„Friedhof der Namenlosen“

in Oerbke bei Fallingbostel am 27. Juni 2021
Gedenken zum 80. Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion

Am Bahnhof von Bad Fallingbostel erinnert eine Gedenkplatte an die Transporte von Kriegsgefangenen nach Oerbke
Quelle: Wikimedia

Am 80. Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion fanden vielerorts Gedenkveranstaltungen statt, etliche davon auf den Friedhöfen für Soldaten der Roten Armee, die in den zahlreichen Stalag‘s (Stammlagern) ums Leben kamen – insgesamt mehr als drei der über fünf Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen insgesamt. Nachstehend ein Redebeitrag der Gedenkveranstaltung auf dem „Friedhof der Namenlosen“ in Oerbke bei Fallingbostel am 27. Juni 2021 für die Opfer von STALAG XI B (357) und Stalag XI D (357) auf dem 1936-38 angelegten Truppenübungsplatz Bergen, dem europaweit größten, heute genutzt von Bundeswehr und NATO.

Veranstalter waren, wie in dieser Konstellation derzeit wohl nur in Niedersachsen möglich: VVN/BdA, (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes), Evangelische Kirchengemeinde St. Dionysius Fallingbostel, Katholische Kirchengemeinde Sankt Maria, Bad Fallingbostel, DGB, ver.di, GEW, IG Metall, Friedensaktion Lüneburger Heide, Geschichtswerkstatt e.V..

Gemeinsam verabschiedet der Zusatz auf Handzetteln, Plakaten und im Internet: „Anweisung des Generalquartiermeister Eduard Wagner im November 1941: ‚Nichtarbeitende Kriegsgefangene in den Gefangenenlagern haben zu verhungern“.

Eingeladen war das russische Konsulat in Hamburg, dessen Attaché, Mikhail Selenkin, seine Ansprache mit dem Hinweis schloss, nach einem nochmaligen Überfall auf Russland werde es wohl kein Deutschland mehr geben. Die Historikerin Vera Hilbich, die die Geschichte des Umgangs mit der lokalen Verbrechensgeschichte nach 1945 untersucht und publiziert hat, berichtete, dass das Denkmal auf dem Kriegsgefangenenfriedhof, errichtet von Überlebenden, später abgerissen und durch ein Denkmal des Nazi-Bildhauers Seelenmeyer ersetzt wurde. Friedhofspflege habe meist nur stattgefunden, wenn sich die Alliierten beschwerten. Um an Jahrestagen der Befreiung vom Faschismus Gedenkfeiern zu behindern, seien von Bundeswehr- und NATO-Zuständigen auch schon mal Manöver verlängert worden.

„Fußstapfen der Freiheit sind Gräber“

(Volker Braun,
Rede anlässlich der Verleihung
des Büchner-Preises 2000)

Nur wenige Gräber der russischen Kriegsgefangenen, die hier verendet sind, wurden durch beschriftete Steine kenntlich gemacht. „Rund 30.000“, oder, wie es an anderer Stelle heißt, „30-40.000“ liegen hier und in den nahe gelegenen Gräberfeldern des Truppenübungsplatzes Bergen unter der Erde – Verhungerte, Totgeprügelte, Erschossene, Erhängte, an Seuchen Gestorbene – ermordet im Staatsauftrag faschistischer Schreckensherrschaft in Deutschland. Ab- oder aufgerundete Zahlen – der Einzelne zählt nicht beim Massenmorden, hat aber ein Schicksal – und mit ihm seine Angehörigen – trauernde Eltern, Geschwister, Kinder: Mitleidende in vielfacher Zahl der geschätzt 27 Millionen Toten in der Sowjetunion.

Friedhof der Namenlosen für die 30.000 bis 40.000 fast ausschließlich sowjetische Kriegsgefangenen
Quelle: Wikimedia

Der schmerzende Satz von Volker Braun lautet in anderer Wortfolge: „Gräber sind Fußstapfen der Freiheit“. Unser Gedenken an die Ermordeten hier, ein Bruchteil der mehr als 3 Millionen in Deutschland bestialisch ums Leben gebrachten russischen Kriegsgefangenen, Gedenken zugleich an die generalstabsmäßig getöteten Rotarmisten, Partisanen und Zivilisten in der SU, beinhaltet einen Auftrag, den es zu konkretisieren gilt: ihr Sterben erhält einen Sinn, wenn wir uns nicht beschränken auf Erklärungen und Transparente wie „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“, sondern aufklären über Geschichte wie Gegenwart und uns dem Eingreifen bei ökonomischen und politischen Konflikten nicht verweigern.

Zur Geschichte ein Zitat aus Hitlers Rundfunkrede, mit der er am 22. Juni 1941 den Angriff auf die Sowjetunion bekannt gab: „Seit über zwei Jahrzehnten hat sich die jüdisch-bolschewistische Machthaberschaft von Moskau aus bemüht, nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa in Brand zu stecken.“

Und Heinrich Himmler, am 4. Oktober 1943, noch nach den kriegsentscheidenden Niederlagen von Stalingrad und Kursk: „Diese Masse muss eben zertreten und abgestochen, abgeschlachtet werden. Es ist, um einmal ein ganz brutales Beispiel zu gebrauchen, wie bei einem Schwein, das abgestochen wird und allmählich ausbluten muss.“ Oder am 16. Dezember 1943 in Weimar vor Befehlshabern der Kriegsmarine: „… so habe ich grundsätzlich den Befehl gegeben, auch die Weiber und Kinder dieser Partisanen und Kommissare umbringen zu lassen. Ich wäre ein Schwächling und ein Verbrecher an unseren Nachkommen, wenn ich die hasserfüllten Söhne dieser von uns im Kampfe von Mensch gegen Untermensch erledigten Untermenschen groß werden ließe.“

Anweisungen wie diese wurden umgesetzt, nicht nur von der Waffen-SS, vielfach auch von der Deutschen Wehrmacht. Als mein Vater im Frühjahr 1943 letztmalig im Urlaub bei uns war, bevor er wenige Monate später in der Panzerschlacht im Kursker Bogen fiel, folgte seinem Satz „Wir haben den Krieg verloren“ das bittere Eingeständnis „Wenn nach allem, was wir in Russland angerichtet haben, auch nur einer von euch überlebt, könnt ihr von Glück sagen.“

Konsequenzen, die ins Heute reichen. Bereits vor 21 Jahren, kurz nach dem NATO-Krieg gegen das inzwischen zerschlagene Jugoslawien, warnte Willy Wimmer, langjährig verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/CSU und Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung, in seinem Brief vom 2. Mai 2000 an Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Die amerikanische Seite scheint im globalen Kontext und zur Durchsetzung ihrer Ziele bewusst und gewollt die als Ergebnis von 2 Kriegen im letzten Jahrhundert entwickelte internationale Rechtsordnung aushebeln zu wollen. Macht soll Recht vorgehen. Wo internationales Recht im Wege steht, wird es beseitigt. Als eine ähnliche Entwicklung den Völkerbund traf, war der Zweite Weltkrieg nicht mehr fern. Ein Denken, das die eigenen Interessen so absolut sieht, kann nur totalitär genannt werden.“

Hinweise wie dieser blieben und bleiben unbeachtet: so sollte vor einem Jahr auf dem angrenzenden Truppenübungsplatz in Bergen-Fallingbostel Militär der NATO mit dem Großmanöver „Defender 2020“ für einen politisch offenbar denkbaren Einsatz an der russischen Grenze trainieren. Das Manöver wurde wegen der Pandemie nur teilweise durchgeführt, an den politischen Absichten und Vorbereitungen weiterer Kriege hat sich kaum etwas geändert, und wenn, allenfalls zum Unguten.

„Mehr Führung wagen“ – FAZ, Samstag, 19. Juni 2021, Frau Kramp-Karrenbauer aus ihrer Rede vor der Führungsakademie der Bundeswehr vom Vortag zitierend: „Wir müssen dem Ringen um Werte Muskeln verleihen“. Forderung der Verteidigungsministerin (abgesehen von ihrer Wortwahl, die mich anwidert): Erhöhung des deutschen Verteidigungsetats, der mit 50 Milliarden jährlich bedauerlicherweise noch immer unter den angestrebten zwei Prozent des deutschen Gesamtetats läge, und Beibehaltung der nuklearen Teilhabe – im Wortlaut der FAZ: „… durch den Kauf neuer Kampfflugzeuge sicherzustellen, dass Deutschland auch künftig amerikanische Atomwaffen anwenden und Teil des nuklearen Abschreckungsszenarios der NATO bleiben könne.“ Und im Wortlaut der deutschen Verteidigungsministerin: „Verteidigung, das heißt Abschreckung mit der Androhung militärischer Gewalt, um so Raum für politische Lösungen zu schaffen. Aber notfalls heißt es auch Anwendung militärischer Gewalt – kämpfen. (…) Ich wünsche Ihnen dafür in ihrer zukünftigen Laufbahn viel Soldatenglück und Gottes Segen.“

Aber selbst Frau Karrenbauer kommt in ihrer Ansprache nicht umhin einzuräumen „die Geschichte lässt uns niemals los“, um allerdings gleich anschließend darauf hinzuweisen, die Welt wisse um die „demokratische Gefestigtheit Deutschlands“. Deutschland dürfe seine Führungsrolle „ruhigen Gewissens annehmen“.

Ob mangelndes geschichtliches Wissen oder Verlogenheit – für die Meinungsbildung, ob von Regierungsseite oder durch gleichgeschaltet wirkende Medien, läuft aufs Gleiche hinaus, ist letztlich nur konsequente Fortsetzung der „Geistig-moralischen Rechtswende“ von 1980, bevor es 1989 mit dem Mauerfall und dem folgenden Anschluss der DDR zur politischen „Wende“ kam. Der nach wie vor vielzitierte Historiker Ernst Nolte interpretierte damals den Holocaust und Auschwitz als Reaktion der faschistischen Regierung Nazi-Deutschlands auf vorausgegangene Massenverbrechen in der Sowjetunion: „War nicht der ‚Archipel Gulag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ‚Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius (also Vorläufer) des ‚Rassenmords‘ der Nationalsozialisten? Sind Hitlers geheimste Handlungen nicht gerade auch dadurch zu erklären…“

Stichworte offenbar für Annalena Baerbock und Robert Habeck mit ihren propagandistischen Äußerungen gegen Russland… Mit Franz Kafka, der zu Beginn des 1. Weltkriegs konstatierte: „Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht“ (Kafka, 1914-15 in „Der Prozess“, Seite 233).

„Die Kapitalisten wollen keinen Krieg, sie müssen ihn wollen“ (B. Brecht) Warum?

1933 – der deutsche Faschismus war der Ausweg der bürgerlichen Klasse aus der ökonomischen und politischen Krise. Um ihre ökonomische Macht zu retten wurden die nationalsozialistischen Terrorgruppen finanziert, um soziale Bewegungen zu unterdrücken. Dass der Widerstand der Gewerkschaften und der Arbeiterparteien ausblieb, führte mit der Machtergreifung 1933 zur dunkelsten Stunde in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung.

Eine Frage, die heute Menschen in zunehmender Zahl bewegt: warum der Aufmarsch gegen Russland und China. Ich beschränke mich hier auf nur einen Aspekt: Es gibt zurzeit drei ökonomische Zentren: USA, EU, China. Interesse der US-Regierung als Ausweg bei Fortschreiten der ökonomischen Krise kann nur sein, mit Hilfe der NATO eins dieser Zentren auszuschalten. Glauben wir den Medien, scheint es sich um China zu handeln. Aber warum dann die Mobilisierung zum Aufmarsch gegen Russland? Dass dieser Krieg vor allem in Europa ausgetragen würde, wird hier erwähnt – über die Möglichkeit, dass die Auslöschung des europäischen Konkurrenten im Interesse der amerikanischen Regierung liegen könne, bleibt unerwähnt. Wir sollten darauf hinweisen.

Heinrich Heine:

„Aber ach! jeder Zoll, den die Menschheit weiter rückt, kostet Ströme Blutes; und ist das nicht etwas zu teuer? Ist das Leben des Individuums nicht vielleicht eben so viel wert wie das des ganzen Geschlechtes? Denn jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt, unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte – »Still davon«, so würden die Toten sprechen, die hier gefallen sind, wir aber leben und wollen weiterkämpfen im heiligen Befreiungskriege der Menschheit.“

Die Gräber der Toten hier zu Fußstapfen der Freiheit machen – lasst uns den Auftrag annehmen.


aus Arbeiterpolitik Nr. 5/6 2021

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