Keine Solidarität mit der ukrainischen Regierung Selensky, wohl aber mit den gewerkschaftlich Organisierten

Das am 2. Mai 2014 von Faschisten belagerte und angezündete Gewerkschaftshaus in Odessa. 48 Menschen starben damals in den Flammen. Jetzt will die Regierung Selensky die Gewerk- schaftshäuser beschlagnahmen. Foto: wikipedia

Am 5. August startete das repräsentative Gremium aller Gewerkschaftsverbände auf nationaler Ebene einen verzweifelten Aufruf an Präsident Selensky, das am 19. Juli 2022 verabschiedete Gesetz der Rada (Parlament) betreffend die »Vereinfachung der Regelung der Arbeitsbedingungen in kleinen und mittleren Unternehmen« nicht zu unterschreiben, sondern sein Veto einzulegen[1].

Denn dieses Gesetz verwehrt Arbeiterinnen und Arbeitern grundlegende Arbeits- und Gewerkschaftsrechte in Betrieben mit bis zu 250 Beschäftigten (etwa 75 Prozent aller Beschäftigten).

Das Gesetz 5371 diskriminiere einen Großteil der Beschäftigten in unzulässiger Weise und verstoße gegen verschiedene Paragrafen der ukrainischen Verfassung, insbesondere verletze es die Gleichbehandlung der Beschäftigten, denn die Beschäftigten in Betrieben mit mehr als 250 Beschäftigten behielten ihre geschützten Rechte.

Unter der »vereinfachten Regelung« in Betrieben mit bis zu 250 Beschäftigten (KMU, kleine und mittlere Unternehmen) sowie für Beschäftigte, die mehr als das Achtfache des Mindestlohns (Mindeststundenlohn Euro 1,21![2]) verdienen, gilt hingegen die Vertragsfreiheit, d. h. der Unternehmer ist an keine kollektivrechtlichen Regelung gebunden. Er allein darf Lohnhöhe, tägliche /wöchentliche Arbeitszeit, Arbeitsbeginn und –ende, Urlaub usw. mit jedem Beschäftigten einzeln festlegen. Eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses muss er fünf Tage vorher ankündigen, ein Recht der Gewerkschaften, willkürliche Entlassungen anzufechten, gibt es für diese Beschäftigten nicht mehr.

Die Gewerkschaften befürchten nicht zu Unrecht, dass im Arbeitsvertrag auch noch weitere mögliche zivilrechtliche Pflichten und Strafen bspw. bei nicht zufriedenstellender Arbeitsleistung vereinbart werden.

Im Gesetzgebungsprozess konnten die Proteste der Gewerkschaften nur eine geringe Verbesserung erringen. Kleines Zugeständnis: Das Gesetz solle erst einmal nur solange gelten, wie Kriegsrecht herrsche. Da heute schon elf Arbeitslose sich um einen verfügbaren Job streiten (also alle Macht aufseiten des Unternehmers liegt) und ein Ende der wirtschaftlichen Krise der Ukraine nicht absehbar ist, fürchten Beobachter auch nach Kriegsende die verheerenden Nachwirkungen dieses Gesetzes, die kaum rückgängig zu machen seien.

Der Europäische Gewerkschaftsbund, der die Beschwerden der ukrainischen Gewerkschaften an die Staats- und Regierungschefs der EU weiterleitete[3], weist auch noch darauf hin, dass das ukrainische Parlament ein weiteres Gesetz 5161 verabschiedet habe, das es den Arbeitgebern erlaube, bis zu 10 Prozent ihrer Belegschaft mit prekären oder Null-Stunden-Verträgen (Arbeit auf Abruf) einzustellen. 32 Arbeitsstunden im Monat sind allerdings garantiert (Vorbild GB).

Darüber hinaus gibt es zwei Gesetzesentwürfe, die das Eigentum des Gewerkschaftsbundes der Ukraine (FPU) beschlagnahmen wollen – vor allem Sanatorien, Hotels, Wohnheime und Ausbildungszentren, die derzeit für die Aufnahme und Unterstützung von Binnenvertriebenen genutzt werden und die seit dem Einmarsch der Russen von über 300.000 Ukrainern durchlaufen wurden.

Ein führendes Mitglied von Selenskys Partei, Abgeordneter und Vorsitzender des Finanzausschusses der Rada namens Danylo Hetmantsev, schrieb dazu auf Telegram, das seien die Gesetzentwürfe, auf die die Wirtschaft warte, Gesetzentwürfe, die die Interessen aller Unternehmer schützen würden. Übrigens auch die der Arbeitnehmer.

Wörtlich: »Ein Arbeitnehmer sollte in der Lage sein, seine Beziehung zu seinem Arbeitgeber selbst zu regeln. Ohne den Staat.
Das ist es, was in einem Staat passiert, wenn er frei, europäisch und marktorientiert ist. Andernfalls reist das Land mit einem Bein im Schnellzug in die EU und mit dem anderen in einem Zug aus der Sowjet-Ära in die andere Richtung.«[4]

Mit anderen Worten: Die herrschenden Parteien nutzen die Gunst der Stunde, in der die ukrainischen Gewerkschaften durch Kriegsrecht gefesselt sind, um die Ukraine zu einem Paradies für ausländische Investoren zu machen. Die Kosten des Wiederaufbaus der Ukraine sollen eine Billion US-Dollar übersteigen. »Reden über einen Marschallplan für die Ukraine gibt es reichlicher als Geld. Die Ukraine wird daher außerordentliche Hilfe von internationalen Finanzinstitutionen in Anspruch nehmen und privates Kapital anlocken müssen, was kreative Überlegungen mit internationalen Partnern darüber erfordert, wie die Risiken für Investoren gemildert werden können,« schreibt der Ukraine-Beobachter Daniel Baer, ehemals US-Botschafter bei der OSZE.[5]

Am 4. und 5. Juli 2022 trafen sich Spitzenbeamte der USA, der EU, Großbritanniens, Japans und Südkoreas zu einer »Ukraine Recovery Conference« in Lugano in der Schweiz. Zu den prominenten Teilnehmern gehörten die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis und die britische Außenministerin Liz Truss. Staatspräsident Selensky und UN-Generalsekretär Guterres waren per Video zugeschaltet.

Die Tagesordnung der URC war darauf ausgerichtet, der Ukraine politische Veränderungen aufzuerlegen – nämlich »Stärkung der Marktwirtschaft«, »Dezentralisierung, Privatisierung, Reform staatlicher Unternehmen, Landreform, Reform der staatlichen Verwaltung« und »euro-atlantische Integration«[6].

Mithin kann man auch sagen: Die Herrschenden der Ukraine haben verstanden!

11.08.2022


[1] JOINT APPEAL BY UKRAINIAN TRADE UNIONS AGAINST ATTACK ON WORKERS RIGHTS – ukrainesolidaritycampaign.org
[2] Siehe Werner Rügemer: »Unsere europäischen Werte« : 1,21 Euro Mindestlohn in der Ukraine – nachdenkseiten.de
[3] Joint ETUC-PERC-ITUC letter on Ukraine sent to EU leaders | ETUC – etuc.org
[4] Ukraine Uses Russian Invasion to Wreck Workers’ Rights | Consortium News – consortiumnews.com
[5] When Politics Returns to Kyiv: How Ukrainian Democracy Will Be Tested After the War | foreignaffairs.com
[6] West prepares to plunder post-war Ukraine with neoliberal shock therapy: privatization, deregulation, slashing worker protections | Multipolarista – multipolarista.com


aus: Arbeiterpolitik Nr. 4/5 2022

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*