Das „Bündnis Sarah Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit“ ist nach den Höhenflügen bei den Wahlvorhersagen als auch bei den Landtagswahlen nun auf der Ebene der Realpolitik angekommen. Die Landung könnte zu einer Bruchlandung werden und der Parteiaufbau sich als Strohfeuer oder Eintagsfliege erweisen. Zwar gewann das Bündnis eine Reihe prominenter Kriegsgegner; aber dies allein wird nicht ausreichen, um erfolgreich eine Partei aufzubauen und auf Dauer in die Parlamente zu führen. Die Wählerinnen und Wähler machen ihre Entscheidungen für oder gegen das BSW in erster Linie davon abhängig, ob sich durch die Regierungsbeteiligung an ihrer persönlichen, an ihrer materiellen und sozialen Situation etwas verbessert. Und auf diesem Feld hat das BSW kaum etwas anzubieten außer die Rückbesinnung auf die „verklärten“ Tugenden der bundesrepublikanischen Sozialdemokratie, von denen sie sich und ihren Wähler:innen viel verspricht: „Wir wollen den Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts stoppen und die Politik wieder am Gemeinwohl ausrichten. Unser Ziel ist eine faire Leistungsgesellschaft mit echter Chancengleichheit und einem hohen Grad an sozialer Sicherheit.“[1]
Wie und mit wem solch hehre Ziele durchgesetzt werden könnten – außer mit dem Appell an die Vernunft und den Gerechtigkeitssinn der möglichen Koalitionsparteien – darüber schweigt das BSW in seinem Parteiprogramm. Wer – wie der Autor dieses Kommentars – die Rolle der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften zu Ende der sechziger und in den siebziger Jahren erlebt hat, fragt sich bei derartigem (Wunsch-)Denken: Warum und vor allem wie soll der gesellschaftliche Zerfall aufgehalten werden? Dieser Zerfall ist ja das Resultat der Umverteilung von unten nach oben, begleitet und erleichtert durch die politischen Parteien der BRD, auch durch die SPD. Sie hat unter dem Bundeskanzler Schröder mit der Agenda 2010 und Hartz IV die politischen Vorbedingungen für die bisher tiefstgreifende Umverteilung im Interesse des Kapitals gelegt. Ich kann den Glauben nicht teilen, diese Umgestaltung des „Sozialstaates“ könne aufgehalten werden durch die vom BSW von ihren Regierungspartnern geforderten Koalitionszusagen. Auf der Ebene des parlamentarischen Ringens lassen sich solche Entwicklungen nicht aufhalten, auch wenn die überwältigende Mehrheit des Wahlvolkes in entsprechenden Kategorien denkt. Es erkennt nicht die Mechanismen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, sondern macht dafür die regierenden Parteien verantwortlich. Es verbindet seine Stimmabgabe mit der Erwartung oder zumindest Hoffnung, dass die Parteien sie, wie vor der Wahl versprochen, durch ihre Regierungsbeteiligung vor weiteren Sozialabbau bewahren werde. Das Gegenteil des Erhofften wird eintreten angesichts der von allen anderen Parteien (CDU, CSU, FDP, SPD und Grünen) bundesweit betriebenen Aufrüstungskurses. Das Geld wird auch weiterhin in erhöhte Rüstungsausgaben fließen und nicht mehr für „soziale Wohltaten“ (Bildung, Wohnungsbau, Mietpreisbremse etc.) zur Verfügung stehen. Wie sollen verbale Zusagen in Koalitionsvereinbarungen dies aufhalten? Die Abkehr von der neuen, noch unverbrauchten politischen Kraft, wird angesichts sich nicht erfüllender Erwartungen schon nach kurzer Zeit, spätestens nach einer Legislaturperiode, einsetzen.
In ihrem Programm formuliert das BSW die Ziele ihrer Außenpolitik folgendermaßen: „Unsere Außenpolitik steht in der Tradition des Bundeskanzlers Willy Brandt und des sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow, die dem Denken und Handeln in der Logik des Kalten Krieges eine Politik der Entspannung, des Interessenausgleichs und der internationalen Zusammenarbeit entgegengesetzt haben. Die Lösung von Konflikten mit militärischen Mitteln lehnen wir grundsätzlich ab.“[2] In den Fragen, in dem es um Krieg oder Frieden geht, tritt das BSW bisher tatsächlich glaubwürdiger und konsequenter auf als die in dieser Frage völlig zerstrittene Partei DIE LINKE. In ihr gibt es neben der Unterstützung von Waffenlieferungen an die Ukraine und der Bejahung deutscher Staatsräson zur Existenzsicherung des israelischen Apartheid-Staates auch zahlreiche antimilitaristische Kräfte, die mit vielen Positionen aus der Friedensbewegung und des BSW übereinstimmen.
Auch wenn die Haltung zu Krieg und Frieden der letzte Anlass für eine Trennung von der Linkspartei wurde, für die Spaltung und Neugründung einer Partei bedarf es auch innenpolitischer Zielsetzungen. Zunächst dringt das BSW vor allem auf die Aufnahme ihrer friedenspolitischen Grundsätze in die Koalitionsvereinbarungen. Sie hat dies zur Voraussetzung für einen Beitritt zu den Landesregierungen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen gemacht. Das BSW will damit belegen, dass sie in dieser Grundsatzfrage nicht wegen einer Regierungsbeteiligung „faule Kompromisse“ eingehen will.
Dabei wissen alle, dass dem Einfluss von Landesregierungen auf die Außenpolitik enge Grenzen gesetzt sind und die Koalitionsabsprachen nur symbolischen Wert haben können. Die wichtigen Entscheidungen werden durch die Bundesregierung vorbereitet, die sie vom Bundestag absegnen lässt. Der seit über zwei Jahren mit der „Zeitenwende“ verbundene Kurs der Aufrüstung und Militarisierung der Außenpolitik lässt sich nicht über Koalitionsbestimmungen für Landesregierungen aus den Angeln heben. Dennoch bewerten wir natürlich jede Stimmabgabe für das BSW statt für die AfD als positiv. Aber eine längerfristige Perspektive sehen wir für das BSW nicht und eine vorantreibende Funktion in den kommenden Klassenauseinandersetzungen wird sie mit ihren sozialdemokratischen Vorstellungen nicht gewinnen können. Denn gesellschaftspolitisch positioniert es sich als typisch sozialdemokratische Organisation mit all ihren Schwächen und Ungereimtheiten. So greift sie die in der Arbeiterschaft weit verbreiteten Urteile und Vorurteile auf, um Stimmen zu sammeln. Dazu gehört u.a. die Furcht vor Zuwanderung und der Stärkung von Minderheitenrechten (Stichwort LGBQ und Gender). Insofern war die Gründung des BSW nur eine logische Konsequenz aus der typischen sozialdemokratischen Koalitions- und Tolerierungspolitik der Linkspartei in der Vergangenheit. Dabei hat sie sich des als lästig empfundenen, ideologischen Programmballasts entledigt.
Die Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und BSW für Brandenburg
„Brandenburg ist durch Artikel 2 Absatz 1 seiner Verfassung dem Frieden verpflichtet und strebt die Zusammenarbeit mit anderen Völkern an. Dazu gehört, aktiv zur Sicherung des Friedens beizutragen und ein Bekenntnis zur internationalen Zusammenarbeit. Dieses politische Ziel besteht losgelöst von der Zuständigkeit des Bundes für die Außen- und Verteidigungspolitik.“ Die Unverbindlichkeit der Formulierungen betrifft nicht nur die friedenspolitischen Aussagen, es durchzieht die gesamte Koalitionseinigung – mit einer Ausnahme, wie die Frankfurter Rundschau am 27. November 2024 berichtete: „Ein zentraler Punkt der Vereinbarung ist die geplante Erhöhung der Polizeistellen auf 9.000. […] Doch was will Rot-Lila jetzt anders machen? Angesprochen auf die wichtigsten Unterschiede zur Vorgängerregierung sagte Woidke, dass sich SPD und BSW in Brandenburg vielen neuen Herausforderungen stellen müssten. Ein Schwerpunkt in dem neuen Koalitionsvertrag sei sicherlich die Wirtschaft und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Insgesamt umfasst der Vertrag unter dem Titel ‚Brandenburg voranbringen – Bewährtes sichern. Neues schaffen‘ 68 Seiten.“
Liest Mensch sich das Parteiprogramm des BSW durch, so fällt eines sofort ins Auge. Es ist zugeschnitten auf die parlamentarische Tätigkeit, auf die angestrebten Regierungsbeteiligungen. Jeglicher Rückgriff auf Fragen des Klassenkampfes oder die Rolle der Gewerkschaften fehlt, wie sie bei den Resten der Linkspartei noch als programmatisches Beiwerk vorhanden ist. Dies wird den Marsch ihres rechten Parteiflügels in die Arme der Herrschenden allerdings nicht aufhalten.
„Wir streben eine innovative Wirtschaft mit fairem Wettbewerb, gut bezahlten sicheren Arbeitsplätzen, einem hohen Anteil industrieller Wertschöpfung, einem gerechten Steuersystem und einem starken Mittelstand an“, erklärt das BSW in seinem Programm. Es liest sich wie die Neuauflage aus den Glanzzeiten sozialdemokratischer Politik der 1960er und 70er Jahre. Damals bot der wirtschaftliche Aufschwung des „rheinischen“ Kapitalismus in der BRD noch die Voraussetzungen für einen sozialen Ausgleich und somit für den überragenden Einfluss der Sozialdemokratie auf die lohnabhängigen Menschen. Die Tariflöhne stiegen um heute nicht mehr vorstellbare Prozente; sie enthielten neben dem Inflationsausgleich oft auch einen „Bestandteil zur gesellschaftlichen Umverteilung“. Zugleich wurden zahlreiche tariflich erkämpfte Errungenschaften durch Beschlüsse des damaligen Bonner Parlaments gesetzlich abgesichert, wie z.B. in Arbeitszeitregelungen oder in Urlaubslänge und Urlaubsentgelt.
Damit ist es spätestens seit 1989/90 Schluss. Die gesellschaftlichen Entwicklungen lassen sich nicht zurückdrehen, auch wenn das BSW dies anstrebt und sich als zuverlässiger, sozialdemokratischer Sozial- und Regierungspartner anbietet. „Zugleich braucht unser Land einen zuverlässigen Sozialstaat, der Zukunftsängste abbaut und vor einem sozialen Absturz im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter schützt.“[3] Was passiert eigentlich nach derartigen (Selbst-)Täuschungen? Wird sich die Rechtsentwicklung unter den arbeitenden Menschen nach den Erfahrungen einer Regierungsbeteiligung des BSW verstärkt fortsetzen? Welche Resultate wird die praktische Allparteien-Regierung in Thüringen von Union, SPD, BSW unter Einschluss der Linkspartei hervorrufen? Der AfD jedenfalls wird die Möglichkeit geboten, sich als alleinige Alternative zu den „Systemparteien“ zu präsentieren. Oder werden die Unionsparteien und FDP die selbsterrichtete „Brandmauer“ beseitigen, weil es die genügend große Übereinstimmung mit der AfD gibt und deren Ausgrenzung sich als kontraproduktiv erwiesen hat, weil sie die AfD als parlamentarische Konkurrenz nicht klein hält, sondern stärkt?
Doch zurück zu den Erfahrungen Ende der 1960er und in den 1970er Jahren. Die SPD argumentierte, dass die Lohnabhängigen den Anstieg ihres Lebensstandards den Erfolgen sozialdemokratischer Bemühungen auf Parlaments- und Regierungsebene zu verdanken hätten. Im übrigen bestand ihre Funktion als politischer Vertreter der arbeitenden Bevölkerung auch darin, darüber zu wachen, dass Arbeitskämpfe, Demonstrationen und andere Aktivitäten nicht die Grenzen der Sozialpartnerschaft überschritten. In solchen Fällen erwies sich die Sozialdemokratie als kompromisslose Kämpferin gegen alle links von ihr angesiedelten Gruppierungen und Parteien, wie der Radikalenerlass beweist. Er wurde eingeführt von der ersten sozialliberalen Regierungskoalition unter Bundeskanzler Willy Brandt. Die Vorstände der DGB-Gewerkschaften – nach dem KPD-Verbot 1956 fest in sozialdemokratischer Hand – schlossen sich diesem Beispiel an. Sie erließen Unvereinbarkeitsbeschlüsse gegenüber Mitgliedern aus sozialistischen und kommunistischen Organisationen und Parteien, die ab 1969/70, zum Ende der Studentenbewegung, gegründet worden waren.
Umstrittenes Koalitionsabkommen
„Für das Bündnis von Sahra Wagenknecht ist es ein rasanter Aufstieg: Innerhalb weniger Monate nach der Gründung kann die neue Partei mitregieren. In Brandenburg einigte sich das BSW mit der SPD auf einen Koalitionsvertrag. Die Verhandlungen waren auf den letzten Metern von politischen Spannungen geprägt, insbesondere durch den BSW-Abgeordneten Sven Hornauf.“[4] Er kritisierte die geplante Stationierung des Raketenabwehrsystems Arrow 3 am Brandenburger Bundeswehrstandort Schönewalde/Holzdorf und kündigte an, dass er deshalb Woidke seine Stimme bei der Ministerpräsidentenwahl nicht geben werde.
Eine konsequente und antimilitaristische Aussage enthält die Koalitionsvereinbarung von SPD und BSW nicht: „Wir sehen vor diesem Hintergrund die geplante Stationierung von Mittelstrecken- und Hyperschallraketen auf deutschem Boden kritisch. Es braucht konkrete Angebote, um wieder zu Abrüstung und Rüstungskontrolle zu kommen. […] Wir setzen uns für eine breit angelegte gesellschaftliche Debatte zu diesen Themen ein. Wir stimmen darin überein, dass für Frieden und Sicherheit die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes von großer Bedeutung ist und die Fähigkeit der Bundeswehr zur Verteidigung gestärkt werden muss. Deswegen stehen wir zur Bundeswehr und ihren Brandenburger Standorten.“
Damit schließt sich der Bogen zur Verklärung der bundesrepublikanischen Sozialdemokratie durch das BSW. Die SPD war nie ein Gegner der Westanbindung der Bundesrepublik und ihrer Nato-Mitgliedschaft. Als sie sich vor Gründung der Bundeswehr an die Spitze der Bewegung gegen die Remilitarisierung stellte, geschah dies in der Absicht, die dieser Bewegung innewohnenden Ziele in eine antikommunistische Richtung umzulenken, was ihr auch gelang. Siehe auch den Artikel von Erhard Korn: „Jein zu den Waffen – Kalter Krieg, Remilitarisierung und Friedensbewegung.“
Auch die von Willy Brandt betriebene Entspannungspolitik, die er gegen den erbitterten Widerstand der reaktionären Opposition in den den Unionsparteien durchgesetzt hatte, diente dem selbst erklärten Ziel, einen „Wandel durch Annäherung“ herbeiführen zu wollen. Dessen Resultate konnte in den 1970er Jahren noch niemand erahnen, geschweige denn voraussehen.
Erst 1989/90 erntete das deutsche Kapital die Früchte, die mit dem Zerfall des sozialistischen Lagers gereift waren. Der wirtschaftlichen Expansion nach Osten – sowohl der EU als auch der Nato – standen keine Schlagbäume mehr entgegen. Das „Ende der Gechichte“ wurde verkündet und der außenpolitische Vordenker und Sicherheitsberater von US-Präsident Carter, Brzezinkis, veröffentlichte 1997 sein Buch „Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft“. Das Vorwort zur deutschen Ausgabe verfasste der ehemalige Außenminister Genscher (FDP).
1989/90 hatte eine neue Periode begonnen, gekennzeichnet durch die Ostausdehnung von EU und Nato. Als Resultat davon, dass die Einbindung der Ukraine in das westliche Bündnis gegen die Sicherheitsinteressen Russlands erzwungen werden sollte, folgte im Februar 2024 die Gegenwehr mit dem militärischen Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine. Die aktuellen militärischen Zuspitzungen, die uns der Gefahr eines atomaren Krieges aussetzen, sind ohne Betrachtung ihrer langen Vorgeschichte nicht verständlich. Das ist auch die Geschichte der kapitalistischen Ordnung, die ohne stetiges Wachstum und geostrategische Expansion nicht leben kann. Die Nato ist im Kern ein Bündnis zwischen dem US-Imperialismus und den alten europäischen Kolonialmächten. Sie wurde mit Beseitigung der „Systemkonkurenz“ nicht aufgelöst wie der Warschauer Pakt, sondern dient weiterhin der Beherrschung des gesamten Globus durch die „westliche Wertegemeinschaft“.
15.12.2024
[1]Aus dem Parteiprogramm des BSW (Dezember 2024)
[2]Aus dem Parteiprogramm des BSW (Dezember 2024)
[3]Aus dem Parteiprogramm des BSW (Dezember 2024)
[4]Frankfurter Rundschau vom 27.11.2024
Quelle des Beitragsbildes: Wikipedia
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