Gewerkschaftliche Vaterlandsverteidiger

Am 1. August trat der ver.di-Vorsitzende Frank Wernecke als einer der Initiatoren und Erstunterzeichner (es gehören noch weitere prominente Vertreter*innen aus Gewerkschaften, Kirchen und Sozialverbänden dazu) eines Appells hervor. Unter der Überschrift »Für Solidarität und Zusammenhalt jetzt!« werden dort Erkenntnisse verbreitet, die den erstaunten, gewerkschaftlich organisierten Leser zu den in eckigen Klammern gestellten Fragen und Kommentaren veranlasst hat:

»Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Deutschland und Europa stehen vor einer historischen Bewährungsprobe. … Unser demokratischer Sozialstaat mit seiner offenen Gesellschaft verspricht allen Bürgerinnen und Bürgern eine gerechte Teilhabe, unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft. [Wo haben die Unterzeichner*innen bisher gelebt, dass sie nicht bemerkt haben wollen, dass die soziale Spaltung, die Kluft zwischen Arm und Reich, in den letzten Jahrzehnten ständig gestiegen ist, dass hunderttausende Transferempfänger von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen wurden und bleiben? Worin liegen die Ursachen und haben nicht die Koalitionsparteien der jeweiligen Bundesregierungen dies politisch flankiert und forciert?] Dieses Versprechen ist wertlos, wenn es sich in Krisenzeiten nur für die Einkommens- und Leistungsstarken im Land bewahrheitet. Sollte das geschehen, droht unserer Demokratie eine nie dagewesene soziale und politische Zerreißprobe [Warum sollten die Einkommensstarken – ob sie auch leistungsstark sind, sei dahingestellt – auf ihre Pfründe verzichten? Wäre es nicht die Aufgabe der Gewerkschaften, die Schwachen gegen die Starken zu vertreten?] Russlands Machthaber Wladimir Putin will die westlichen Demokratien destabilisieren und spalten. Wir rufen alle Bürgerinnen und Bürger auf: Treten wir dieser zerstörerischen Strategie durch unseren Zusammenhalt gemeinsam entgegen!« [Welche ungeheure Macht und welche Möglichkeiten werden dem russischen Präsidenten in diesem Appell zugeschrieben? Hat nicht die herrschende Klasse in Deutschland, unter der es zahlreiche Kriegs- und Krisengewinnler gibt, viel bessere Möglichkeiten diese Zerreißprobe herbeizuführen?]

Da nun die historische Bewährungsprobe beschworen wird, ist es an den Gewerkschaften sich erneut zu entscheiden auf welcher Seite sie stehen will. Auf der Seite der Ausbeuter und Kriegstreiber oder auf jener die den Reichtum erarbeiten – der Arbeiterklasse. Zweimal standen die deutschen Gewerkschaften in ihrer Geschichte vor entscheidenden Bewährungproben.

Bei der Entfesselung des Ersten Weltkriegs waren es die Vertreter der Gewerkschaftsbürokatie innerhalb der Sozialdemokratischen Partei, die sich als erste zu seiner Kaiserlichen Majestät und zur Verteidigung des Vaterlandes bekannten und mit der »Burgfriedenspolitik« Arbeitskämpfe und gewerkschaftlichen Widerstand einstellten.

Auch in der zweiten Bewährungsprobe haben die Gewerkschaften jämmerlich versagt. Nach der Machtübertragung an Hitler und die NSDAP (Ende Januar 1933) glaubten die Vorstandsmitglieder des Allgemein Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) den Fortbestand der Gewerkschaften sichern zu können, indem sie sich den neuen Verhältnissen anpassten. Sie verhandelten mit der Nationalsozialistischen Betriebsorganisation (NSBO) und riefen ihre Mitglieder auf, den 1. Mai feierlich mit der NSDAP zu begehen. Am 2. Mai wurde die ADGB-Häuser von der SA gestürmt.

Natürlich lassen sich die beiden Ereignisse nicht mit der heutigen »historischen Bewährungprobe« vergleichen. Aber die Schlussfolgerung aus dem zweimaligen Versagen hat meines Erachtens weiter Gültigkeit. Die Gewerkschaften können durch Anpassung, duch ein Bündnis mit der herrschenden Klasse und den Regierenden nichts gewinnen. Sie schränken ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten ein. Dies gilt umso mehr, wenn berücksichtigt wird, wen die Bundesregierung unterstützt. Die ukrainische Regierung ist gerade dabei, elementare Gewerkschafts- und Arbeitsrechte abzuschaffen und das Gewerkschaftsvermögen beschlagnahmen zu lassen. (Siehe auch: »Keine Solidarität mit der ukrainischen Regierung Selensky«)

A.B.,13. 08. 2022


aus: Arbeiterpolitik Nr. 4/5 2022

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