16. April 2022 – Ostermarsch Kassel

Korrespondenz

Schon Tage vor dem Ostermarsch in Kassel hatte es heftige Angriffe darauf in der Kasseler Tageszeitung HNA gegeben, ja es wurde geradezu vor einer Teilnahme gewarnt, denn durch eine Teilnahme stelle man sich auf die Seite Putins. Einer der Hauptscharfmacher gegen den Ostermarsch war ein Bundestagsabgeordneter der Grünen, Boris Mijatovic, ehemals Vorsitzender der Grünen in Kassel. Er attestierte dem Kasseler Friedensforum „Verantwortungslosigkeit“, weil es den Aufrüstungskurs der Bundesregierung kritisiere und „Verständnis “ für die Sicherheitsbedürfnisse des Gegners Russland aufbringe. Statt Verständnis sei vielmehr Entschlossenheit gefordert und dies bedeute eben auch Waffenlieferungen an die Ukraine. Allerdings erhielt auch ein Sprecher des Kasseler Friedensforums die Gelegenheit auf die Anwürfe des Grünen zu antworten. Er betonte den Grundkonsens des Kasseler Friedensforums: Verurteilung des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine ja, aber gegen Waffenlieferungen und weitere Aufrüstung. Zitat:“ Denn jeder Euro für einen Panzer und eine Kampfdrohne ist verlorenes Geld, das beim dringend notwendigen sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft fehlt.“

Aufgrund der Denunziationen des Ostermarsches schon im Vorfeld war die Besorgnis groß, dass nur wenige Teilnehmer:innen kommen würden oder dass Gegner die Kundgebungen stören könnten. Aber diese Sorge erwies sich als unberechtigt: Als die beiden Demonstrationszüge sich an einem zentralen Platz zu einer ersten Kundgebung trafen und dann gemeinsam zum Kasseler Rathaus weiterzogen, wurden etwa 1000 Demonstrierende gezählt. Für die 200 000 – Einwohnerstadt Kassel eine durchaus beachtliche Zahl. Deutlich wurde auf vielen Transparenten und selbst gemalten Schildern das 100 Milliarden -Sondervermögen für die Bundeswehr kritisiert: 100 Milliarden für Pflege, Renten und Bildung wurden gefordert, nicht aber für Aufrüstung und Krieg. „Nein zum Krieg – Nein zur Aufrüstung“, „Nieder mit den Waffen“, „Nationalismus führt zum Krieg“, „Gegen jeden Imperialismus“, waren weitere Parolen.

Auch die beiden Hauptredner: Rolf Becker, der als langjähriger Friedensaktivist, Gewerkschafter und Schauspieler vorgestellt wurde und Michael Müller, SPD-Mitglied und ehemaliger Bundestagsabgeordneter, heute Vorsitzender der Naturfreunde, wurden mit viel Beifall bedacht. Beide kritisierten mit scharfen Worten die Aufrüstungsspirale, die Waffenlieferungen und die damit einhergehenden Eskalationen und Verlängerungen des Krieges. Scharfe Kritik übte Müller an der Aussage von Graf Lambsdorff, die Friedensbewegung sei die fünfte Kolonne Putins. Nicht ein Zuviel an Friedens-und Entspannungspolitik habe zur Krise geführt, sondern zu wenig davon. Wie die HNA schrieb: Unüberhörbar auch die Kritik Rolf Beckers an NATO und USA.

Bemerkenswert : Alle blieben bis zum Ende der Kundgebung vor Ort, viele noch darüber hinaus, um zu diskutieren. Ein Zeichen dafür, wie dieser Krieg bewegt, nach Antworten und nach Orientierung suchen lässt.

Die Rede von Rolf Becker drucken wir im Folgenden ab.

Kassel, 20.04.22


Ein Redebeitrag von Rolf Becker

Dank für Euer Kommen trotz aller vorausgegangenen Diffamierungen unseres Anliegens – Dank, dass ich hier heute zu Euch sprechen darf. Ich freue mich sehr über die Transparente hier auf dem Platz, deren Aufschriften ich zustimmen kann – anders als in Hamburg, wo das Deutsche Schauspielhaus, geschmückt mit einer großen blaugelben Fahne und nachts zusätzlich blau-gelb angestrahlt in Leuchtschrift fordert „Solidarität mit der Ukraine“. Widerspruch meinerseits und ich denke auch Eurerseits: Unsere Solidarität gilt der leidenden Bevölkerung in der Ukraine, nicht dem Staat.

Seit mir bewusst wurde, was ich als Kind während des 2. Weltkriegs erlebt und erfahren habe, war mein Anliegen und bleibt es, dazu beizutragen, dass sich Vergleichbares nicht noch einmal ereignen kann – ich war 10 Jahre alt, als mit der Kriegsniederlage Deutschlands die faschistische Herrschaft der Nationalsozialisten endete.

Ich bin wie viele meiner Generation mit diesem Anliegen gescheitert. Wir haben die Wiederbewaffnung Westdeutschlands nicht verhindern können, aber jedenfalls Ende der 1959er Jahre Dank der Ostermarsch-Bewegung die atomare Aufrüstung Westdeutschlands. Nicht aber die Notstandsgesetze, nicht das Niederschlagen der Schüler- und Studentenbewegung nach 1968, nicht die gegen die Sowjetunion gerichtete Nachrüstung 1983 durch das Aufstellen der mit Atomsprengköpfen bestückten Pershing-2-Raketen, nicht die Kriegsbeteiligung des 1990 wiedervereinigten Deutschlands beim NATO-Überfall auf Jugoslawien am 24. März 1999, dem ersten Angriffskrieg Deutschlands seit 1938. Auch die damalige Zustimmung unserer Gewerkschaftsführung zum völkerrechts- und grundgesetzwidrigen Krieg konnten wir nicht verhindern – das „Ja“ zum Bombardement der Nato durch den damaligen DGB-Vorsitzenden Dieter Schulte ist bis heute nicht aufgearbeitet.

„Auf Macht wird es wieder hinauslaufen, und mir graut vor deutscher Macht“

warnte bereits 1947 Thomas Mann. Konkreter noch und heute besonders zu bedenken, Bertolt Brecht 1954:

„Die Kapitalisten wollen keinen Krieg
Sie müssen ihn wollen.
Die deutschen Kapitalisten haben zwei Möglichkeiten in einem Krieg:

1. Sie verraten Deutschland und liefern es an die USA aus.
2. Sie betrügen die USA und setzen sich an die Spitze.“

Die Antwort auf die von Brecht genannte Alternative steht noch aus.

Mit dem vom russischen Präsidenten Wladimir Putin angeordneten Angriff am 24. Februar eskalierte der seit 2014 schwelende Konflikt zwischen Russland und Staaten der NATO unter Führung der USA zum Krieg Russlands gegen die Ukraine. Die nicht auszuschließende Ausweitung des zurzeit noch lokal begrenzten Krieges zur militärischen Auseinandersetzung mit der NATO verlangt uns Antworten ab, zu denen ich versuchen will beizutragen.

Vorurteile, die von einem Großteil der Medien angeheizt werden, und moralische Empörung – so nachvollziehbar sie auch sein mögen – bringen uns dem Verständnis der Ursachen auch dieses Krieges nicht näher.

Unsere Frage kann nur lauten:

Was hat dazu geführt, dass die widersprüchlichen politischen Interessen zwischen Ukraine und NATO-Staaten einerseits und andererseits Russlands nicht mehr auf diplomatischem Weg durch Verhandlungen zu lösen waren, sondern zum Krieg führten – mit den sich von Tag zu Tag steigenden Zahlen der Opfer vor allem unter der Zivilbevölkerung, nicht nur der ukrainischen, auch der russischen innerhalb der Ukraine – mit den anwachsenden Flüchtlingsströmen, deren Leid trotz vielfacher solidarischer Hilfe kaum gemindert werden kann – mit der Schwächung der Volkswirtschaften auch von Ländern, die wie die Bundesrepublik bislang nur durch wirtschaftliche Sanktionen am Krieg beteiligt sind.

Zum Anliegen der russischen Regierung, seit mehr als 20 Jahren stets erneut von Putin geäußert: Stopp der NATO-Ost-Erweiterung, keine Stationierung von Militär und Waffen sowie permanente Truppenmanöver an den russischen Grenzen – sondern Sicherheitsgarantien für das eigene Territorium, auch im Interesse der angestrebten Weiterentwicklung von Handelsbeziehungen mit Westeuropa und der Erweiterung seines Einflussbereiches.

Stattdessen wurde die Ukraine von den USA zum antirussischen Frontstaat aufgerüstet – ohne formal NATO-Mitglied zu sein. Als unter Missachtung der Waffenstillstands-Vereinbarungen von Minsk seitens der Selensky-Regierung Truppen im Donbass-Gebiet zusammengezogen wurden, und laut OSZE etwa 100.000 Zivilisten nach Russland evakuiert werden mussten, war der Verhandlungsweg für Putin offenbar verbaut.

Zum Anliegen der NATO unter Vorgaben der US-Militärführung: Weiterführung der mit dem Jugoslawien-Krieg 1999 begonnenen Einkreisung Russlands, um die von der russischen Regierung angestrebte Ausweitung der Handelsbeziehungen mit Westeuropa und der Bundesrepublik zu verhindern. Das Mittel dazu erwies sich als wirksam: Die Erweiterung der Nato und die mit Milliardenbeträgen finanzierte Hochrüstung der Ukraine hatten den Krieg zur Folge – ein Krieg im Interesse aber ohne direkte militärische Beteiligung der USA und eines NATO-Staates. Das Opfer: die Bevölkerung der Ukraine.

Fazit meinerseits bis hier:
  1. Die wirklichen Gegner Russlands sind die USA und die NATO, auch wenn der Krieg Russlands gegen die Ukraine geführt wird.
  2. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist eine von den USA strategisch erzwungene Verteidigungsmaßnahme seitens der Putin-Regierung.
  3. Es stehen sich also zwei völlig unterschiedlich strukturierte imperialistische Staaten gegenüber. Die ökonomische Schwäche Russlands im Verhältnis zu den USA und seinen Verbündeten, auch seine Unterlegenheit im konventionellen Bereich seines Militärs wird ausgeglichen durch sein atomares Potenzial, dessen von Putin angedrohter Einsatz vorläufig noch dazu beiträgt die Ausweitung der lokalen Auseinandersetzung zum Dritten Weltkrieg zu verhindern. Hinzu kommt die vorerst nicht zu beantwortende Frage: wie wird sich China im Falle einer Ausweitung des derzeitigen Konfliktes verhalten. Ein nicht auszuschließendes militärisches Zusammengehen Russlands und Chinas hätte nicht absehbare Folgen für die USA und uns hier in Europa.
  4. Dessen ungeachtet wird in den Staaten der NATO, vor allem hier in der Bundesrepublik die Militarisierung in bislang noch nicht dagewesenem Umfang forciert – keineswegs nur von Frau Baerbock und Herrn Habeck. Dazu mit Christa Wolf, die in ihrem Buch »Kassandra« schrieb:„Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gibt, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde, unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen.“Die von Kanzler Scholz freigegebenen 100 Milliarden für die Hochrüstung der Bundeswehr, die sich längst von einer Verteidigungs- zu einer Angriffsarmee entwickelt hat, schaffen nicht mehr Sicherheit, sondern vergrößern die Gefahr, dass Deutschland zum Kriegsschauplatz wird. Bertolt Brecht, 1951, angesichts der beginnenden Remilitarisierung der BRD:„Wenn wir zum Krieg rüsten, werden wir Krieg haben“,

    und, an die deutsch-russische Geschichte erinnernd, in seinem Offenen Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller:

    „Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.“

  5. Dass die jetzt bewilligte ungeheure Summe in allen sozialen Bereichen fehlen wird und von der Bevölkerung aufgebracht werden muss, wird auch bei vielen unserer Gegner zum Nachdenken im Sinne unseres Anliegens führen: Widerstand gegen die geplanten Einschnitte, Nein zu Rüstung und Abbau sozialer Standards, Nein vor allem auch im Namen unserer Kinder, die um Bildung, Ausbildung, Arbeit und Perspektiven fürs Leben betrogen werden. Konsequenz kann nur sein, uns enger zusammenzuschließen, vor allem in der täglichen Kleinarbeit. Gegen Sozialabbau, für Frieden und Völkerverständigung: Kampf um Frieden ist Kampf gegen den Kapitalismus.
  6. Der bisherige Kriegsverlauf zeigt, dass sich die Medien hierzulande fast einhellig an den politischen Vorgaben der Bundesregierung orientieren – und die wiederum an Vorgaben aus Washington, wo CIA-Direktor Bill Burns am 10. März vor dem US-Senat erklärte: „Russland verliert den Informationskrieg um die Ukraine.“

Die Zahl der Zweifelnden an den angeblich unstrittigen Informationen von Sendeanstalten und Presse nimmt zu, ein gutes Zeichen, verbunden mit der Aufgabe für uns, soweit irgend möglich jeder Verfälschung von Sachverhalten und jeglicher Propaganda entgegenzutreten und entsprechend der Aufforderung von Rosa Luxemburg „Sagen, was ist!“

Die schweizer Zeitschrift „Zeitgeschehen im Fokus“ sah sich wegen der Ereignisse in Butscha, dem Vorort von Kiew, die als Massaker weltweit Russland angelastet wurden, zu folgender Erklärung veranlasst:

„Aufgrund der in den meisten Medien anhaltenden einseitigen Berichterstattung, die ausschließlich aus der Sicht der Ukraine kommt, hat sich die Redaktion dazu entschlossen, aktuelle Ereignisse, Hintergründe und weitere Zusammenhänge zum Ukraine-Konflikt zu beleuchten und zu analysieren.“

Dieser Erklärung folgt ein Interview mit dem schweizer Nachrichtenoffizier Jacques Baud, der zu dem angeblichen Massaker einleitend äußert:

„Laut westlichen Medienberichten war die russische Armee seit ungefähr drei Wochen im Gebiet von Butscha, hat aber die Stadt nicht vollständig besetzt. Hier stellt sich mir die erste Frage: Die russische Armee lebt drei Wochen ruhig in dieser Stadt und am letzten Tag entscheidet sie, diese Menschen zu erschießen. Warum sollte sie das tun? Das leuchtet mir nicht ein.“

Und weiter, auf Nachfrage:

„Am 30. März hat der letzte russische Soldat Butscha verlassen. Am 31. März, am Tag darauf, veröffentlicht der Bürgermeister von Butscha ein Video und sagt unter starkem Lachen, dass die Lage entspannt sei, die Russen seien weg. Er erwähnt keine Toten, kein Massaker, nichts davon. Zwischen dem 1. und 2. April sind laut der Nachrichten-Agentur Reuters ukrainische Verbände in der Stadt eingetroffen. Darunter waren Mitglieder der ASOW-Brigade, die Jagd auf Kollaborateure und Saboteure gemacht haben. Am 2. April, macht ein ukrainischer Blogger ein Video in der Stadt, aber er erwähnt kein Massaker. Erst am 3. April erscheinen plötzlich alle diese Leichen auf der Straße. Wenn man sich diese Videos gut anschaut, und ich habe das getan, dann sieht man, dass diese toten Menschen meistens ein weißes Band um den Arm gebunden haben. Diese weißen Binden wurden von den Russen empfohlen, um zu zeigen, dass man neutral ist und nichts gegen die russische Armee hat. Viele, die erschossen wurden, trugen diese weiße Armbinde. Was wirklich passiert ist, weiß man nicht, aber sehr wahrscheinlich wurden diese Menschen nicht von russischen Soldaten getötet. Die Ukrainer wissen, dass jedes Verbrechen Russland angelastet wird. Das ist extrem gefährlich. Ich muss betonen, ich weiß nicht, was dort genau geschehen ist, aber diese Indizien genügen mir, um in der Beurteilung der beiden Seiten vorsichtig zu sein.“

Aus dem bisher Vorgetragenem ergeben sich Unwägbarkeiten, die nicht nur uns, sondern einen Großteil der Menschheit betreffen: ein Krieg zwischen Russland und NATO würde, wie seit einiger Zeit auch von Politikern und in den Medien reflektiert wird, Europa zum Kriegsschauplatz machen. Der nach China ökonomisch größte Konkurrent der USA wäre damit ausgeschaltet: eine Möglichkeit, die in Washington angesichts der fortschreitenden Krise Teil der Planung zu ihrer Abwendung sein und auch in Kreisen der deutschen Wirtschaftsführung mitgedacht werden dürfte. Wir sollten in unsere Überlegungen einbeziehen.

„Die Achse der Welt ist verschoben. Werden wir sie einrenken?“

Diese Frage stellt sich für uns heute so dringend wie 1935 für Bertolt Brecht angesichts des drohenden Kriegsbeginns, der 1938 zum 2. Weltkrieg führte. Den dritten, das menschliche Weiterleben gefährdenden gilt es zu verhindern.

Mit Rosa Luxemburg:

„Wir als Proletarier haben uns gegen den Krieg zu wenden, gleichwohl ob Angriffs- oder Verteidigungskrieg. Wir erkennen in ihm eine Folge des Imperialismus, und wie den Imperialismus als Ganzes, so bekämpfen wir auch jede seiner Teilerscheinungen.“

Im Sinne des Aufrufs zur unseren heutigen Treffen:

Einstellung aller Kampfhandlungen. Zurück an die Verhandlungstische. Wir wissen:

„Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne
Es wechseln die Zeiten, da hilft kein‘ Gewalt.

Am Grunde der Moldau wandern die Steine…“


 

4 Kommentare

  1. Wer meint, Expansionismus und Grossmachtpolitik sei an die Himmelsrichtung („Westen“) gebunden…
    Wer meint, militärische Expansion sei unter Umständen gerechtfertigt…
    Wer meint, die gesellschaftliche Entwicklung seit 1945 sei eine endlose Kette von Niederlagen…
    Wer das meint, der sollte aufhören, anderen Menschen die Welt erklären zu wollen.

  2. Mit dem Satz in der Rede Rolf Beckers habe ich Bauchschmerzen: „Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist eine von den USA strategisch erzwungene Verteidigungsmaßnahme seitens der Putin-Regierung.“
    Alle Kriege seit spätestens 1945 wurden zu Verteidigungskriegen erklärt. Die NATO nennt ihre Angriffspläne z.B. auch Vorwärtsverteidigung. Es klingt so, als würde der Verteidigungscharakter den Angreifer entschuldigen. Was sagen wir denn, wenn demnächst Israel den Iran bombardiert mit der Begründung, es fürchte sich vor der iranischen Atombewaffnung? Sollen wir dann nicht auf die Straße gehen und zu Hause bleiben?
    In dem Artikel „Vorläufige Thesen zum Ukraine-Krieg“ hat die Arbeiterpolitik geschrieben, dass „Russland in die vom Westen aufgestellte Falle“ tappte. Man darf also nicht nur vom Fallensteller reden, sondern muss auch von dem sprechen, der hineintappt. Die Sowjetunion lief 1979 auch in die Afghanistan-Falle, als sie einmarschierte. Das trug nicht unwesentlich zu ihrem Kollaps bei. Auch diesmal entwickelt sich der Angriff für Russland selbst zu einem furchtbaren Desaster, ganz abgesehen davon, dass der Angriff die Ukraine zu einem antirussichen Nationalstaat auf vermutlich Jahrhunderte macht. Man muss sich also fragen, warum der russische Staat -kapitalistischer Rohstoffexporteur, bonapartistisch regiert- keinen anderen Weg wusste als einen Angriffskrieg zu beginnen.

  3. Per Email bekamen wir nachstehenden Leserbrief von Brigitte Domes:

    Rolf B. stellt mit der kritisierten These die russische Perspektive dar und die muss benannt und bekannt gemacht werden, auch wenn dies unter den heutigen Bedingungen eine Provokation darstellt und zum Widerspruch herausfordert. Dies ist vor allem deshalb wichtig, weil mit der einseitigen Kriegshetze gegenüber Russland die Zustimmung der Bevölkerung für Aufrüstung, die Lieferung schwerer Waffen und weiteren Sozialabbau erkauft wird.

    Ich zitiere hier ausführlich aus der Rede Putins vom 23. Februar zur Begründung des Krieges gegen die Ukraine, weil diese Zitate deutlich machen, dass in der Tat aus russischer Perspektive ein möglicher Angriff der NATO auf russisches Territorium zu einem frühen Zeitpunkt verhindert werden sollte. Wir sollten Putins Aussagen ernst nehmen und nicht voreilig als Kriegspropaganda abtun.

    Dass Rolf mit seiner These keineswegs einseitig den russischen Angriff rechtfertigt, macht Rolf mit einem Zitat von Rosa Luxemburg deutlich: “ Wir als Proletarier haben uns gegen den Krieg zu wenden, gleichwohl ob Angriffs-oder Verteidigungskrieg. Wir erkennen in ihm eine Folge des Imperialismus, und wie den Imperialismus als Ganzes, so bekämpfen wir auch jede seiner Teilerscheinungen.“

    Putin beginnt mit folgenden Worten:

    “ Es ist wohlbekannt, dass wir uns über 30 Jahre hin standhaft und geduldig bemüht haben, mit den führenden Staaten der NATO zu Übereinkünften über die Prinzipien einer gleichen und unteilbaren Sicherheit in Europa zu kommen. Als Antwort auf alle unsere Vorschläge haben wir entweder nur zynische Lügen und Betrugsmanöver erhalten, oder Versuche , uns zu erpressen und Druck auszuüben. Derweilen hat sich die Nordatlantische Allianz trotz aller unserer Proteste und Besorgnisse ohne Unterlass ausgeweitet.“

    Die Frage, die sich uns stellt, ist nun: Warum wurde die „Geduld“ gerade zu diesem Zeitpunkt offenbar so stark überstrapaziert, dass dieser Angriff auf die Ukraine der russischen Seite als notwendig erschien.

    Zu dieser Frage verweist Putin zunächst darauf, dass nach dem Zerfall der SU die Welt faktisch neu aufgeteilt wurde, die bis dahin geltenden Normen des Völkerrechts den Siegern hinderlich wurden. Die Folgen: Krieg gegen Belgrad, gegen Libyen, gegen den Irak, Massenmigration aus Nordafrika und dem Nahen Osten, Anwachsen des Terrorismus. Zitat: „Man gewinnt überhaupt den Eindruck, dass der Westen überall dort, wo er seine Ordnung einzuführen versucht, blutige, nicht heilen wollende Wunden und die Geschwüre des internationalen Terrorismus und Extremismus hinterlässt. In dieser Reihe stehen auch die unserem Land gemachten Versprechungen, die NATO „keinen Zoll“ nach Osten auszudehnen.“

    Das heißt, dass die russische Führung davon ausging, dass über kurz oder lang die NATO unter Führung der USA ihre „Ordnung“ auch in Russland einführen wollte. Aber da ein Regime-Change mit friedlichen Mitteln offenbar nicht zu erzwingen war, da die russische westlich orientierte Opposition ohne größeren Einfluss blieb, mussten andere Mittel her.

    Und eines dieser Mittel war nach russischer Sichtweise die Aneignung des Territoriums der Ukraine durch die NATO: „Das Problem besteht darin, dass in unserer unmittelbaren Nähe ein uns gegenüber feindlich eingestelltes „Antirussland“ aufgebaut wird, das vollständig von außen kontrolliert, mit Streitkräften von NATO-Ländern gespickt und mit modernen Waffen vollgestopft wird.“ (………) Das ist genau die rote Linie , über die wir mehrfach gesprochen haben. Sie haben sie überschritten. Alle uns vorliegenden Analysen sagen, dass der Zusammenstoß Russlands mit diesen Kräften unausweichlich ist. Es ist nur eine Frage der Zeit. Sie bereiten sich vor und warten auf den für sie geeignetsten Moment. Jetzt beansprucht die Ukraine sogar noch Atomwaffen. Das werden wir nicht zulassen.“ (zitiert nach junge welt: Auszüge der Rede des russischen Präsidenten am 23. Februar)

    Wenn M. davon spricht, dass Russland in die Falle des Westens getappt sei, weil der Krieg zum genauen Gegenteil dessen führe, was Russland eigentlich will, so setzt dies die Einschätzung voraus, dass die von Russland gesetzte „rote Linie“ oder die Befürchtung, die USA plane letztendlich mit Hilfe der Ukraine einen Angriffskrieg gegen Russland, gar nicht stimme, eben nur eine „Falle“ sei. Aber leider sprechen bestimmte konkrete Entwicklungen innerhalb und außerhalb der Ukraine dafür, dass die russische Einschätzung nicht von der Hand zu weisen ist.

    Als Reaktion auf den vom Westen unterstützten Maidanputsch , der erzwungenen Flucht von Janukowitsch, der einseitigen wirtschaftlichen und politischen Ausrichtung auf EU und NATO und der Etablierung einer Übergangsregierung, durch die alle wichtigen Staatsfunktionen von Russen „gereinigt“ wurden, machte sich unter der meist russischen Bevölkerung im Donbass ein erheblicher Unmut breit. Diese Proteste gegen ukrainischen Nationalismus verbunden mit einer „Entrussifizierung“ mündete in einen verheerenden Krieg zwischen der ukrainischen Armee und rechtsradikalen Milizen einerseits und prorussischen Separatisten andererseits , die für die Provinzen Luhansk und Donezk zumindest eine Autonomie forderten. Dieser Krieg forderte nach UNO-Angaben in den letzten acht Jahren mindestens 12 000 – 14 000 Tote, die meisten davon in den „Volksrepubliken“.

    Keinen Erfolg hatte das Minsker Abkommen, nicht zuletzt auch deshalb, weil die ukrainische Regierung sich weigerte, mit den Vertretern der „Volksrepubliken“ über einen Autonomiestatus und über die entsprechenden Verfassungsänderungen zu verhandeln und westliche Vertreter auf Kiew keinerlei Druck ausübten, im Gegenteil: Seit 2015 stand für die ukrainische Regierung die „Rückeroberung“ der abtrünnigen Provinzen und auch der Krim auf der Agenda.

    Selenski hatte am 24. März 2021 ein entsprechendes Dekret verabschiedet. Dazu die Berliner Zeitung vom 6.4.21:

    „In dem Dekret wird die Vorbereitung von Maßnahmen angekündigt, um die vorübergehende Besetzung der Krim und des Donbass zu beenden. Laut der staatlichen ukrainischen Nachrichtenagentur Ukrinform erhielt die Regierung den Auftrag, einen entsprechenden Aktionsplan zu entwickeln. “ Schon am Tag danach setzte Selenski die Militärdoktrin der Ukraine in Kraft, in der die ukrainische Integration in die NATO-Strukturen und die Mitgliedschaft in der NATO als Ziel formuliert ist. (Zitiert nach einem Vortrag von Lühr Henken : “ Der Ukraine-Krieg. Eine immense Herausforderung für die Friedensbewegung“, 5.4.2022) Allerdings wurde mit dieser Militärdoktrin nur das offiziell, was schon seit Jahren ein offenes „Geheimnis“ war: Die Aufrüstung der ukrainischen Armee und ihre Ausbildung durch NATO-Offiziere, also letztendlich ihre informelle Integration in NATO-Strukturen. Lühr Henken zitiert dazu die NZZ vom 15. 03.22 :

    “ Die USA haben über 3 Milliarden Dollar für die Ausrüstung und Ausbildung der Streitkräfte ausgegeben. Zudem wurde die Zusammenarbeit mit der NATO intensiviert, NATO-Offiziere bildeten 10.000 ukrainische Soldaten aus; die sowjetische Denkweise verlor an Bedeutung. Saluschni (der neue Oberkommandierende der ukrainischen Armee, L.H.) war einer der wichtigsten Fürsprecher eines NATO – Beitritts der Ukraine und trug zur Interoperabilität des Militärs mit NATO-Truppen bei. Vor der Invasion verfügte die Ukraine über 170 000 Soldatinnen und Soldaten sowie 100 000 Reservisten und Veteranen. Als Folge des Krieges in der Ostukraine sind viele Einheiten kampferprobt. Die Mentalität der Truppen hat sich seit 2014 komplett gewandelt.“

    Nicht erwähnt wird in der NZZ, dass die ukrainische Armee unterstützt wird von rechtsradikalen Milizen und vom sogenannten Asow – Bataillon, das vor allem an der Frontlinie zum Donbass hin und zur Verteidigung von Mariupol eingesetzt wird: Ultranationalisten und Rechtsradikale, die für die „Reinheit des ukrainischen Blutes“ kämpfen und innige Kontakte zu NAZIS in Europa pflegen, in Deutschland zum sogenannten 3. Weg. Diese faschistischen Einheiten, die in die Nationalgarde eingegliedert wurden und dem Innenministerium unterstehen, sind fanatische, opferbereite Kämpfer, denen von der Menschenrechtsorganisation der UN vorgeworfen wird, im Donbass schwere Verbrechen verübt zu haben, darunter Vergewaltigungen und Folter. Das Erkennungszeichen dieser rechten Truppe, die bis zu 5000 Mann umfassen soll, ist die Wolfsangel, die auch von SS-Divisionen benutzt wurde, was keinen Zweifel an ihrer politischen Ausrichtung lässt. Davon hören wir in den hiesigen Medien kaum etwas; stattdessen wird der ukrainische Botschafter Melnyk durch die Talkshows gereicht und von Bundestagsabgeordneten beklatscht, ein offizieller Repräsentant der Ukraine, der unverhohlen seine Sympathie für diese Nazis äußert und diese als „mutige Kämpfer „, die die Heimat verteidigen, bezeichnet.

    In seinem öffentlich geäußertem Hass auf alle Russen, steht er den rechtsnationalistischen Kräften sehr nahe. Er ist auch ein Verehrer von Stepan Bandera und legte 2015 an seinem Grab in München Blumen nieder. Das zeigt, in welchem Ausmaß rechtsnationalistische Kräfte die Regierungspolitik in der Ukraine seit Jahren bestimmen und die auch nach dem Krieg aufgrund ihrer Rolle in den Kämpfen, ihren Platz in der ukrainischen Gesellschaft einfordern werden.

    Begleitet wurde diese gegen Russland gerichtete Rechtsentwicklung mit einer Kampfansage gegen russische Kultur, russische Sprache, russische Denkmäler: Vor allem in der Westukraine wurden durch rechtsradikale Nationalisten alle Denkmäler, die an den Sieg der roten Armee über den Faschismus erinnerten durch „Helden“ der OUN ersetzt, allen voran durch Stepan Bandera. Das Schüren einer antirussischen Stimmung ging so weit, dass 2019 ein Sprachgesetz verabschiedet wurde, mit dem Ziel die russische Sprache vollständig zurückzudrängen. Überregionale Zeitschiften durften nur noch auf ukrainisch erscheinen, Radiosendern wurde verboten, russische Popmusik zu spielen, Mitarbeiter von Kliniken, Supermärkten, Behörden wurden verpflichtet ihre „Kunden“ auf ukrainisch anzusprechen.“ Verstöße gegen das „Recht auf Bedienung in der Landessprache können beim Sonderbevollmächtigten zum Schutz der Staatssprache gemeldet und im Wiederholungsfall mit Geldstrafen geahndet werden“. So beschreibt die FAZ vom 18.01.2022 in dem Artikel : Das Russische abwürgen“ die Situation.

    Ein weiterer Punkt, der zu erheblichen Bedrohungsängsten der russischen Regierung führen musste, ist die Tatsache, dass sowohl Selenski ( auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 19.02,22) als auch der Botschafter Melnyk damit drohten, dass die Ukraine nicht mehr auf Atomwaffen verzichten würden, falls die Ukraine keine Sicherheitsgarantien erhalte. Die Ukraine fühle sich dann nicht mehr an das Budapester Memorandum (1994) gebunden, das die Ukraine verpflichtete , die Atomsprengköpfe aus der SU abzuliefern. Ob die Ukraine tatsächlich in der Lage ist, eine eigene atomare Bewaffnung herzustellen, ist allerdings umstritten.

    Dies sind nur einige der Faktoren und Entwicklungen, die die russischen Militärs offenbar zu einem vorzeitigen Angriff auf die Ukraine bewogen haben, getrieben von der Vorstellung, dass man in überschaubarer Zeit mit einem Gegner zu tun hätte, der gemeinsam mit der NATO nicht nur die Krim zurück erobert, sondern auch russisches Territorium angreift. Dies allerdings würde einen europäischen Krieg auslösen, auch mit dem Einsatz von Atombomben.

    Dies ist der Hintergrund für die Aussage von Rolf, dass der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine eine von den USA erzwungene strategische Verteidigungsmaßnahme zum Vorteil der USA sei.

    • Brigitte bezieht sich in ihrer Antwort auf Manfreds Einwand auf die Rede Putins zum Einmarsch in die Ukraine. Vielleicht hat sie sie nicht ganz gelesen, denn sie verweist dabei auf Auszüge in der jw. Ich habe die ganze Rede gelesen und verstehe sie nicht als Begründung einer „Notwehr“, sondern als Rechtfertigung eines staatlichen, machtpolitischen, kurz: imperialistischen Feldzugs gegen ein anderes Land. Es handelt sich dabei, wenn es eine „Verteidigungsmaßnahme“ sein soll, um die „Verteidigungsmaßnahme“ des schwächeren Imperialismus auf Kosten der Bevölkerung der als Spielball zwischen beiden Lagern behandelten Ukraine. Die Argumente sind bekannt, sie werden durch Wiederholung nicht besser.
      Wie wäre es, wenn wir mal anfangen, von der rein zwischenstaatlichen Logik, die die Rede Putins durchzieht, zum großen Teil auch Rolfs Ostermarschrede und vollends Brigittes Text bestimmt, auf den klassenmäßigen Inhalt des Krieges zu sprechen zu kommen? Was ist hier das Kollektiv, auf das wir uns beziehen müßten: Putins Rußland? Selenskyis Ukraine? Die NATO?
      Ein historischer Vergleich möge hier nützen: In der Ukraine wurde zum Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Sieg der Bolschewiki, der zur Integration des erstmals geschaffenen ukrainischen Staates in die neu geschaffene Sowjetunion führte, in einer Weise gekämpft, die für die Bevölkerung ebenso blutig gewesen sein mag wie heute. Auch damals ging es in der Frage der staatlichen Zugehörigkeitum eine selbständige Ukraine, eine Orientierung an Rußland oder eine Einbeziehung in den „Westen“. Aber was war der soziale, der klassenmäßige Inhalt? Wofür kämpften die Bolschewiki? Allgemein gesagt kämpften sie für dieselben Ziele wie in Petrograd, Moskau, im Donbass, nämlich für Brot, Frieden, Aufbau des Sozialismus.
      Wofür kämpft Putin in der Ukraine? Allgemein gesagt für die selben Ziele wie in „seinem“ Rußland, nämlich für die Selbstbehauptung des kapitalistischen, imperialistischen Rußlands gegen den als übermächtig und übergriffig angesehenen und gefürchteten Westen. Putins Rede ist voll von großrussischem Nationalismus und peinlicher Geschichtsklitterung, die der Ukraine das abspricht, was ihm für Rußland selbstverständlich ist und was er für Lenins großen Fehler hält: eine eigene ukrainische Staatlichkeit. Das ist sein Bezugsrahmen. Das kann nicht der unsrige sein.
      Dieser klassenmäßige Inhalt macht den Unterschied. Die Bolschewiki kämpften im ukrainischen Bürgerkrieg für den Sozialismus. Heute liegen die Voraussetzungen dafür nicht vor, es ist nicht absehbar, ob und in welcher Perspektive sich ähnliches entwickeln könnte – in nächster Zeit und in diesem Krieg auf jeden Fall nicht. Das kann aber kein Grund sein, sich an die Rockschöße von Putin zu klammem und seine Logik zu übernehmen. Die kommunistische Linke hat andere Aufgaben, auch in der Friedensbewegung.

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