Ein erster Kommentar zur Bundestagswahl 2021

„Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit
leicht beieinander wohnen die Gedanken,
doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.“
(Friedrich Schiller, Wallensteins Tod II, 2.)

Diese Ausgabe der Arbeiterpolitik erscheint kurz nach der diesjährigen Bundestagswahl. Eine kritische Wertung der Wahlergebnisse wird erst nach einer Regierungsbildung möglich sein, wenn nämlich erkennbar ist, welche Auswirkungen auf die soziale Lage der lohnabhängigen Bevölkerung zu erwarten sind. Deshalb beschränken wir uns hier auf einen kurzen Kommentar.

Das Wahlergebnis lässt – bei Ausschluss der AfD aus den Überlegungen – grundsätzlich drei Koalitionen für die Regierungsbildung zu: Eine große Koalition von SPD und CDU, diesmal allerdings unter Führung der SPD; ein Bündnis von SPD, Grünen und FDP (die Ampel); die sogenannte Jamaika-Koalition (CDU, Grüne, FDP). Die Entscheidung für die zweite oder dritte Option liegt bei den beiden kleineren Parteien – einigen sie sich untereinander über ihre Hauptforderungen, so haben sie – ja nachdem – die Wahl zwischen den beiden größeren Rivalen. Kommt es jedoch zwischen ihnen zu keinem Schulterschluss, so wird wahrscheinlich eine Wiederauflage der Großen Koalition zwingend. Dabei sind SPD und CDU/CSU keineswegs die großen Wahlgewinner – mit jeweils nur rund einem Viertel der abgegebenen Listenstimmen (SPD rd. 11,9 Mio., CDU/CSU 11,2 Mio.) können sie kaum noch als „Volksparteien“ bezeichnet werden; eine Benennung aus Zeiten, als sie Ergebnisse von zwischen 40 und 50 Prozent der Zweitstimmen erzielten.

Bei den Gesprächen zwischen den Grünen (14,8 Prozent) und der FDP (11,5) wird es um Positionen gehen, bei denen die politischen Forderungen mal mehr, mal weniger auseinander liegen. Das betrifft Klima- und Energiepolitik ebenso, wie Steuerpolitik, die Schuldenbremse im Grundgesetz, die Sozialpolitik im Allgemeinen, wie die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro oder die Erhöhung des Hartz IV-Satzes um 50 Euro monatlich, die Einführung einer Bürgerversicherung anstelle der bisherigen Zweigleisigkeit von gesetzlicher und privater Krankenversicherung; die Reform der Rentenversicherung (Kapitaldeckung) oder die Wohnungspolitik (Stichwort: Mietendeckel). Bei den meisten dieser Themen gibt es deutliche Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Parteien. Es wird aber wohl nicht in jeder Frage um die Alternative ja/nein gehen, sondern es sind auch Kompromisse bei Zielen und Verfahrensfragen erkennbar und erwartbar.

Die FDP würde sicherlich eine Regierung unter Führung der Unionsparteien vorziehen, mit denen sie größere Gemeinsamkeiten hat. Die Grünen sind in ihren sozialpolitischen Forderungen näher an der SPD. Die Umwelt- und Klimapolitik ist zur Zeit für alle vier Parteien kein zentraler Streitpunkt; Differenzen gibt es bei Fragen der Zeitschiene für die Erreichung bestimmter Ziele und den Verfahrensdetails einschließlich der Finanzierungsmodalitäten. Gerade dieser letzte Punkt wird in den schlussendlichen Koalitionsverhandlungen großes Gewicht haben – denn, wenn die grundgesetzliche Schuldenbremse für den Bundeshaushalt wieder greifen sollte, werden sich die meisten Ressorts auf Mindereinnahmen einstellen müssen.

Nach gegenwärtigem Stand sieht es nach einem Vorsprung der SPD beim Griff nach der Kanzlerschaft aus. Das hat zu tun sowohl mit der starken Position von Olaf Scholz in den Meinungsumfragen und der Geschlossenheit, mit der seine Partei hinter ihm steht, als auch mit der sichtbaren Zerrissenheit der Unionsparteien und der Unzufriedenheit in ihrer breiten Mitgliedschaft mit dem Kanzlerkandidaten Armin Laschet.

Für uns ist interessanter die Auseinandersetzung mit dem Wahlergebnis der Linkspartei. Diese ohnehin kleine Partei wäre mit 4,9 Prozent an der 5-Prozent-Hürde gescheitert, hätten nicht drei Direktmandate den Schaden begrenzt und ihr den Einzug in Fraktionsstärke gesichert. Im Jahr 2017 hatte sie noch 9,2 Prozent der Zweitstimmen bekommen. Dieses Mal hatte sie rd. 640 Tsd. Stimmen an die SPD verloren und rd. 480 Tsd. an die Grünen; aber es sind auch rd. 320 Tsd. in das Lager der Nichtwähler gewechselt. Sahra Wagenknecht, die vor den Bundestagswahlen mit ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ Kritik an einer moralisierenden Gesellschaftskritik in den Reihen ihrer Partei formulierte und die forderte, den Schwerpunkt auf die Verbesserung der sozialen Lage der Lohnabhängigen zu verschieben, wird sich möglicherweise durch das Wahlergebnis bestätigt sehen. Aber das wäre zu kurz gegriffen. Wagenknechts Kritik selbst ist ein wenig zu abstrakt geraten: Sie erklärt nämlich nicht, wieso eine solche Haltung in ihrer Partei so maßgeblich werden konnte. Tatsächlich wird die Politik und das Auftreten einer jeden politischen Partei nicht in erster Linie von ihren Wählern bestimmt, sondern von ihren Mitgliedern – und zwar den aktiven Mitgliedern, den Aktivisten. Das sind auch bei der Linkspartei nicht überwiegend oder in großer Zahl „normale“ Arbeiter und Angestellte, sondern häufig Jüngere – Studenten oder auch Hochschulabsolventen auf der Suche nach einem interessanten und gut bezahlen Job in den Parteibüros oder bei Abgeordneten; ferner Menschen, die ihre persönlichen politischen Vorstellungen umsetzen möchten, die aber im allgemeinen keine Milieus repräsentieren, in denen sie eine Rolle spielten. Vor allem gibt es – neben den „Umweltaktivisten“ – keine einigermaßen stabile soziale und politische Bewegung, in der, über den eigenen Betrieb hinaus, um sozialen oder politischen Einfluss gekämpft wird. Das erklärt einerseits eine starke konservative Haltung in der lohnabhängigen Bevölkerung (früher hätte man gesagt: der Arbeiterschaft – aber wer wäre das heute?) und andererseits die hohe Wechselbereitschaft bei Wahlen, die in den Wählerwanderungen zutage tritt. Es lässt auch erahnen, wie es kommt, dass bei dieser Bundestagswahl die Linkspartei abgeschlagen bei 6,6 Prozent der Stimmen der Gewerkschaftsmitglieder liegt, während die Grünen (13,0), die FDP (9,0) und gar die AfD (12,2) weit vor ihr liegen. Das kann nicht die Schuld von moralisierenden Gutmenschen in der Linkspartei sein. Eine politische Partei, die mehr ist, als eine Sekte, kann nur dann gesellschaftliches Gewicht entfalten, wenn sie Ausdruck eines tätigen Willens der sie tragenden gesellschaftlichen Klasse oder Schichten ist. Nennenswerte soziale Reformen (von revolutionären Zielen nicht zu reden) setzen erfolgreiches Engagement, soziale Kämpfe dieser Kräfte gegen die konservativen Mächte voraus. Wo Interessen der lohnabhängigen Klassen gegen die Interessen der herrschenden Klassen der Unternehmer gerichtet sind, und wo diese nicht zu Kompromissen bereit sind, wird nie der Stimmzettel, sondern nur der gewerkschaftliche oder politische Kampf Erfolge zeitigen. Aber ohne diese Kampfbereitschaft wird auch keine linke Partei eine wirkliche Lebensgrundlage haben.

(02.10.2021)


aus Arbeiterpolitik Nr. 5/6 2021

2 Kommentare

  1. Ich bin mir gerade nicht sicher, mit welchem Background oder mit welcher Intention dieser Artikel geschrieben wurde. Sollte er dazu dienen, die vielen ehrenamtlichen engagierten Mitglieder als karrierelüsterne Möchtegern-Akademiker zu diskreditieren, ist der Artikel auf einem guten Weg.

    Fakt ist: Der Großteil der Aktiven sind Lohnabhängige, Menschen mit Familien, Menschen verschiedenster Milieus, die im Leben stehen. Wie ihr auf das schmale Brett kommt, würde mich einmal ernsthaft interessieren.

  2. Ihr Kommentarv entspricht voll meinem Eindruck von den Linken. Ich wählte sie nur, weil ich keine Alternative hatte, nicht aus Überzeugung. Sahra spricht mir mit ihrem Buch voll aus der Seele. Wo ist in der Linken ein Obdachloser, ein Hartz-IV- oder Grundsicherungsbezieher vertreten, der den hoch besoldeten Mandatsträgern das von SPD, Grünen, CDU und FDP geschaffene Elend schildert? Welcher Mandatsträger kennt die Situation eines Menschen, dessen Wohnung zwangsgeräumt vom „sozialen Bundesstaat“ (Art. 20,1 GG) wird oder der ohne elektrischen Strom vegetieren muss?

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