
In der letzten Ausgabe der Arpo haben wir berichtet, dass die Konzerntarifkommission (KTK) des Fachbereichs E von ver.di es abgelehnt hatte, dass von der gewerkschaftlichen Verhandlungsgruppe erzielte Ergebnis der diesjährigen Tarifverhandlungen bei der Post sofort zu akzeptieren. Nach intensiven Diskussionen im Gremium verständigte sie sich darauf, einen Beschluss erst nach einer Mitgliederbefragung fassen zu wollen.
Ende März stand das Ergebnis der Befragung fest. 54 % der organisierten Kolleg:innen sprachen sich für die Ablehnung des Angebotes der Post aus, 46 % für die Annahme.
Auch wenn die Mitgliederbefragung keinen repräsentativen Charakter besitzt und ihre Durchführung äußerst problematisch war[1], so signalisiert das Votum doch die Stimmungslage unter den Beschäftigten. Mehrheitlich sehen sie die vereinbarten Entgelterhöhungen für die Jahre 2025 (ab April 2,0 %) und 2026 (ab April 3,0 %) als zu niedrig an[2]. Sie liegen weit ab von den Forderungen, mit denen die Gewerkschaft in die Auseinandersetzung gegangen war[3]. Sie gleichen weder die Preissteigerungen des aktuellen Jahres aus, noch kompensieren sie die in den letzten Jahren erlittenen Reallohnverluste. Großen Unmut erregte auch die Vereinbarung, dass den zweiten Urlaubstag nur die bekommen werden, die seit mindestens sechzehn Jahren im Unternehmen beschäftigt sind.
Die Mitglieder der KTK hatten geahnt, dass das Verhandlungsergebnis nicht auf einhellige Zustimmung stoßen werde. Aber nur die wenigsten hatten eine so krasse Ablehnung erwartet. Sie sprachen sich dennoch für dessen Annahme aus. Nach ihrer Auffassung sei die Ablehnung nicht hoch genug gewesen, um einen Erzwingungssteik einleiten zu können. Doch die Kolleg:innen in einer Urabstimmung zu fragen, ob sie zu einem unbefristeten Streik bereit seien, lehnten sie nicht zuletzt auf Druck der Fachbereichsleitung ab.
Der Vorstand des Fachbereiches, die regionalen wie betrieblichen Funktionäre beeilten sich, die Entscheidung der KTK zu rechtfertigen. Auf Bezirksebene angesetzte Videokonferenzen für die ehrenamtlichen Funktionäre mit dem Fachbereichsvorstand sollten die Gemüter beruhigen. Die meisten der Beteiligten unterstützten die Position des Vorstands wenn auch mit Bauschmerzen.
Wachsende Unzufriedenheit der Gewerkschaftsmitglieder
Betrachtet man die Gewerkschaftspolitik der letzten Jahre bei der Post, so kann man über das Ergebnis der Befragung nicht überrascht sein. Seit dem großen Streik 2015 um die Ausgliederung der Delivery wächst unter den Mitgliedern des Fachbereichs die Unzufriedenheit. Damals entzündete sie sich daran, dass der Fachbereich weder zu Beginn noch am Ende des Streiks eine Urabstimmung eingeleitet hatte.
Die Gewerkschaft zog daraus die Schlussfolgerung, die Mitglieder zukünftig stärker an der Tarifpolitik zu beteiligen. Bei der Forderungsaufstellung sollten sie befragt werden und nach der Erzielung eines Verhandlungsergebnisses immer dann, wenn der Abschluss nicht durch eine Urabstimmung bestätigt werden musste. So geschah es erstmals in der Tarifrunde 2018. Es gelang damals zwar die Delivery wieder in den Konzern zurückzuholen, doch die bescheidenen Lohnerhöhungen[4] führten dazu, dass von den etwa 50.000 Mitgliedern, die sich an der Befragung nach Ende des Konflikts beteiligten, nur zweidrittel dem Verhandlungsergebnis zustimmten.
Der Tarifabschluss 2021 ging dagegen geräuschlos über die Bühne. Ver.di hatte die Tarifverträge wegen Corona nicht zum erstmals möglichen Zeitpunkt Ende Mai 2020 gekündigt, sondern erst zum 31. August als sie wieder streikfähig war. Auch diesmal wurden die Mitglieder in die Forderungsfindung einbezogen, die Zustimmung allerdings nur durch eine Abfrage unter den Vertrauensleuten ermittelt. Nur etwa 12 % empfanden das Ergebnis (3 % ab 1.1.21 und weitere 2 % ab 1.1.22) als zu niedrig. Da zu diesem Zeitpunkt die Inflation nahe Null lag und es zum zweiten Mal eine Corona-Sonderzahlung gab, fanden die meisten Gewerkschafter das Ergebnis akzeptabel.
Doch 2022 explodierte die Inflation. Die Einkommensverluste wurden in der Tarifrunde 2023 nicht ausgeglichen, sondern im Gegenteil, durch eine Null-Runde noch getoppt. Lediglich eine Inflationsausgleichsprämie, die nicht in die Tabellenlöhne eingearbeitet wurde, kam zur Auszahlung. Erst 2024 gab es wieder eine Anhebung der Tariflöhne. Da aber alle Beschäftigten den gleichen Betrag bekamen, fiel die prozentuale Erhöhung abhängig von der jeweiligen Lohngruppe, der Wochenarbeitszeit und Gruppenstufe unterschiedlich aus. Entsprechend unzufrieden waren viele Kolleg:innen. Nur 61,70 % zeigten sich mit dem Ergebnis bei der zweiten Urabstimmung zufrieden, knapp 40 % lehnten es ab.
Und nun 2025 stimmte zum ersten Mal seit 1949 die Mehrheit der befragten Gewerkschaftsmitglieder dem Verhandlungsergebnis ihrer Führung nicht zu.
Fachbereichsvorstand lehnt Aufarbeitung der Niederlagen ab
Die wesentlichen Gründe für das Misstrauensvotum sind in der Niederlage 2015 zu suchen. Damals lehnte es die Spitze der Gewerkschaft ab, das Scheitern des über vierwöchigen Streiks sorgfältig zu analysieren und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Einige Betriebsratsvorsitzende hatten nach unserer Kenntnis während des Konflikts hinter dem Rücken der Gewerkschaft Deals mit „ihren“ Niederlassungsleitungen abgeschlossen und so die Wirkung des Streiks verpuffen lassen. Eine Reihe von Gewerkschaftsgruppen weigerte sich mit zunehmender Dauer der Auseinandersetzung Arbeitsniederlegungen vorzubereiten.
In den Zentren des Streiks wie etwa in Berlin mussten die Kolleg:innen mit ansehen, wie am Streiktor ständig befristete Kräfte und Abrufkräfte vorbeizogen, die die Post ohne Mitbestimmungsregelung einsetzte. Dies blieb ebenso ohne Konsequenzen wie der massive Einsatz von beamteten Kolleg:innen auf bestreikten Arbeitsplätzen. Die Gewerkschaft forderte nicht einmal die eigenen Mitglieder auf, einen solchen Einsatz zu verweigern. Tarifgebundene Gewerkschaftsmitglieder, die sich weigerten, dem Streikaufruf Folge zu leisten, hatten keine Nachteile zu befürchten. Die Passivität in all diesen Fragen wurde mit dem Argument begründet, dass ein strikteres Vorgehen zu einem Mitgliederverlust führen werde und so die Finanzkraft der Gewerkschaft schwäche.
Diese Haltung änderte sich in den folgenden Jahren nicht. Schritte um die Gewerkschaft wieder kampffähig und durchsetzungsstark zu machen, wurden nicht eingeleitet. Im Gegenteil. Von Jahr zu Jahr wurde die Aktionskraft des Fachbereichs schwächer.
Die Zahl der Austritte häuft sich seit 2015 und die Bereitschaft jüngerer Kolleg:innen, in ver.di einzutreten, schwächt sich ab. Der Organisationsgrad dürfte mittlerweile bei etwa 50 % liegen. Vor 20 Jahren waren es noch über 70 %.
Zersplitterung der Belegschaft
Neben den Beamten und den Tarifkräften mit sog. Besitzstand[5] gibt es unter den Postbeschäftigten die große Gruppe derjenigen, die nach 2003 eingestellt wurden. Ihre Löhne sind im Rahmen einer großen Reform der Tarifverträge um etwa 30 % abgesenkt worden. Im Jahre 2009 mit Wirkung ab 2011 gab es für neu eingestellte Kolleg:innen eine weitere Lohnabsenkung. Mit der Einführung der Gruppenstufe O wurden ihre Eingangsgehälter für die ersten beiden Beschäftigungsjahre um knapp 5 % verringert. Die Regelung galt zunächst befristet, wurde aber 2018 dauerhaft in die Lohntabellen eingearbeitet. Zusätzlich verlängerten sich mit Zustimmung der Gewerkschaft 2018 noch die Gruppenstufen von zwei auf vier Jahre für alle neu eingestellte Postler.
Die unbefristeten Beschäftigten stellen zwar immer noch die Mehrheit der Belegschaft bei der Post. Neben ihnen gibt es eine Vielzahl von Beschäftigtengruppen mit einem besonderen Status: Sachbegründete wie sachgrundlos Befristete[6], Abrufkräfte, Leiharbeiter und vereinzelt auch Minijobs. Auch bei den vertraglichen Arbeitszeiten ist eine wachsende Differenzierung zu erkennen: Neben Vollzeitkräften gibt es die immer größer werdende Gruppe der Teilzeitbeschäftigten mit nahezu allen denkbaren Wochenarbeitszeiten. Unter diesen Bedingungen wird es immer schwieriger, eine gemeinsame Interessenpolitik zu formulieren.
Zur Spaltung der Belegschaft hat auch geführt, dass die Kolleg:innen seit 2018 auf Lohnerhöhungen verzichten und stattdessen freie Tage nehmen können. Viele Beschäftigte machen davon Gebrauch[7], weil sie sich dem alltäglichen Druck am Arbeitsplatz nicht mehr gewachsen fühlen. Die eigene Gestaltung der Arbeitszeit erschwert, dass kollektive Regelungen zur Arbeitszeitverkürzung, wie etwa die Verlängerung der bezahlten Pausen, die Verringerung der Wochenarbeitszeit oder die Erhöhung der Freischichten für Nachtarbeiter:innen, zu erkämpfen.
Beschäftigte suchen Ausweg
Da die Gewerkschaft der Individualisierung der Arbeitsverhältnisse nichts entgegensetzt und sie z. T. noch befördert, wirkt sie zunehmend gegenüber dem Arbeitgeber Post als durchsetzungsschwach. Immer mehr Beschäftigte suchen einen Ausweg in der Wahl der AfD. Bereits bei der letzten Bundestagswahl stimmten 38 % der Arbeiter und etwa 20 % der Angestellten für diese Partei. Dieser Trend wird sich verstärken, wenn es für die Beschäftigten keine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse gibt. Der Koalitionsvertrag der kommenden Bundesregierung lässt dies nicht erwarten. Noch bevor der Bundeskanzler gewählt, die Minister ernannt und ein einziges Gesetz verabschiedet wurde, ist das Vertrauen in die kommende Regierung bereits stark gesungen. Die AfD ist binnen zweier Monate in der Wählergunst um etwa 4%-Punkte gestiegen.
Was eine Regierungsbeteiligung der AfD für die Postler bedeuten könnte, lässt sich derzeit in den USA beobachten. Donald Trump, das große Vorbild der Partei, versucht die amerikanische Post zu zerschlagen und die Gewerkschaftsrechte drastisch einzuschränken. Er schreckt weder vor der Privatisierung von Postdienstleistungen noch vor der Missachtung von Tarifverträgen und Massenentlassungen. Sein Ziel ist die kompromisslose Durchsetzung eines von der Bank Wells Fargo entwickelten Investorenplans, der Kapitalanlegern enorme Profite verspricht.
Die amerikanischen Gewerkschaften der Postarbeiter kämpfen derzeit um ihr Überleben. Besonders die APWU (American Postal Workers Union ist mit einem Organisationsgrad n 99 % recht kampfstark.
Die gewerkschaftsfeindliche AfD fordert noch unerbittlicher wie die bürgerlichen Parteien CDU und FDP eine drastische Einschränkung des Streikrechts. Sie will tarifungebundene Unternehmen stärken, in denen die Vorstände allein die Entlohnung und die Arbeitsbedingungen bestimmen. Tarifgebundene Firmen sollen unterstützt werden, um Tarifverträge loszuwerden oder zu missachten. Welche Folgen dies für die Belegschaften hat, lässt sich aktuell bei den Deutschland-Niederlassungen von Tesla und Amazon beobachten.
Angesichts der Herausforderungen, vor denen die Gewerkschaft in den kommenden Jahren stehen wird, kann sie erst wieder an Stärke gewinnen, wenn sich aus dem Kreis der Kolleg:innen aktive Kräfte herauskristallisieren und sich vernetzen. Einzelne Vertrauensleute haben sich bereits zusammengefunden und in einer gemeinsamen Stellungnahme die Ablehnung des Verhandlungsergebnisses bei der Post gefordert[8]. Dies lässt hoffen, auch wenn es erst ein Anfang ist.
H.B., 10.05.2025
[1] Vgl. Arpo 2’25. In einigen Niederlassungen stimmten wenige Hundert Mitglieder ab, in anderen weit über tausend bei etwa gleicher Beschäftigungszahl.
[2] Vgl. Arpo 2‘25
[3] 7 % für das Jahr 2025 lautete die Forderung der Gewerkschaft bei einer Laufzeit von einem Jahr.
[4] Ab Oktober 2018 gab es 3,0 %, ab Oktiober2019 weitere 2,1 %
[5] Etwa 20 % der Belegschaft gehören aktuell dieser Gruppe an
[6] Etwa 15% der Belegschaft haben derzeit einen befristeten Arbeitsvertrag.
[7] Zurzeit sind das etwa 20% der Beschäftigten, vor allem Zusteller.
[8] Vgl. Petition · Nein zum Angebot – Ja zu einer starken und demokratischen ver.di! – Deutschland · Change.org
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