Während der ersten Corona-Welle mit Lockdown im Frühjahr 2020 hat uns Hilde verlassen. Leider musste deshalb der Abschied in sehr kleinem Rahmen stattfinden.
Da in den nächsten Wochen ihre Lebenserinnerungen „Abschiede, Aufbrüche – Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend in Hamburg 1926 – 1949“ im Junius Verlag) erscheinen werden, möchten wir – wenn auch sehr verspätet – an Hilde erinnern.
Hilde wurde am 2. Mai 1926 in Hamburg – Barmbek geboren. Ihre sehr jungen Eltern entstammten der Arbeiterjugend der Weimarer Republik und so erlebte sie bereits in ihren ersten Lebensjahren alle denkbaren materiellen Unsicherheiten, aber auch den Wissensdurst und die Freude an der Musik und Literatur. Da ihre nach Scheidung alleinstehende Mutter arbeitsbedingt oft abwesend war, hat ihre Großmutter deren Rolle liebevoll übernommen.
Hilde hat es immer als Glück bezeichnet, an einer Hamburger Reformschule – der Schule Burgstraße – ihre Schulzeit verbringen zu dürfen. Schmerzlich musste sie miterleben, wie diese von ihr hoch geschätzten pädagogischen Neuerungen schrittweise nach der Machtübernahme der Nazis verschwanden. Der Beginn des 2. Weltkrieges, die schweren Bombardierungen im Sommer 1943, Umzüge und Evakuierungen markierten dramatische Veränderungen in ihrem Leben, die dank ihres hervorragenden Gedächtnisses eindrucksvoll nachzulesen sind. Über ihre Familie sagte sie: wir waren nicht im Widerstand, aber wir haben widerstanden.
Da während des Krieges an einen Schulabschluss überhaupt nicht zu denken war, hat Hilde bereits im Frühjahr 1945 eine Schwesternausbildung im AK St. Georg begonnen. Auch der Wiederaufbau der Gewerkschaften begann langsam, unterstützt und kontrolliert durch die britische Besatzungsmacht in Hamburg. Bedingt durch eine schwere Erkrankung konnte Hilde ihre Ausbildung nicht beenden und unterstützte, soweit wieder langsam genesen, ihre große Familie.
Ein beruflicher Einstieg erfolgte dann, nachdem sich die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) 1947 gegründet hatte. Dort begann sie 1948 als Schreibkraft für verschiedene Abteilungen und setzte sich früh für die Wahl einer eigenen Interessenvertretung innerhalb der ÖTV ein. Dies wurde dann Anfang der 60er Jahre Realität und Hilde wurde in den ersten Betriebsrat der ÖTV-Hamburg gewählt. Gelernt hat sie für ihre weitere politische Entwicklung von Kollegen, die noch Erfahrungen aus der Weimarer Republik nach dem Krieg weitergeben konnten.
Nach beruflichen Etappen in mehreren Städten kehrte sie 1954 nach Hamburg zurück und blieb bis zu ihrer Rente 1982 in verschiedenen Funktionen bei der ÖTV-Hamburg beschäftigt. Dort kam 1955 ihre Tochter zur Welt. Vater und Mutter lebten in einer sehr intensiven Fernbeziehung, Hilde verstand sich nie als ‚alleinerziehend‘, trotzdem hatte sie die Aufgabe zu bewältigen, dem Kind sowie ihrem Beruf mit ausgedehnten Arbeitszeiten gerecht zu werden.
Die Vereinnahmung der Gewerkschaft durch die SPD in Hamburg machte es für den kleinen Kreis derjenigen, die ihre gewerkschaftliche Haltung konsequent bewahrten, nicht leicht.
In den 60er Jahre begann Hildes Kontakt zur Gruppe Arbeiterpolitik, wo sie alte Freunde wieder traf und neue Kontakte knüpfen konnte. Hier fand sie Gleichgesinnte und Unterstützung sowie einen Diskussionszusammenhang über aktuelle Tagesfragen hinaus.
Innerhalb der ÖTV entstand der Frauentreff, an dem auch Mitglieder ohne gewerkschaftliche Funktion teilnehmen konnten, von Hilde freudig begrüßt und unterstützt. Es folgte eine Vielzahl von Aktivitäten, bei denen stets die Lage von Frauen in den aktuellen gewerkschaftlichen und politischen Kämpfen Beachtung fanden. Als Beispiele seien die Unterstützung der Ehefrauen des für ein Jahr besetzten Zementwerks in Erwitte 1975 und der britische Bergarbeiterstreik 1984/85 genannt. 1983 wurde Hilde Mitglied im Freundeskreis des Museums der Arbeit und begleitete während ihrer 37-jährigen Vereinsmitgliedschaft aktiv die Gründung und Entwicklung dieses Museums. Auch hier waren es Frauenfragen, denen ihr besonderes Interesse galt.
Ihren 75. Geburtstag nahm Hilde zum Anlass, Freundinnen und Freunde aus den verschiedenen gesellschaftlichen Arbeitsbereichen um sich zu versammeln – und es kamen sehr viele – um mit ihr zurück, aber auch in die Zukunft zu blicken.
Eine besonders prägende Zeit ihres Lebens – Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus – haben Hilde zu einer Haltung gebracht, alles Menschenmögliche dafür zu tun, Kriege zukünftig zu verhindern. Die gesellschaftliche Realität allerdings entwickelte sich in eine diametral entgegengesetzte Richtung. Hilde unterstützte verschiedene Solidaritätsbewegungen. Besonders nahe ging ihr der erste Angriffskrieg Deutschlands seit 1939 zur Zerschlagung Jugoslawiens im Jahr 1999, die erneute Bombardierung Belgrads bereiteten ihr schlaflose Nächte. Mit dem von ihr verfassten eindrucksvollen Tondokument „als unser Kindsein zerbrach….“ sammelte sie damals Spenden für eine Rotkreuz-Station im Kriegsgebiet Jugoslawien in Zusammenarbeit mit der Gruppe ‚Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter gegen den Krieg – Dialog von unten statt Bomben von oben‘ und trug es am Antikriegstag im Museum der Arbeit vor. Für ihr inneres Gleichgewicht war es immer wichtig, nicht bei den furchtbaren Ereignissen stehen zu bleiben, sondern ein positives Handeln zu entwickeln.
In der Gruppe Arbeiterpolitik, in der sie Jahrzehnte lang aktiv mitgearbeitet hat, gehörte sie nicht zu denjenigen, die große Reden hielten, in der ersten Reihe standen. Sachlich, themenbezogen, auf eine feine, präzise Sprache und Ausdrucksweise in ihren Diskussionsbeiträgen bedacht, erledigte sie unendlich viele Arbeiten ‚hinter den Kulissen‘. Es wurde Geld verwaltet, die Zeitung korrigiert und per Hand zusammen gelegt, Veranstaltungen besucht und auf Gruppenabenden davon berichtet, Genossinnen und Genossen in schwierigen Lebenslagen einfühlsam begleitet. All das zu tun war für Hilde selbstverständlich. Vieles geschah hier ‚im Verborgenen‘, erfuhr mitunter nicht die Anerkennung, die angemessen gewesen wäre.
So vergingen die Jahre, Hilde verfasste Texte für Trauerreden und Briefe an trauernde Angehörige, wenn Freundinnen und Freunde gestorben waren. Da sie ihre schwindenden Kräfte sehr gut einschätzen konnte, verließ sie in den letzten Jahren nur noch selten ihre Wohnung und holte sich ‚die Welt‘ ins Haus. Sie verfolgte die politischen Ereignisse intensiv und freute sich über Besuche. So trafen wir uns in kleiner Frauengruppe jeweils am ersten Montag im Monat und versorgten Hilde mit allen möglichen Nachrichten. Ihre Beiträge zu unseren lebhaften Gesprächen und Erzählungen wurden weniger, aber die Freude, an unserem Leben ein wenig teilnehmen zu können, war bis zuletzt erkennbar.
Als selbst das so intensiv betriebene Lesen von dicken Büchern mühsamer wurde, gewann ihre lebenslange Freude an der Poesie mehr Gewicht. Ein kleiner Gedichtband ‚Gedichte, die glücklich machen‘ lag immer griffbereit in ihrem Wohnzimmer.
So hat uns Hilde verlassen. In Erinnerung bleiben wird uns ihre einfühlsame Sicht auf Menschen und ihre Lebensumstände, ihre positive, zugewandte Art, ihr Eintreten für Gerechtigkeit und das Verbindende, ihre selbstverständliche Unterstützung, wenn Hilfe nötig war.
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