Mit der seit 2012 stattfindenden Reise der gewerkschaftlichen Solidaritätsgruppe „Gegen Spardiktate und Nationalismus“ verlängerten wir in diesem Jahr nicht nur den in Deutschland zu Ende gegangenen Sommer. Für eine gute Woche, von Ende September bis Anfang Oktober 2024, „entflohen“ wir auch dem politischen Klima in Deutschland, das gekennzeichnet ist von der deutschen Staatsräson für die Existenz des israelischen Staates mit der entsprechenden Propaganda und Repression. Damit wurden und werden pro-palästinensische Betätigungen kriminalisiert, verfolgt bzw. verboten. Diese typisch deutsche „Vergangenheitsbewältigung“, besser als Verdrängung bzw. Verdrehung der eigenen Geschichte bezeichnet, gibt es in Griechenland nicht – und damit auch nicht die damit einhergehende Repression.
Einen ersten Eindruck davon bekamen wir am ersten Tag der Solidaritätsreise, am Samstag, dem 28. September, auf einer Kundgebung gegen die Unterstützung Israels in der Kleinstadt Agioi Theodori bei Korinth. Von dort läuft die Versorgung der israelischen Armee mit Benzin und Treibstoff; dort betreibt Motor Oil (Hellas) eine große Raffinerie. Über seine Raffinerie in Korinthos kontrolliert Motor Oil 35 % des Raffineriesektors in Griechenland. Die Firma betreibt die zweitgrößte Raffinerie in Europa. Außerdem besitzt sie die Tankstellenketten Avin, Shell und Cyclon mit mehr als 2.000 Tankstellen in Griechenland sowie eine Reihe anderer Gas- und Energieunternehmen. Mehrheitsaktionär von Motor Oil sind zwei Holdinggesellschaften (Petroventure und Motor Oil Limited mit 40,97 %). Sie gehören der prominenten griechischen Familie Vardinogiannis. Ihren Reichtum (1,9 Milliarden Dollar) scheffelte sie hauptsächlich über Beteiligungen in der Erdölindustrie und Schifffahrt. Sie besitzt aber auch Anteile an insgesamt über 90 in- und ausländischen Unternehmen und ist eng mit dem US-amerikanischen Kennedy-Clan und entsprechenden transatlantischen Denkinstituten verbunden.
Auf dem zentralen Platz vor der Kirche in Agioi Theodori fand die Kundgebung statt gegen die griechische Unterstützung für Israels Völkermord in Palästina. Was mich nach den Erfahrungen aus Berlin total überraschte: Es fehlte der martialische Aufmarsch der Polizei, die in Deutschland jede anti-israelische Aktionen begleitet und gegebenenfalls auflöst. Nichts davon hier in dieser griechischen Kleinstadt; die wenigen zu sehenden Polizisten waren abgestellt für den reibungslosen Ablauf des Spartathlon, einem Ultramarathon. Die Läufer*innen passierten die Stadt zeitgleich mit der Kundgebung. Sie hatten dort etwa 70 der insgesamt 245 Kilometer langen Strecke von Athen nach Sparta zurückgelegt.
Ein riesiger alter Baum vor der Basilika spendete den drei bis vierhundert Teilnehmenden an der Kundgebung Schatten. Es folgten zahlreiche Reden der beteiligten Organisatoren, immer wieder unterbrochen durch palästinensische und griechische Widerstandslieder. Was mich ein klein wenig an Berlin erinnerte, waren die Sprechchöre palästinensischer Frauen und Kinder, die sich lautstark für ein befreites Palästina einsetzten und den Genozid der israelischen Streitkräfte anprangerten.
Im Hafen von Agioi Theodori werden die Benzin- und Treibstofflieferungen für die israelische Armee verschifft. Der Versuch, den Protest vor die Tore der Raffinerie und des Hafens zu tragen, wurde allerdings durch die Polizei vereitelt. Sie hatte die Straßen zum Gelände weiträumig abgesperrt, so dass die Charterbusse schließlich nach Athen zurückkehren mussten.
Die griechische BDS-Sektion
Am Abend des 28. September trafen wir Dimitri, einen Vertreter der griechischen Sektion des BDS (Boykott, Desinvestition und Sanktionen). Er berichtete über ihre Arbeit. Sie seien nur eine kleine Truppe von 30 Personen und Mitglied im internationalen Bündnis der Boykottbewegung. Ihre Aktivitäten bestehen vor allem in dem Versuch über linke Organisationen, Parteien und Gewerkschaften in die Gesellschaft zu wirken, um breitere Bevölkerungskreise für ihre Ziele zu gewinnen. Am 3. Dezember 2023 dokumentierten wir in unserer Zeitung eine Erklärung der Hafenarbeiter und ihrer Gewerkschaften in der ‚Arbeiterpolitik‘. Aus dieser Erklärung geht hervor, dass die Gewerkschaften der Hafenarbeiter sich mit den Vertretern des BDS getroffen und abgesprochen hatten.
Seit Oktober 2023 beteiligt sich die BDS-Organisation an der wöchentlich samstags stattfindenden Protestkundgebung auf dem Syntagma, direkt vor dem griechischen Parlament. Mehrere hundert Menschen nehmen regelmäßig daran teil, zu aktuellen und besonderen Anlässen auch mal weit über tausend. Zu den Organisatoren gehören die „Konföderation palästinensischer Arbeiter in Griechenland“ und PENEN, (die Gewerkschaft der Seeleute), die auch den Protest vor der Raffinerie von Motor Oil in Korinth geplant und mitfinanziert hatte. Verschiedene linke und außerparlamentarische Gruppierungen, u.a. das Kollektiv der Anti-Nato-Aktion aus Athen, gehören ebenfalls zu den Initiatoren. Einen Erfolg konnten sie in diesem Sommer erzielen. Bei einem Festival auf Syros gehörte die israelische Botschaft zu den Sponsoren. Das machten sie öffentlich, was dazu führte, dass die Veranstalter die israelische Botschaft als Sponsor ausschlossen.
Besuch bei PENEN, der griechischen Gewerkschaft der Seeleute
Bei fast all unseren Terminen kam der israelische Genozid in Palästina zur Sprache. So auch bei unserem Besuch bei PENEN, deren Gewerkschaftsbüro sich in Piräus befindet. Sie organisiert nach eigenen Angaben 1.700 der 5.500 auf Schiffen beschäftigten griechischen Seeleute. Was mir sofort ins Auge fiel, waren die zahlreichen politischen Aushänge und Plakate, die die Räume schmückten, darunter eine Stellwand für den palästinensischen Widerstand gegen Vertreibung und Genozid in Gaza. Das wäre in einem Büro der DGB-Gewerkschaften undenkbar.
Der Gewerkschaftsvorsitzende war zu einem Besuch in der libanesischen Botschaft geladen und ließ sich entschuldigen. Mit seinen beiden Stellvertretern und dem Gewerkschaftskassierer sowie drei Kollegen aus der Rentner-Sektion hatten wir eine ausführliche Diskussion über die aktuelle Lage im Nahen Osten. Vor allem die älteren Kollegen erläuterten, sie hätten gewerkschaftliche Arbeit nie allein als Angelegenheit zur Regelung von Arbeitsbedingungen und Löhnen begriffen. Deshalb würden sie sich nach Beendigung ihres Arbeitslebens nicht bequem auf der Couch ausruhen, sondern ihre gesellschaftspolitischen Aktivitäten auch als Rentner innerhalb der Gewerkschaft fortsetzen. Zur aktuellen Lage im Krieg im Nahen Osten bemerkte ein Kollege, die US-Regierung würde versuchen Israel davon abzuhalten, die iranischen Erdöl- und Gasfelder zu bombardieren. Dies hätte eine Erhöhung der Energiepreise zur Folge, die vor allem der russischen Regierung zu Gute käme. Der Zusammenhang zwischen den beiden Kriegen der westlichen Wertegemeinschaft – im Nahen Osten und in der Ukraine – wird also gesehen und in die Betrachtungen einbezogen.
Solidaritätsaktionen zur Unterstützung des palästinensischen Widerstandes
Am Samstag, den 5. Oktober 2024, besuchten wir die wöchentliche Protestaktion in Athen. Sie fand diesmal nicht als Kundgebung vor dem Parlament statt, sondern als Demonstration zur israelischen Botschaft. Auch dieses Mal das für uns ungewohnte Bild: kein riesiges Aufgebot der Staatsgewalt, die den Zug von etwa 2.000 Beteiligten eskortierte. Lediglich die technisch durch hohe Zäune und Überwachungskameras gesicherte US-Botschaft wurde durch Einheiten der Polizei gesichert und der Zugang zum israelischen Botschaftsgelände war weiträumig abgesperrt. Aber Angriffe und Überfälle der Staatsdiener, wie in Berlin üblich, blieben aus.
Ein ähnliches Bild bot sich am nächsten Tag auf der Palästina-Solidaritätsveranstaltung im Park auf dem Steffi-Hügel in Athen. Ein riesiges Banner zierte den Felsen über dem Park, unter denen gemischte Fußballmannschaften ein Solidaritätsturnier austrugen. Infotische sowie Stände mit palästinensischen Utensilien boten den meist jüngeren Besuchern ihre Produkte an. Ein Polizeiaufgebot war nicht zu erblicken. Nur die Anwohner der Gegend ließen sich beim Auslauf ihrer Hunde auf dem Palästina-Festival sehen. An der Teilnahme auf der abendlichen Vortrags- und Diskussionsrunde verzichteten wir wegen unserer mangelnden griechischen Sprachkenntnisse.
Palästina-Solidarität im Vergleich zwischen BRD und Griechenland
Das politische Klima bei den Debatten über den Nahen Osten ist bei uns in der BRD geprägt durch die jüngere deutsche Vergangenheit, der Ermordung der europäischen Juden während der faschistischen Herrschaft. Die herrschende Klasse Deutschlands, die den Nationalsozialisten 1933 die politische Macht übertragen hatte, nutzt, verfälscht und verkehrt die Erinnerung an die faschistischen Menschheitsverbrechen für ihre aktuellen geostrategischen Überlegungen und Ansprüche. Deutschland will nun auch wieder militärische Führungsmacht in Europa werden mit dem entsprechenden Aufrüstungsprogramm. Das uralte Feindbild von Russland wird erneuert. Mit der Erinnerungskultur, bei der sich die staatstragenden Parteien Deutschlands als Weltmeister wähnen, wird und wurde die „Wiedergutmachung“ mit der finanziellen Unterstützung des Staates Israel als erledigt betrachtet, im Prinzip seit den Zeiten von Bundeskanzler Adenauer und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß. Leer ausgegangen sind jüdische Opfer in aller Welt, andere Opfergruppen, wie Sinti und Roma, die Völker in der ehemaligen Sowjetunion oder auf dem Balkan.
Die griechische Bevölkerung wurde in ihrer jüngeren Geschichte mehrmals zum Opfer imperialistischer Großmachtspolitik. Von 1941 bis 1944 wütete und mordete die deutsche Wehrmacht dort. In den Zeiten des Bürgerkrieges von 1946 bis 1949 griffen Großbritannien und die USA auf Seiten der griechischen Reaktion ein. Die Vereinigten Staaten und die NATO gehörten von 1967 bis 1974 zu den Stützen der Militärdiktatur. Dementsprechend auch die Stimmungen in Griechenland. Während die herrschenden Klassen – die Oligarchen und ihre politischen Vertreter – die Mitgliedschaft ihres Landes in der NATO stützen, ist die Haltung innerhalb großer Bevölkerungsteile wesentlich skeptischer und ablehnender. Im Krieg im Nahen Osten stehen sie auf Seiten Palästinas. Den Unterordnungs- und Rechtfertigungszwang, wie er in der BRD üblich ist, haben wir während unseres Aufenthalts in Griechenland nicht erlebt. So ist es üblich, dass Gewerkschaften auch mit der BDS-Bewegung zusammenarbeiten. Die Diskussionen über den Charakter von Hamas oder Hisbollah mussten wir nicht führen. Sie wurden in ihrer Rolle wahrgenommen, die sie in der Region spielen – als in der jeweiligen Bevölkerung verankerte Widerstandsorganisation gegen die israelische und zionistische Vertreibung und Besatzung.
Nachtrag: Hafenarbeiter von Piräus blockieren Waffenlieferungen mach Israel
Die folgende Meldung entnahmen wir der „Zeitung der Arbeit“ aus Österreich vom 18. Oktober 2024. Mit der Gewerkschaft ENEDEP konnten wir von der gewerkschaftlichen Solidaritätsgruppe vor zwei Jahren, im Oktober 2022 ein ausführliches Gespräch führen über den erfolgreichen Aufbau gewerkschaftlicher Strukturen im privatisierten Hafen von Piräus. Es zeigt nochmals deutlich. wie weit verbreitet die Unterstützung des palästinensischen Widerstandes in Griechenland ist.
Eigentlich hätte die „Marla Bull“ Waffen nach Israel transportieren sollen. Das Containerschiff verließ am Freitagmorgen den Hafen von Piräus jedoch unbeladen.
Die Gewerkschaft der Hafenarbeiter ENEDEP informierte die Belegschaft schon vor der Ankunft des Schiffes am Hafen von Piräus, dass die „Marla Bull“ Kriegsgerät nach Israel transportieren soll. Die Arbeiter des Hafens, der sich zum Großteil im Eigentum der chinesischen Reederei COSCO befindet, reagierten sofort, blockierten den Hafen und verhinderten, dass Container auf das Schiff geladen werden.
Die Gewerkschaft rief alle Arbeiterinnen und Arbeiter sowie die Jugend der Gegend offen dazu auf, zum Hafen zu kommen und sich der Blockadeaktion anzuschließen: „Die Hafenarbeiter sagen klar und deutlich: Wir beflecken unsere Hände nicht mit dem Blut des Volkes!“. Auch die Gewerkschaft der attischen Metall- und Schiffbauindustrie sowie das Arbeitszentrum von Piräus schlossen sich dem Aufruf an. Die Demonstranten skandierten „Freiheit für Palästina!“ und sprühten „Mörder weg vom Hafen“ auf den betreffenden Container.
„Wir machen deutlich, dass alle Bemühungen der Regierung, von COSCO oder von jedem, der sich die Hände mit Blut beflecken will, die Arbeiter nicht zu Komplizen machen werden“, sagte Markos Bekris, Vorsitzender der ENEDEP-Gewerkschaft und des Piräus-Arbeitszentrums.
Die ganze Nacht über dauerte die Aktion und die Arbeiter zwangen die „Marla Bull“ schließlich dazu, den Hafen von Piräus ohne Ladung zu verlassen. Die Gewerkschaften, die derzeit ebenfalls Streiks für Tarifverträge mit der Forderung nach besseren Löhnen vorbereiten, bestätigten, dass der Klassenkampf der Gewerkschaften Hand in Hand geht mit der Solidarität mit den Völkern und dem unerschütterlichen, praktischen Widerstand gegen den Imperialismus!
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