dass derartige Beschränkungen nicht kennt. Zur ‚Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen‘ sind nicht zwingend Gewerkschaften erforderlich. Das Grundgesetz sprich lediglich von Vereinigungen. Das können auch adhoc-Koalitionen sein. Nur bei der Frage der Streikziele zieht das GG engere Grenzen, indem es den Schutz nur denjenigen Vereinigungen gewährt, deren Forderungen sich auf die gegebenen „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ beziehen. Berücksichtigen Interessenverbände dies, können sie auch Forderungen aufstellen, die zur Änderung von politischen Entscheidungen, Gesetzen oder Verordnungen führen.
Entsprechend sind auch die Regelungen der ILO[9] und der europäischen Sozialcharta[10] formuliert. Beide garantieren den Beschäftigten Organisationsfreiheit und damit auch das Streikrecht. Die Bundesrepublik hat beide Abkommen ratifiziert, will sie aber nicht vollständig anwenden. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund interessant, dass die BRD mit erhobenem Zeigefinger ständig andere Länder ermahnt, internationale Rechtsabkommen einzuhalten.
Doch allein der Verweis auf diese Rechte wird den Beschäftigten nicht helfen, sie durchzusetzen. Sie treffen in der Bundesrepublik auf eine gefestigte Rechtsprechung. Sie müssen sich neue Wege überlegen, um das Streikrecht von seinen aktuellen Fesseln zu lösen.
Trotz aller Bekenntnisse zum Politischen Streik ist etwa ver.di bis jetzt nicht bereit, eine Arbeitsniederlegung mit politischen Forderungen zu unterstützen und dann, im Falle eines Verbotes durch die deutschen Gerichte, einen Musterprozess bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu führen. Anders wird sich in der nächsten Zeit nicht klären lassen, ob der § 6 (4) der Europäischen Sozialcharta auch in der Bundesrepublik Anwendung findet. Mit einem ausgewählten Betrieb und einer kalkulierten Begrenzung der Haftung, lässt sich dies prüfen, ohne dass die Organisation gefährdet ist[11].
Rechte der Beschäftigten werden in der EU diskutiert
In der EU wird derzeit hart gerungen um den Status der Beschäftigten der Plattform-Ökonomie. Nachdem in Spanien der Oberste Gerichtshof die Rider als Festangestellte eines Unternehmens gesehen hat, will nunmehr die spanische Regierung dies in einem Gesetz festschreiben.
Als dies bekannt wurde, schrillten die Alarmglocken der Firmen dieser Branche. Sie setzen ihre Lobbyorganisationen in Bewegung, um auf höchster Ebene der EU zu verhindern, dass eine Festanstellung zur Regel wird. Daraufhin hat die zuständige Kommission die „Sozialpartner“ aufgefordert, bis zum Jahresende eine gemeinsame Position zu den Beschäftigungsverhältnissen in der Plattform-Ökonomie auszuhandeln. Sollten sich die Parteien nicht einigen, will sie Anfang 2022 selber eine Richtlinie verabschieden.
Auch in Deutschland ist mittlerweile Bewegung in die Frage gekommen. Der Protest von Lieferando-Ridern gegen die Befristung ihrer Arbeitsverträge und ihre öffentlich erklärte Bereitschaft, vor Gericht einen Rechtsstreit darüber führen zu wollen, hat bewirkt, dass das Unternehmen am Freitag, dem 13. August, verkündete, allen befristet Beschäftigten anzubieten, ihre Verträge zu entfristen.
Sicher spielen bei dieser Offerte auch unternehmensegoistische Motive eine Rolle. Lieferando möchte im aktuell boomenden Markt der Lieferdienste die eigenen Mitarbeiter stärker an sich binden. Dennoch, ohne den Druck der Klage und die Aktivitäten von Betriebsräten in einigen Orten, die noch aus der Foodora Zeit stammen[12], hätte sich das Unternehmen kaum bewegt.
Auch Fahrer von ‚Gorilla‘ wollen gerichtlich klären lassen, welchen Charakter ihre Arbeitsverträge haben. Gerade hat vor dem Arbeitsgericht Berlin die erste Verhandlung stattgefunden.
Schleichende Auflösung der traditionellen Arbeitsverhältnisse
Die Probleme der Beschäftigten in der Plattform-Ökonomie sind späte Folge der von SPD und Grünen umgesetzten Agenda 2010.
Mittlerweile gibt es etwa zehn bis fünfzehn Millionen Beschäftigte, die Opfer dieser Politik geworden sind. Ganze Branchen sind von den Änderungen im Arbeitsrecht betroffen. Sie entziehen sich fast vollständig dem gewerkschaftlichen Einfluss und der staatlichen Kontrolle. Selbst in Großunternehmen nimmt die Anzahl der Beschäftigten zu, deren Entlohnung und Beschäftigungsstatus nicht mehr denen der sog. Kernbelegschaften entspricht. Es besteht die Gefahr, dass schon bald die Stammbelegschaften ihre Position nicht mehr verteidigen können.
Da fast alle Unternehmen, die Lieferdienste anbieten, Gründungen der letzten Jahre sind, haben sie keine Bindungen an alte Tarifverträge. Auch fehlen die bei vielen älteren Unternehmen üblichen betrieblichen Leistungen.
Die Gewerkschaften haben bei den prekär Beschäftigten nur geringe Mitgliederzahlen. In den Unternehmen der Plattform-Ökonomie trifft dies noch mehr zu. Stellen sie sich nicht auf die neuen Verhältnisse ein, sind sie nicht bereit, sich den veränderten Kommunikationsformen zu öffnen und andere Aktions- und Streikformen als die traditionellen zu entwickeln, werden sie jüngere Beschäftigte nicht für die gewerkschaftliche Arbeit gewinnen können.
H.B., 09.09.2021
[1]Gelegentlich wird sie auch Gig-Ökonomie genannt
[2]Mitbestimmung 3’18, S. 18
[3]Mitbestimmung 3’18, S. 3
[4]Vgl. Arpo 4’21, S. 17
[5]Vgl. Arpo 4’21, S. 12
[6]Vgl. Arpo 4’21, S. 12
[7]Vgl. Arsti 212, S. 17f.
[8]Das Bundesarbeitsgericht hat lediglich Solidaritätsstreik als grundsätzlich zulässig erklärt, allerdings nur von Belegschaften, die wenigstens mittelbar von einer Tarifauseinandersetzung berührt sind.
[9]Vgl. das Übereinkommens 87 der ILO (International Labour Organisation), einer Unterorganisation der UN
[10]Vgl. § 6 (4) der Europäischen Sozialcharta
[11]Vgl. zu diesem Absatz Benedikt Hopmann, ‚Scharfe Waffe‘, JW 03.08.3021
[12]Der Konzern Takeaway hatte erst Lieferando und wenig später Foodora übernommen. Foodora ging dann in Lieferando auf.
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