Fotis Terzakis ist Autor und Philosophiedozent an einer Art Volkshochschule, die er selbst mit aufgebaut hat. Er hat unter anderem die Texte von Ilan Pappé ins Griechische übersetzt. Am 30. September 2025 erläuterte er den Teilnehmenden der Reisegruppe seinen Standpunkt. Dem Vortrag schloss sich eine rege Diskussion an, die in den Tagebüchern der gewerkschaftlichen Griechenland-Solidaritätsgruppe „Gegen Spardiktate und Nationalismus“ abgedruckt ist.
1. Völkermord
Derzeit findet in Palästina ein schreckliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit statt, wie wir es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen haben: eine systematische ethnische Säuberung durch den Besatzungsstaat Israel gegen die einheimische Bevölkerung Palästinas, die Ausmaße eines Völkermords angenommen hat. Der Begriff „Völkermord” wurde nun auch von der UNO selbst übernommen. In einem aktuellen Bericht ihrer Menschenrechtskommission, der 72 Seiten umfasst, werden vier der fünf Handlungen, die nach internationalem Recht den Straftatbestand des Völkermords erfüllen, als erwiesen angesehen. Wir wissen außerdem, dass der israelische Ministerpräsident und ein weiteres Mitglied seines Kabinetts wegen desselben Verbrechens vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt sind, nachdem Südafrika Klage eingereicht hatte.
Die USA und die Mehrheit der europäischen Regierungen weigern sich diese Einstufung zu akzeptieren. Sie erklären im Gegenteil ihre Unterstützung für den Völkermordstaat Israel. Die mächtigsten unter ihnen unterstützen Israel politisch, wirtschaftlich und militärisch, damit es seine kriminellen Handlungen fortsetzen kann. Diese Länder, die als „der Westen” bezeichnet werden, machen sich zu Mittätern eines abscheulichen Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Wenn es irgendwann einmal die Machtverhältnisse erlauben, Israel und seinen Amtsträgern strafrechtliche Verantwortung zuzuweisen, müssen die oben genannten Länder als Mittäter verurteilt werden und entsprechende strafrechtliche Konsequenzen tragen (wie sie Nazi-Deutschland nach seiner Kriegsniederlage auferlegt wurden).
Der Zynismus und die Verachtung der mächtigen westlichen Länder gegenüber jeglichen Grundsätzen von Moral und Recht, die bis vor kurzem noch als Bollwerk gegen vermeintliche „autoritäre Regime” auftraten, überschritten jede vorstellbare Grenze mit der brutalen Erklärung des deutschen Bundeskanzlers Merz im vergangenen Winter. Er sagte, dass „Israel die Drecksarbeit für uns erledigt”. Und Ilan Pappé, der mutige israelische Historiker, der sich stets als entschiedener Verfechter der palästinensischen Sache gezeigt hat, erklärte kürzlich in einer Rede in Athen: „Meinen deutschen Freunden würde ich sagen: Ihr habt euch einmal auf der falschen Seite der Geschichte wiedergefunden; passt auf, dass ihr euch nicht ein zweites Mal dort wiederfindet.“
Gleichzeitig verkünden die Regierungen dieser Länder buchstäblich diktatorische Verbote gegen jede öffentliche Kritik an ihrer Politik. Sie zensieren die Medien und verfolgen Menschen (sozial, moralisch, beruflich und strafrechtlich), die sich mit der geschlachteten Bevölkerung Palästinas solidarisch zeigen. Dies geschieht in einer Weise, die sogar die sogenannten „autoritären Regime“ der heutigen Welt, welche mit dem Nazi-Regime des Zweiten Weltkriegs verglichen werden, übertrifft. Diese Form der Knebelung wird durch Gesetze geschützt, die durch eine irreführende Verkehrung unter dem Vorwand der Bekämpfung von Rassismus, insbesondere in Form von Antisemitismus, erlassen wurden. Sie dienen auf perverse Weise zur Rechtfertigung des Täters und zur Isolierung des Opfers. Diese äußerst heimtückische Strategie der Verdrehung von Bedeutungen ist eine zusätzliche Gewalttat. Sie geht über die physische Vernichtung der Schwachen hinaus. Sie zielt auf die Beseitigung des menschlichen Urteilsvermögens und der menschlichen Vernunft.
2. Zionismus und Antisemitismus
Antisemitismus ist eine typisch europäische rassistische Ideologie, deren Opfer die machtlosen jüdischen Gemeinschaften der Diaspora waren. Er wurde seit dem Ende des Mittelalters von verschiedenen christlichen Kirchen konsequent geschürt, von den sich bildenden Nationalstaaten genutzt und gipfelte in dem schrecklichen Völkermord an den deutschen und europäischen Juden durch das Nazi-Regime. Sie wird zu Recht als rassistische Ideologie im Allgemeinen verurteilt – unabhängig davon, wer jeweils ihr Opfer ist: Juden, Schwarze, Homosexuelle, Frauen, Andersgläubige usw. Es handelt sich um wechselnde Positionen innerhalb der rassistischen Ideologie. Die Voraussetzung dafür, dass jemand zum Opfer wird, ist, dass er anders und schwach ist.
Dies erklärt das paradoxe Phänomen, dass überall in der westlichen Welt die politische Rechte, die seit jeher Trägerin antisemitischer Ideen war, sich heute mit Israel verbündet und ihren rassistischen Hass stattdessen gegen Muslime und Araber richtet. Der „Jude” ist kein geeignetes Ziel für Antisemitismus mehr, weil er seit der Gründung des Staates Israel weder „anders” noch schwach ist. Er ist weiß in einem Meer dunkler Hautfarben; er vertritt europäische Interessen in einem ehemals kolonialisierten Gebiet und vor allem ist er stark dank seiner Identifikation mit dem imperialistischen Westen, insbesondere mit den USA. Der wahre Antisemit verehrt Macht und verachtet Schwäche: Verarmte Flüchtlinge aus zerfallenen muslimischen Ländern und Völker, die unter der neokolonialen Politik des Westens leiden, sind viel geeignetere Sündenböcke für seine eigene Erbärmlichkeit. Der moderne Antisemitismus hat vor allem die Form der Islamophobie.
Im Gegensatz dazu hat die „Achse des Widerstandes“, sei sie staatlich (wie der Iran) oder nichtstaatlich (wie die Hisbollah, die Hamas und alle Organisationen des palästinensischen Kampfes oder die Ansar Allah in Jemen), weder einen Völkermord an den Juden gefordert oder propagiert. In Iran beispielsweise gibt es eine bedeutende jüdische Minderheit, die die vollen Rechte iranischer Bürger genießt und im Majlis (dem islamischen Parlament) vertreten ist. Ihr Ziel ist der Besatzungsstaat Israel als solcher, wegen dem, was er tut, und nicht wegen dem, was er ist. Antisemitismus ist ein rein europäisches Phänomen und hat außerhalb der europäischen Welt nie Fuß gefasst.
Der Zionismus ist die entsprechende nationalistische und rassistische Ideologie, die die Gründung Israels als neokolonialen Staat vorangetrieben hat. Er entstand bekanntlich in Kreisen der jüdischen Diaspora in Mittel- und Osteuropa. Der Zionismus war eine Reaktion auf die Verfolgung und das Leid der jüdischen Gemeinden. Seine Vision bestand in der Schaffung einer Heimat für die Juden, eines jüdischen Staates. Es handelte sich um eine säkulare Bewegung mit politischen Zielen, ähnlich wie andere Nationalismen, die zwischen dem 17. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts die moderne europäische Landkarte geprägt haben. Zwei Dinge sind hier charakteristisch:
- Erstens, dass sie keineswegs die Gesamtheit der jüdischen Gemeinden Europas repräsentierte. Bis zur Zwischenkriegszeit waren diese grob in vier Hauptströmungen unterteilt: 1) die bürgerlich-assimilatorische, die eine politische Integration mit vollen politischen Rechten in den Ländern, in denen die Juden lebten, forderte; 2) die traditionell-religiöse Strömung, die die strikte Einhaltung der Traditionen und das geduldige Warten auf den Messias als Erlösung vom Leiden der Juden befürwortete; 3) die sozialistisch-revolutionäre Strömung, die das Ende der jüdischen Unterwerfung vom Sturz der kapitalistischen Verhältnisse von der Schaffung einer echten kommunistischen Gesellschaft abhängig machte; und 4) die zionistische Strömung, die einen eigenen Nationalstaat für die Juden forderte.
- Zweitens, dass der Zionismus als säkulare Bewegung sich einer religiösen Argumentation bediente, die aus der Bibel – an die er nicht glaubt – stammt: dass Gott dem Volk Israel das Land Palästina versprochen hat und dass die Juden, die dort leben, den göttlichen Willen vollstrecken. Das Rassistische an dieser Ideologie ist das Postulat der von Gott gegebenen Überlegenheit des jüdischen Volkes.
Trotz seines geringen Einflusses auf die jüdische Bevölkerung in der Diaspora fand die zionistische Bewegung einen unerwarteten Unterstützer gerade in den antisemitischen Kreisen Europas – insbesondere in Großbritannien, das nach der Niederlage und Zerstückelung des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg die Verwaltung von Palästina als Protektorat übernahm. Als Antisemiten sahen europäische Politiker in der Gründung eines jüdischen Staates fernab ihrer Grenzen eine einmalige Gelegenheit, die unerwünschten Juden loszuwerden. Als skrupellose Vertreter des Imperialismus sahen sie darin die Möglichkeit, einen „langen Arm“ zur Kontrolle der reichen Ölgebiete des Nahen Ostens zu schaffen. Die Vernichtung des Judentums in Europa durch das Nazi-Regime lieferte den moralischen und politischen Vorwand für die Gründung Israels. Sie übertünchte die offensichtliche Ungerechtigkeit, dass dies auf Kosten eines anderen, des palästinensischen Volkes geschah, das am Leid der Juden in Europa völlig unschuldig war.
Sobald dieser Staat durch eine gewaltsame ethnische Säuberung geschaffen war, wurde der Zionismus zu seiner legitimierenden Ideologie. Und die stärkste Waffe, um jede Kritik an seinen brutalen Praktiken zu unterdrücken, war deren Diffamierung als Antisemitismus. So entstand eine enorme Verwirrung, die bis heute zur Legitimierung Israels genutzt wird: Antizionismus wird als Antisemitismus diffamiert, während der Zionismus selbst als Erbe des rassistischen Antisemitismus agiert.
3. Was ist Israel?
Heute werden von den verlogenen Gesellschaften des Westens diejenigen als „Antisemiten” verfolgt, die die Legitimität des Staates Israel in Frage stellen. Wenn die europäischen Regierungen gezwungen sind, unter dem Druck ihrer Völker etwas über „übermäßige Gewalt” seitens Israels und über eine „Zweistaatenlösung” zu sagen – wohl wissend, dass diese unter den gegenwärtigen Umständen praktisch unerreichbar ist und dem zionistischen Regime Zeit verschafft, die ethnische Säuberung zu vollenden –, geben sie die Schuld ausschließlich dem „fanatischen“ Netanjahu und den “Rechtsextremen” in seiner Regierung. Zum Ausgleich verurteilen sie gleichzeitig die „terroristische“ Hamas. So wird der Täter mit dem Opfer gleichgesetzt und das Besatzungsregime selbst entlastet. In der israelischen Gesellschaft heißt laut aktuellen Umfragen eine überwältigende Mehrheit von 70 % den stattfindenden Völkermord gut. Ist sich dort jemand bewusst, was für ein „Staat“ Israel ist?
Israel wurde offiziell 1948 auf der Grundlage der Resolution 181 des UN-Sicherheitsrats gegründet, aber die Besiedlung Palästinas durch jüdische Siedler hatte schon viel früher begonnen – mit der Balfour-Erklärung von 1917 als Meilenstein, die einen jüdischen Staat in Palästina vorsah, ohne die Rechte der einheimischen Araber eindeutig zu garantieren. Mal durch Landkäufe, mal durch offene Gewalt, immer mit der stillschweigenden Unterstützung der britischen Kolonialherren, eigneten sich die jüdischen Siedler bereits bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs einen Großteil des palästinensischen Landes an. Sie gründeten paramilitärische Organisationen wie die Haganah und die Irgun, die ihre Gewalt gegen die arabischen Bauern eskalierten und kurz vor 1948 eine brutale ethnische Säuberung praktizierten. Dies hatte etwa eine halbe Million Vertriebene und Flüchtlinge in den umliegenden arabischen Ländern zur Folge. Die UNO erkannte durch die offizielle Anerkennung des Staates Israel etwa 52 % des palästinensischen Landes als jüdisches Territorium an – defacto durch „vollendete Tatsachen vor Ort”, wie man so sagt. Der palästinensische Staat, der laut UN-Resolution auf den restlichen 48 % des Territoriums entstehen sollte, wurde nie gegründet, weil Israel dies nicht zuließ. Im Gegenteil, es eroberte durch Vertreibungen, Morde, Masseninhaftierungen und Übergriffe auf die arabische Bevölkerung immer mehr Gebiete, während es gleichzeitig durch blitzartige Militäroperationen Gebiete aus benachbarten arabischen Ländern annektierte (Ägypten, Jordanien, Libanon, Syrien).
Ein Staat wird in erster Linie durch festgelegte Grenzen definiert und in zweiter Linie natürlich durch eine Verfassung. Der Staat Israel hat der UNO niemals Grenzen vorgelegt, da die Logik der unbegrenzten Expansion von Anfang an Teil seines zionistischen Plans war (heute sprechen sie offen vom „Groß-Israel” vom Jordan bis zum Nil, und ausgewählte israelische Streitkräfte tragen die Karte auf ihrem Armband). Aus dem gleichen Grund weigerte sich Ben Gurion nach der Gründung des Staates 1948, eine Verfassung zu verabschieden, um sich Verhandlungsspielraum zwischen dem ethnischen und dem religiösen Element zu sichern. Israel definiert die politische Identität immer noch in religiösen und ethnisch-stammesspezifischen Begriffen, was es zu einem typisch fundamentalistischen Staat macht. Es hat nie die Rückführung der durch seine wiederholten ethnischen Säuberungen Vertriebenen zugelassen, wie es das Völkerrecht vorsieht und vorschreibt und ausdrücklich in der Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats von 1967 gefordert wird. Israel erhöht ihre Zahl ständig durch weitere Säuberungsaktionen, indem es die verbliebene arabische Bevölkerung auf jede erdenkliche Weise entwurzelt, tötet, vertreibt, inhaftiert und foltert. Demütigungen, Verhaftungen, außergerichtliche Inhaftierungen und Morde, Brandstiftung an Eigentum sind an der Tagesordnung. In den Gefängnissen Israels werden Foltermethoden angewendet, die wir nur aus den schlimmsten Diktaturen kennen. Wissen Sie, wie viele UN-Resolutionen Israel bis heute missachtet hat?
Seit seiner Konzeption war der Staat Israel ein Projekt kolonialer Besiedlung, das von den imperialistischen Mächten des Westens entworfen worden ist. Kolonialisierung bedeutet die Ansiedlung weißer Kolonisten, wie es in den USA und Kanada, Australien und Neuseeland und Südafrika der Fall war oder auch in Algerien. Im Gegensatz zur kolonialen Besiedelung existierten die Ausbeutungskolonien, deren Urbild Britisch-Indien war. Im Gegensatz zu letzteren, die auf der Ausbeutung von Ressourcen und billiger Arbeitskraft der Untertanen beruhten, zielten die Siedlungskolonien auf die vollständige Auslöschung der einheimischen Bevölkerung ab. Was mit den Indianern in Nordamerika und den Aborigines in Australien geschah (und nur aufgrund des zahlenmäßigen Verhältnisses der Bevölkerungen in Südafrika vermieden wurde), ist das Schicksal, das von Anfang an für die Palästinenser vorgesehen war. Es ist das erklärte Ziel Israels, das in letzter Zeit von allen politischen Lagern und nicht nur von der „Rechten” oder „Rechtsextremen” Netanjahus und seiner Mitstreiter offen verkündet wurde.
Seit über 75 Jahren ist die Palästinafrage die Wunde des Nahen Ostens und der Welt. Es kann nicht gelöst werden, weil Israel keine Lösung will; es kann weder die Integration der palästinensischen Bevölkerung mit gleichen politischen Rechten noch die Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staates akzeptieren. Was Israel will, ist die vollständige Auslöschung des palästinensischen Elements, und es macht es auch keinen Hehl daraus. In den 1920er Jahren verkündete Jabotinsky, dass „die Araber verschwinden müssen“; 1948 erklärte Ben Gurion unverblümt, dass „wir sie auslöschen müssen“; in den 1970er Jahren versicherte Golda Meir (1970), dass „es keine Palästinenser gibt“. Was heute von der faschistischen Regierung Netanjahu und seinen „rechtsextremen“ Ministern, aber auch von US-Regierungsbeamten wie Außenminister Marco Rubio, verkündet wird, ist ein festes Ziel des Zionismus seit der Gründung Israels und bereits schon vorher.
4. Die Position Palästinas auf dem globalen geopolitischen Schachbrett
Wie kann ein winziger Staat mit 9 Millionen Einwohnern, von denen 3 Millionen arabische Bürger zweiter Klasse sind, die unter Apartheid leben, so lange ungestraft einen solch provokativen Schlag gegen die internationale Legalität ausführen? Die Antwort liegt nicht innerhalb Israels, sondern in den Vereinigten Staaten von Amerika. Es wurde viel über die Macht der pro-israelischen Lobby in den USA gesagt und geschrieben, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich ist Israel, insbesondere seit dem Sechstagekrieg 1967, zu einem organischen Bestandteil der imperialistischen Maschinerie der USA geworden, zu ihrem „bewaffneten Arm” in der kritischen Region des östlichen Mittelmeerraums und Westasiens. Was ihm erlaubt, sich wie ein internationaler Terrorist zu verhalten, jede internationale Konvention zu missachten, illegal und außerhalb jedes internationalen Vertrags Atomwaffen zu besitzen, Gebiete zu erobern und auf mafiöse Weise Führer von Widerstandsorganisationen oder rivalisierenden Ländern zu ermorden, ist die uneingeschränkte Unterstützung – wirtschaftlich, diplomatisch, politisch – und die großzügige Bewaffnung durch die USA. Und die USA sind bis heute ein Komplize bei all seinen kriminellen Handlungen.
An dieser Stelle möchte ich zwei besonders abscheuliche Praktiken hervorheben, die jegliche Regeln in den internationalen Beziehungen zunichte machen und den geopolitischen Verhältnissen eine Ethik buchstäblich mafiöser Banden aufzwingen – Praktiken von Israel und den USA. Die eine ist die Ermordung von Führungspersönlichkeiten auf fremdem Boden. Ich erinnere nur an die feige Ermordung des iranischen Generals Qasem Soleimani im Jahr 2020 im Irak durch die USA und die identischen Morde Israels in den letzten zwei Jahren an dem Hamas-Führer Ismail Haniyeh (in Teheran), dem Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah (in Beirut), der gesamten Regierung der Ansarallah in Jemen vor kurzem und möglicherweise des ehemaligen Präsidenten Ebrahim Raisi und des Außenministers Amir Abdollahian von Iran an der Grenze zu Aserbaidschan – neben unzähligen anderen weniger bekannten Personen.
Die zweite, noch verhängnisvollere Praxis ist die Sprengung der Diplomatie als Mittel der internationalen Kommunikation und Verständigung. Wenn die Diplomatie selbst zu einem Mittel der Täuschung und Verführung des Gegners wird, dann kennt die Irrationalität keine Grenzen und es gibt keinen Ausweg aus der brutalen, unkontrollierten und katastrophal eskalierenden Gewalt. Genau das tun jedoch heute Israel und die USA, aber auch ihre europäischen Verbündeten: Ich erinnere an die Abkommen Minsk-1 und Minsk-2 mit Russland. Am 8. Juni dieses Jahres griff Israel – mit Ausrüstung und Unterstützung der Amerikaner und Briten – überraschend den Iran an und ermordete Politiker und Atomwissenschaftler, während der Iran sich in offiziellen Verhandlungen mit der Internationalen Atomenergiebehörde nach Absprache mit den USA befand; und die USA selbst beeilten sich, den Iran zu bombardieren, als dieser auf eine solche heimtückische und unmoralische Handlung reagierte. Die Internationale Atomenergiebehörde selbst erweist sich als Spionageagentur Israels und der USA zum Nachteil des Iran. Und wieder ganz aktuell, am 13. September, sahen wir mit Erstaunen, wie Israel das verbündete Land Katar bombardiert, um Funktionäre der Hamas zu ermorden, die sich dort aufhielten, um mit israelischen Vertretern auf der Grundlage eines von den USA selbst vorgeschlagenen Plans zu verhandeln! Welche diplomatische Beziehung ist noch möglich mit einem Gegner, der so schmutzig spielt?
Derzeit überschatten der Russland-NATO-Krieg in der Ukraine und die jüngste Wendung des Nahost-Dramas in Palästina, im Libanon und in Syrien unsere internationale Aktualität und lassen viele vom Beginn eines dritten, modularen Weltkriegs sprechen. Hinter diesen Ereignissen steckt dieselbe kriminelle Hand, die Hand der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten. Das verbindende Element ist die Strategie des kontrollierten geopolitischen Chaos, die von den Vereinigten Staaten von Amerika angesichts des sich abzeichnenden Verlusts ihrer weltweiten Vorherrschaft vorangetrieben wird. Die erste Phase dieser Strategie wurde 1971 offen eingeleitet, als die Vereinigten Staaten angesichts des ersten Erschütterungsschocks durch den ausweglosen Vietnamkrieg und die wachsenden Defizite ihrer Wirtschaft begannen, die Weltwirtschaftsordnung aufzulösen, die sie selbst nach dem Zweiten Weltkrieg in Bretton Woods eingeführt hatten. Heute deutet alles darauf hin, dass wir Zeugen der zweiten, entscheidenderen Phase dieses Prozesses werden, in der die USA methodisch das Völkerrecht und die internationalen zwischenstaatlichen Abkommen auflösen, die die Grundlagen einer Weltordnung bilden, die sie selbst in ihrer Zeit der unangefochtenen Vorherrschaft diktiert hatten und für deren Einhaltung sie sich als Garanten präsentierten.
In diesem Zusammenhang bleibt der von den USA kontrollierte westlich-imperialistische Block – trotz zahlreicher Interessen- und Taktikkonflikte in seinem Inneren – weiterhin gefährlich. Dieser Block ist geeint in seinem Bestreben, einer sich abzeichnenden Wettbewerbskoalition – die teilweise, aber nicht ausschließlich durch die BRICS-Staaten vertreten wird – entgegenzuwirken. Wenn man das große Ganze betrachtet, sind die einzelnen Fronten miteinander verbunden und die Lager sind recht klar abgegrenzt. Der von mir angedeutete „Weltkrieg” hat drei Hauptfronten: Russland, Iran, China. Er wird strategisch von den Vereinigten Staaten orchestriert, die auch die strategischen Zuständigkeiten verteilen: Die Europäische Union hat die Aufgabe übernommen, Russland aufzuhalten und zu schwächen, Israel die Zerstörung des Iran und der sogenannten „Achse des Widerstands“, und die USA selbst tragen die Hauptlast der Streitkräfte für einen zu erwartenden Konflikt mit China. Die zunehmende Schwäche des Westens in dieser Auseinandersetzung verleiht dem Konflikt jedoch einige beispiellose Merkmale. Das eine ist der hybride Charakter des Krieges, da die wahren Drahtzieher sich zurückhalten, sich auf eine direkte Konfrontation einzulassen, und stattdessen zunehmend versuchen, „durch Stellvertreter“ zu agieren – solange solche sich finden lassen. Das zweite ist die brutale und schmutzige Art des Krieges, die jedes bisher geltende Kriegsrecht, jeden humanitären Grundsatz und jede kommunikative Regel missachtet, die verhindern würden, dass der Krieg zu einem Völkermord gigantischen und irreparablen Ausmaßes führt.
Es ist vielleicht ein sich wiederholendes historisches Phänomen, dass mächtige Imperien in ihrer Blütezeit irrational aggressiv und unberechenbar werden – und diese Entfesselung der Gewalt ist an sich schon ein Vorbote ihres bevorstehenden Untergangs. In dieser Hinsicht scheinen die Vereinigten Staaten keine Ausnahme zu sein. Was ihren Fall einzigartig gefährlich macht, ist das Ausmaß und die Größe der von ihnen eingesetzten zerstörerischen Technologien. Und es besteht kein Zweifel, wenn man ihre Vergangenheit betrachtet, dass sie über genügend Hartnäckigkeit und Irrationalität verfügen, um lieber den gesamten Planeten zu zerstören, als den Verlust ihres missbräuchlichen Privilegs zu akzeptieren.
Auf jeden Fall erhalten die methodische Zerstörung des Nahen Ostens und der schreckliche Völkermord am palästinensischen Volk nur in diesem Zusammenhang ihre volle Bedeutung. Ob Israels mörderischer Wahnsinn es jedoch vor dem Schicksal der Kreuzfahrerstaaten der Vergangenheit bewahren wird, bezweifle ich sehr.
Video:
In Conversation with Dr. Norman G. Finkelstein
Bücher:
Ilan Pappé, Eine sehr kurze Geschichte des Israelisch-Palästinensischen Konflikts (BoD 2025)
Norman Finkelstein, Die Holocaust-Industrie: Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird (Piper 2002)
Edward Said, Orientalismus (S. Fischer 2009)
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