Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen:
Zweiter Wahlsieg in Folge für Schwarz-Grün

Da die Wahlbeteiligung so niedrig war – mit 55,5 Prozent ein historischer Tiefststand –, repräsentiert die nächste NRW-Landesregierung gerade mal ein Drittel der hiesigen Bevölkerung. Besonders niedrig war die Wahlbeteiligung dort, wo in den letzten Jahrzehnten stark deindustrialisiert worden ist (Beispiele Duisburg, Gelsenkirchen). Die Menschen dort haben also keine Hoffnung auf politische Veränderungen mehr. Hoch war die Beteiligung hingegen in Universitätsstädten oder den „besseren“ Wohnvierteln, wo man sich offenbar als Individuum der bürgerlichen Gesellschaft noch wahrgenommen und gut aufgehoben fühlt.

Die Zahlen – Rückgänge bei fast allen Parteien

Politisch der entscheidende Wahlsieger ist Ministerpräsident Wüst. Prozentual hat die CDU bei den Zweitstimmen von 35 auf 35,7 Prozent zugenommen. Noch wichtiger ist für ihn, dass er (falls nicht irgendetwas Unvorhergesehenes passiert) sein Amt behalten kann. Das hatten die Prognosen im Vorfeld nämlich noch anders gesehen: Da war zwar auch ein Plus für die Union ausgewiesen worden. Aber noch besser hätte es eigentlich für Rot-Grün aussehen sollen.

In absoluten Zahlen hat die CDU allerdings verloren: Statt 2.796.283 im Jahre 2017 stimmten nun nur noch 2.552.337 Wähler für sie, also etwa 250.000 weniger. Somit betrug der Rückgang bei den absoluten Zahlen für die CDU fast 8 Prozent. Perspektivisch wird sie darüber hinaus damit zu kämpfen haben, dass sie vor allem bei alten Leuten punkten konnte. Wüsts bisheriger Koalitionspartner, die FDP, ist gnadenlos untergegangen und nur knapp in den Landtag wieder eingezogen. Sie ging von 12,6 Prozent auf 5,9 Prozent zurück. Für sie betrug der Rückgang sogar fast 60 Prozent. In absoluten Zahlen waren es statt 1.065.307 nur noch 418.448, also fast 650.000 weniger.

Zugleich hat jedoch auch die SPD massiv verloren: von 31,2 auf 26,7 Prozent. Sie musste fast 750.000 abschreiben – ein Rückgang von 2.649.205 auf 1.905.033 Stimmen, darunter allein 300.000 an die Gruppe der Nichtwählenden. Auch für die SPD war das absolute Minus ein Schlag ins Kontor: Fast minus 30 Prozent schlugen da zu Buche. Das konnte dann auch nicht durch ein Plus der Grünen aufgefangen werden – allein 260.000 Stimmen dieses Zugewinns kamen aus der bisherigen Wählerschaft der SPD. Der Anteil der Grünen stieg zwar enorm von 6,4 auf 18,2 Prozent. Aber für einen Regierungswechsel zusammen mit der Sozialdemokratie reicht das nicht.

Gründe in Bundes- und Landespolitik

Für die SPD-Verluste ist eindeutig Berlin, die Ampel-Koalition, verantwortlich. Die immer noch weiter zunehmende Inflation und die Ängste hinsichtlich eines möglichen Energie-Embargos werden in der Öffentlichkeit Scholz angelastet. Hinzu kommt der Eindruck des Zauderers: Wenn Vorgängerin Merkel Politik auf Sicht fuhr, konnte man ihr in der Regel zugutehalten, dass die weiteren Aussichten zu unbestimmt schienen, als dass man mit „Basta“ vorankäme. Bei Scholz hingegen wird der Eindruck erweckt, er habe Angst vor den Streitereien innerhalb seiner Koalition, fürchte um ihren Zusammenhalt, lasse einfach zu viel laufen. Diese Sicht der Bundespolitik schlug sich in der Wahl negativ für die SPD nieder.

Gerade hinsichtlich der immer weiter zunehmenden wirtschaftlichen Nöte profitierte dann umgekehrt die CDU davon, dass sie immer noch als „die Wirtschaftspartei“ gilt, die am ehesten in der Lage sein soll, die Talfahrt abzubremsen. Zugleich gehört Wüst – wie Daniel Günther in Schleswig-Holstein – zum Merkel-Flügel. Da gibt es wenig Ängste, es gebe mit Wüst alsbald einen radikalen Sozialabbau.

Dafür, dass von den Ampelparteien schließlich gerade die FDP so ganz besonders massiv unter die Räder geriet, nur knapp an der Fünf-Prozent-Hürde vorbeischrammte, gibt es gleich drei Gründe: In Berlin taucht sie inzwischen fast ausschließlich dann auf, wenn sie so auftreten möchte wie in den Jahren zuvor. Sie tut also so, als ob sie mit der Regierung gar nichts zu tun hätte, sondern eigentlich noch parlamentarische Opposition wäre. Besonders seriös kommt sie damit bei ihren Mittelstandswähler:innen aber nicht rüber. Solche Leute hatten ja die FDP gewählt, damit da endlich mal einer den Daumen auf die immensen Staatsausgaben drauf hielte. Aber was passiert jetzt? Die geben immer noch mehr aus. Auch wenn es im Staatsinteresse derzeit als geboten hingestellt wird – für traditionelle FDP-Wähler:innen ist das nichts.

Ein weiterer Grund ist wahltaktischer Natur: Vor der Wahl hatte eben manches darauf hingedeutet, dass die CDU zwar ein bisschen hinzugewinnen würde, aber es für Rot-Grün für eine neue Regierung reichen könnte. Also gingen viele FDP-Wähler davon aus, es sei ihre Aufgabe, die CDU zu stärken. Am Ende waren es offensichtlich zu viele, die CDU statt FDP gewählt haben. Der dritte Grund liegt dann wirklich bei der FDP-NRW selbst. Deren zentrales Gesicht in der letzten Wahlperiode war nun mal die Schulministerin Yvonne Gebauer. Wenn irgendwo das Kürzel FDP auftauchte, dann in der Regel gleich auch sie. Sie gab sich jedoch als halbe Querdenkerin. Das allein stieß schon mal wiederum viele Mittelstandswähler ab, welche die Pandemie eben doch ernst nahmen. Quer runter ging ihr Auftreten dann aber auch noch ganz besonders vielen Eltern, da aus deren Sicht das permanente Querschießen der Ministerin zu einem fortwährenden Chaos an den Schulen gesorgt hatte. Und als sei die Lage für die FDP noch nicht schlimm genug, setzte Frau Gebauer immer noch einen drauf: Nicht mal ansatzweise war sie bereit, auf Kritik einzugehen. Mit einer Selbstherrlichkeit und Arroganz sondergleichen bügelte sie alles ab.

Deutlich zurück fielen allerdings auch fast alle derjenigen Parteien, die in den letzten Jahren immer eine Proteststimmung zum Ausdruck gebracht hatten. Für die AfD waren es statt 626.756 nunmehr 388.893 Stimmen, also ein Minus von 38 Prozent bei den absoluten Zahlen.

Insgesamt hat sie am Ende allerdings immer noch deutlich mehr bekommen als die Linke.

Die Krise der Linken setzt sich fort

Die Wählerzahl der Partei Die Linke ging von 415.936 auf 146.611 zurück, ein Minus von etwa 64,7 Prozent. Das Schicksal der Verluste teilte die Linkspartei mit der MLPD: Bei der ging es von 7.707 auf 3.346 zurück. Freuen durfte sich ein bisschen hingegen die DKP: Ihre Wählerzahl ging von 2.899 auf 3.117 hinauf. Die für diese Kleinstparteien abgegebenen Stimmen hätten der Partei Die Linke auch nicht über die Fünf-Prozent-Hürde geholfen.

Die Krise der Linken beschränkt sich nicht auf Nordrhein-Westfalen. Sie ist in breitem Zusammenhang zu sehen mit den bisherigen Landtagswahlen dieses Jahres und der letzten Bundestagswahl. Wir verweisen damit auf die Artikel in Arbeiterpolitik 1/2 2022, in denen wir uns mit dieser Situation auseinandergesetzt haben. Wir skizzierten dort die Entwicklung der Partei aus drei Bestandteilen: der PDS im Osten, der WASG (Enttäuschte aus SPD und Grünen) im Westen sowie einer „Bewegungslinken“ mit überwiegend akademischem Hintergrund.

Wir folgerten daraus: „Einen Ausweg aus der momentanen Krise könnte es nur geben, wenn von unten eine Bewegung entsteht, in der das ökonomische und soziale Interesse der Arbeitenden zum Ausdruck kommt und die auch Themen wie Klimaschutz, die Benachteiligung von Frauen und den Kampf gegen Rechts zum Inhalt hat. So könnten die innerparteilichen Konflikte zumindest abgemildert und die Orientierung an den Parlamenten überwunden werden.

Solange es aber diese Bewegung nicht gibt, haben auch Gruppierungen mit marxistischem Anspruch, die aus der Linkspartei eine kämpferische sozialistische Partei machen wollen, einen schweren Stand. Sie können nicht im Namen eines kämpferischen Subjekts argumentieren, da es das nicht gibt. Ihre Kritik an der parlamentarischen Orientierung bleibt notwendig theoretisch und abstrakt. Wichtiger als ideologische Debatten um das richtige Programm ist die Unterstützung konkreter Ansätze des Widerstands gegen die Durchsetzung von Kapitalinteressen. Dabei gilt es, hier Verbindungen zwischen den verschiedenen Aktionen herzustellen und die gemeinsame Gegnerschaft gegen die Logik des Kapitals herauszuarbeiten.

Wahlsieger Grüne – auf dem Weg zu Schwarz-Grün

Wiewohl also praktisch alle Parteien absolut verloren haben, galt das für eine bestimmte Partei gerade nicht. Bei den Grünen ging es von 539.062 auf 1.299.580 rauf. Sie wuchsen somit um etwa 140 Prozent. Unter anderem auch deshalb, weil es ihnen gelang, Nicht-Wähler hinzugewinnen. Zudem lagen sie bei den Jungwähler:innen ganz weit vorn.

Somit zeichnet sich eine schwarz-grüne Koalition ab. Die Zeiten, wo das anders ausgesehen hätte, liegen ja inzwischen eine ganze Reihe von Jahren zurück. Da gibt es längst genügend Schnittmengen. Wenn das in Hessen, Baden-Württemberg und einer ganzen Reihe anderer Länder im Verbund mit Jamaika-Koalitionen klappt, warum nicht auch in Nordrhein-Westfalen? Das gilt besonders auch deshalb, weil Wüst kein neoliberaler Hardliner wie Merz ist. Schwarz-Grün breitet sich also aus: Auch in Schleswig-Holstein sind die Zeichen schon kurz nach der dortigen Landtagswahl auf diese Koalition, also den Rausschmiss der dortigen FDP, gestellt worden.

Unabhängig davon ist das Wahlergebnis ein Signal dafür, dass ein sehr großer Teil der NRW-Bürger:innen eine Unterstützung der Ukraine gegen das Kreml-Regime will. Die Hoffnung aller Linksparteien, sie könnten Stimmen für ihren Anti-Kriegs-Kurs gewinnen, haben offensichtlich getrogen. Die 218 Wähler, die bei der DKP hinzukamen, ändern an diesem Eindruck keineswegs etwas.

Damit behaupten wir nicht, dass es ein eindeutiges Votum für die Kriegspolitik in der Bevölkerung in Deutschland gebe. Es gibt hierzulande immer noch eine Art von historisch begründetem Pazifismus aus den Erfahrungen der beiden von den Regimes des Kaiserreichs und des Hitlerfaschismus betriebenen und verlorenen Weltkriege. Diese Grundstimmung ist aber eine passive geblieben. Sie ist derzeit weit davon entfernt, Krieg und Kapitalismus im Zusammenhang zu sehen und eine politische Stoßrichtung zu entwickeln, die in der Lage ist, Kriegsursachen inhaltlich aufzuarbeiten und Protest in der Bevölkerung wirksam zu verankern.

Im Landtagswahlkampf haben daher die Parteien, die eindeutig für die Unterstützung der Ukraine getrommelt haben, am meisten Stimmen eingefahren – bei, wie gesagt, schwacher Wahlbeteiligung. Dass ein großer Teil die Unterstützung der Ukraine will, wird aber auch von Umfragen gestützt. Die Wahl hat gezeigt, dass sich derzeit eben keine Mehrheit gegen den Krieg organisieren lässt, sondern es ist umgekehrt so, dass gerade diejenigen Zulauf bekommen, die sich für eine Unterstützung Kiews einsetzen.

So kann sich das Lager, das in den letzten Wochen am deutlichsten für Selenskyi getrommelt hat (Union und Grüne), als Wahlsieger fühlen. Für die Union waren das zwar absolut etliche Stimmen weniger – aber bei allen zukünftigen parlamentarischen Entscheidungen in dieser Sache werden sie damit punkten, dass sie rein prozentual sogar hinzugewonnen haben.

Der immens große Stimmenzuwachs für das Baerbock-Habeck-Lager ist eindeutig, nicht zuletzt weil sich damit der Trend aus Schleswig-Holstein bestätigt hat. Das hat nun wiederum für die Union den zusätzlichen positiven Aspekt: Allein mit der FDP wird eine Abwahl der Ampel-Koalition in Berlin schwierig. Zusammen mit den Grünen aber hätte man da schon eine realistischere Perspektive. Die politische Basis für die Ampel ist nun mal dünn. Das ist durch die „kleine Bundestagswahl“ (traditionelle, aber dennoch nicht zutreffende Bezeichnung für die Landtagswahl im zwar flächenmäßig nur viertgrößten, einwohnermäßig aber größten Bundesland) noch mal deutlicher geworden.

26. Mai 2022


aus: Arbeiterpolitik Nr. 4/5 2022

1 Kommentar

  1. In der bürgerlichen Demokratie treffen die Wähler Entscheidungen über Personen, die nach ihrer Wahl niemandem verpflichtet sind als dem „Gemeinwohl“ und das ist in 90 Prozent der Fälle identisch mit den Kapitalinteressen.
    In einer Arbeiterdemokratie treffen die Wähler Entscheidungen über Sachverhalte und anstehende Aufgaben. In einer Arbeiterdemokratie vergeben die Wähler keine Posten, sondern Aufträge.
    Die Lüge der bürgerlichen Demokratie besteht darin, diesen fundamentalen Unterschied zu verwischen und so zu tun, als hätten die Wähler tatsächlich ein Entscheidungsrecht in der Sache.
    Wer nun in bürgerlichen Wahlergebnissen nach Sachentscheidungen sucht (Inflationsangst, Energie-Embargo, wirtschaftliche Talfahrt bremsen, Staatsausgaben bremsen u.ä.), der hat den Unterschied zwischen bürgerlicher und proletarischer Demokratie nicht verstanden und unterstützt mehr oder minder die Legitimation des bürgerlichen Wahlzirkus.
    Nichts für ungut!
    W. Buchenberg, Hannover

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