Deutschlands Interessen in Europa und der Ukraine-Krieg

Als „dümmste Regierung in Europa“ bezeichnete Sahra Wagenknecht die deutsche Regierung in ihrer Bundestagsrede am 8. September. Aufgrund des Wirtschaftskrieges gegen Russland würden Millionen von Menschen mit nicht oder kaum noch bezahlbaren Energiekosten belastet, viele, vor allem kleine und mittelständische Unternehmen ständen vor dem Ruin.

Trotzdem werden die Sanktionen nach der russischen Teilmobilmachung noch verschärft, die Waffenlieferungen gehen auch angesichts eines drohenden Nuklearkriegs unvermindert weiter. Deutsche Politiker reisen um die Welt auf der Suche nach teurem Flüssigerdgas, das das billige russische Pipelinegas ersetzen soll. Flüssiggasexporteure aus den USA und anderswo machen Bombengeschäfte. Arabische Ölstaaten, denen Menschenrechte und Demokratie egal sind, werden umworben; die Türkei bekommt einen Freibrief in ihrem Krieg gegen die Kurden, damit sie den Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens akzeptiert; Aserbaidschan als Erdgaslieferant greift ungehindert Armenien an. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Deutschland und die EU haben sich bedingungslos der US-Politik gegen Russland untergeordnet. Die USA wollten den Ukrainekrieg, damit die wirtschaftliche Verbindung zwischen der EU, insbesondere Deutschland, und Russland dauerhaft zerstört wird. Der Anschlag auf die Nordstream-Pipelines wurde entsprechend von US-Außenminister Blinken kommentiert: „Die Nordstream-Explosionen erwiesen sich als ‚großartige Gelegenheit‘. Die USA sei nun der wichtigste Lieferant von Flüssiggas nach Europa. Nun habe man die Chance, ‚die Abhängigkeit von russischer Energie ein für alle Mal zu beenden und damit Wladimir Putin die Möglichkeit zu nehmen, Energie als Druckmittel zur Durchsetzung seiner imperialen Pläne zu nehmen.‘“ (Pipeline-Lecks: USA befeuern Spekulationen über Angriff auf Nordstream-Pipeline – L’essentiel)

Klaus von Dohnanyi, früherer SPD-Politiker, kritisiert diese Unterordnung der deutschen Politik unter die der USA in seinem Buch „Nationale Interessen“. In einem Interview äußert er sich: „‘…die USA machen eine falsche Politik. Und wenn ein Freund einen Fehler macht, muss man ihm das sagen. Und dieser Fehler, den die USA machen ist gefährlich für Europa und gefährlich für Deutschland. Und darüber muss man jetzt reden. Man muss unter Freunden eine offene Sprache haben. Wenn man eine Wertegemeinschaft ist, die ja was anderes ist als nationale Interessen, dann muss man innerhalb dieser Wertegemeinschaft die unterschiedlichen Interessen erkennen, sie aussprechen und das Problem klären‘. Die USA würden völlig andere Interessen in Europa haben als wir, darüber werde leider nicht gesprochen.“ (Dohnanyi: USA tragen erhebliche Mitschuld am Ukraine-Krieg – Politik – European News Agency)

Sein Befund also: Die deutsche Regierung macht eine Politik, die den Interessen Deutschlands und der EU widerspricht. Da ist er sich mit Sahra Wagenknecht einig.

Die Regierungsargumentation demgegenüber geht dagegen so: Wir dürfen den Völkerrechtsbruch Russlands nicht akzeptieren, ein brutaler Angriffskrieg darf nicht zum Erfolg führen, wir müssen dem Opfer Ukraine beistehen und sie mit allem unterstützen, was sie brauchen. Das geht nur zusammen mit den USA und der NATO.

Also Moral übertrumpft Interessen? Dann wäre die deutsche Regierung tatsächlich die „dümmste Regierung in Europa“. Denn „Staaten haben keine Freunde, Staaten haben Interessen“, wie schon der frühere französische Staatspräsident de Gaulle wusste.

Deutschlands Rolle

Die moralische Argumentation der Verteidigung von „Werten“, der „Hilfe für das Opfer“ usw. kann man getrost in das Reich der Propaganda verweisen. Diese dient dazu, den Menschen die Opfer, die sie bringen sollen, schmackhaft zu machen: „Frieren gegen Putin!“

Was sind aber „nationale Interessen“, von denen Dohnanyi spricht? Wer definiert sie?

Günther Sandleben schreibt in seinem Aufsatz: „Kapital, Volk, Nation und Staat“ : „Politisch gesehen sind die auswärtigen Interessen im Großen und Ganzen die Durchschnittsinteressen des Gesamtkapitals(…) Gleich einem Parallelogramm der Kräfte, worin die Einzelkapitale im Verhältnis ihres Anteils am Gesamtkapital wirken, konstituiert sich als resultierende Größe das gemeinsame außenpolitische Interesse. Nicht der Staatsapparat, sondern das Gesamtkapital schafft den Inhalt dieser Politik. Der Staat gleicht die Interessen lediglich aus, vereint sie, gibt ihnen schließlich eine gemeinschaftliche, d. h. politische Form. Er ist bloßer Sachwalter dieser Interessen gegen andere Staaten. Die Mittel, die er zur Durchsetzung der außenpolitischen Interessen einsetzt, reichen von der Diplomatie, über Schutzzölle, Handelssanktionen bis hin zum Krieg.“ (Kapital, Volk, Nation und Staat, S. 8)

Also, wir müssen auf die Interessen des deutschen Gesamtkapitals blicken, wenn wir die deutsche Regierungspolitik verstehen wollen. „Ein Gesamtkapital ist zunächst einmal nichts anderes als eine Summe von Kapitalen, die unter ähnlichen Bedingungen operieren, also eine gewisse Einheit bilden. Ein solcher gemeinsamer Standort von Kapitalen führt zu gemeinsamen Interessen…“ (ebenda, S. 5)

Der gemeinsame Standort von Kapitalen ist der Nationalstaat. Der Standort des Kapitals, das in Deutschland seinen Standort hat, ist Deutschland, das umgeben ist von anderen Nationalstaaten, also anderen Gesamtkapitalen. Die Bürgerlichen nennen das deutsche Gesamtkapital „deutsche Wirtschaft“, was harmloser klingt und den Klassengegensatz verschleiert.

Die „deutsche Wirtschaft“ hat sich seit der Industrialisierung über den deutschen Nationalstaat hinaus ausgedehnt und hat sich vor allem in Europa in anderen Standorten ausgebreitet. Diese Ausbreitung führte im letzten Jahrhundert zweimal zu dem Versuch, sich die anderen Gesamtkapitale durch einen Krieg zu unterwerfen. Dies ist beide Male zwar krachend gescheitert, aber die Verflechtung mit den anderen europäischen Standorten ist geblieben und hat sich mit der Gründung erst der EWG, dann der EG und EU noch ausgeweitet und vertieft.

Man kann sagen, dass die europäische Einigung für das deutsche Kapital die Verlaufsform ist, sich auszudehnen ohne die Widersprüche zu den anderen nationalen Kapitalen über einen Krieg lösen zu müssen. Um ein Zitat von Marx zu verwenden: Die EU (vorher EWG, EG) „hebt diese Widersprüche nicht auf, schafft aber die Form, worin sie sich bewegen können.“ (Kapital Bd. 1, MEW 23, S. 118)

Diese Ausdehnung geschieht über Handel, Investitionen usw., was die EU über Zoll- und Kapitalfreiheit begünstigt. Um ein paar Zahlen von 2021 zu nennen: Etwa 55 % des deutschen Exports gehen in die EU, 53 % der Importe kommen daher. Der Handelsüberschuss beträgt über 108 Mrd. €, das sind 63 % des gesamten Exportüberschusses.

Man kann also feststellen, dass die EU für das deutsche Kapital lebens- und überlebenswichtig ist. So hat alleine der VW-Konzern in Europa (inklusive Deutschland) 63 Produktionsstandorte, dazu kommen über 6000 Zulieferbetriebe. Dort wird also der Mehrwert erzeugt, die Arbeitskraft ausgebeutet, womit das deutsche Kapital akkumuliert, woraus die relativ hohen Löhne und Steuern hierzulande finanziert werden.

Osteuropa

Eine besondere Rolle kommt seit dem Mauerfall 1990 den mittlerweile in die EU integrierten osteuropäischen Staaten zu. In einem Interview mit der FAZ am 17.8.22 führt die Professorin Dalia Marin von der TU München dazu aus: „Noch bevor China überhaupt der Welthandelsorganisation beigetreten ist, kam es durch den Fall der Mauer zur Öffnung der osteuropäischen Märkte.“ Dies bewirkte zunächst, „dass die Lohnstückkosten in Deutschland relativ zu anderen europäischen Ländern um 30 Prozent zurückgegangen sind. Denn die Unternehmen konnten jetzt glaubhaft androhen, ihre Produktion nach Osteuropa zu verlagern. (…) Der wohl bekannteste Effekt war die Expansion der Lieferketten nach Osteuropa. Das hat dazu geführt, dass die Produktivität in den Unternehmen deutlich gestiegen ist. Die Ostöffnung war für Deutschland also eine phantastische Sache.“

Der Mauerfall war also fantastisch. Man sieht das auch an den Zahlen. 2021 gingen etwa 211 Mrd. an Exporten in die osteuropäischen EU-Länder. In die USA waren es etwa 122 Mrd. und nach China etwa 104 Mrd. Bei den Importen sieht das ähnlich aus: Etwa 199 Mrd. aus Osteuropa, aus China ca. 142 Mrd. und aus den USA 72 Mrd. [Alle hier verwendeten Zahlen aus: Rangfolge der Handelspartner im Außenhande(deutsch)-2021_vorläufig (destatis.de)] In diesen Handelszahlen sind natürlich die Warenlieferungen von und zu den Produktionsstandorten der deutschen Konzerne und deren Zulieferern enthalten.

Zur Ukraine sagt Professorin Marin: Die deutschen Unternehmen verlagerten aufgrund der Lieferkettenprobleme immer mehr Produktion aus Asien und anderswo zurück. „Das wird Ländern wie der Ukraine zugutekommen. (…) Das Land ist im Vergleich zum anderen östlichen Europa herausragend mit hochgebildeten Arbeitskräften wie Ingenieuren und IT-Fachkräften ausgestattet, was es für Deutschland sehr attraktiv macht. Die Ukraine kann so attraktiv wie Polen als Industriestandort für Europa werden.“ Diese „Attraktivität“ der Ukraine ist der Hintergrund für die deutsche und EU-Politik seit 2005, die Ukraine in die Umlaufbahn des EU-Wirtschaftsraums einzugliedern.

Das deutsche Kapital braucht die EU, braucht insbesondere Osteuropa, braucht die Ukraine, wenn es seine Expansion fortsetzen und seine Rolle in der Welt behaupten will. Anton Hofreiter (Grüne) drückte das am 26.9. auf der von der FAZ veranstalteten European Economic Conference so aus: Deutschland müsse „ in Europa eine Führungsrolle einnehmen.“ Es müsse „ ‚als Sachwalter und Organisator‘ der gemeinsamen europäischen Interessen auftreten. Dies sei wichtig, wenn es darum geht (…)die Ukraine – auch mit weiteren Waffenlieferungen – zu unterstützen, den europäischen Erweiterungsprozess zu managen, an dem Deutschland ein geostrategisches Interesse habe.“ (FAZ, 27.9.2022)

Er weiß: Die EU zu erhalten, insbesondere Osteuropa bei der Stange zu halten, muss die oberste Maxime einer deutschen Regierung sein.

Die Kehrseite

Dass das deutsche Kapital in der EU dominiert, sich ausdehnt und von ihr enorm profitiert, hat auch eine Kehrseite. Die enormen Überschüsse des einen sind natürlich die Defizite der anderen. Diese müssen diese Überschüsse mit Schulden, Deindustrialisierung und Sozialabbau bezahlen. Das krasseste Beispiel dafür ist Griechenland, das seinen Staatsbankrott nur durch die Unterwerfung unter die von Deutschland geführten EU-Institutionen und durch massenhafte Verarmung der Bevölkerung verhindern konnte. Auch in anderen Ländern wachsen die Widersprüche der ungleichmäßigen Entwicklung im Kapitalismus. Politischen Ausdruck finden diese Widersprüche am sichtbarsten in den Bewegungen gegen die EU, die vor allem von rechten Parteien aufgegriffen werden. Der Brexit ist ein Ergebnis, das Erstarken der Rechtsparteien ein anderes. Die Schwedendemokraten, die wahren Finnen, Le Pen in Frankreich, die Brüder Italiens, die PIS in Polen, die Fidesz in Ungarn haben eine gemeinsame Parole: Unser Land zuerst!

Aus der Sicht des deutschen Kapitals ein Albtraum. So schreibt die Hamburger „Morgenpost“ zwei Tage nach dem Wahlsieg Melonis der „Brüder Italiens“ am 27.9.: Nun „könnte ein EU-Gründungsmitglied die historische Union ins Wanken bringen.

Wenn aber die gegenseitigen Widersprüche wachsen, muss es ein einigendes Band geben, damit nicht alles auseinander fliegt. Dieses einigende Band war seit einigen Jahren mehr und mehr die Gegnerschaft zu Russland. Der russische Angriff auf die Ukraine wurde deshalb mit einem Jubelschrei vor allem deutscher EU-Politiker in Brüssel begrüßt: Wir waren noch nie so einig wie heute!, gaben die Medien diesen Jubelschrei wider.

Insbesondere die nach 1990 neu entstandenen osteuropäischen Bourgeoisien haben die Feindschaft zu Russland als ihren Identitätskern. Für sie bedeuten die Jahre nach 1945 unter sozialistischer Herrschaft die dunkle Nacht, die mit der Sowjetunion über sie kam, und die Öffnung nach 1990 die Befreiung, das Licht, das aus dem Westen leuchtete. Man sollte einmal eine Stadtführung in Prag, Danzig, Warschau mitmachen, um diese Sichtweise zu erfahren. Für sie ist deshalb die Mitgliedschaft in der EU, aber auch und vor allem in der NATO die Rückversicherung gegen den großen Feind im Osten, Russland.

Die NATO ist aber die USA und deren Militärmacht, die Russland in Schach halten kann. Und sie ist die Macht, die Deutschland in Schach halten kann, denn die Erinnerung an den 2. Weltkrieg ist ja nicht vergessen. Die 1,3 Billionen, die jüngst Polen als Reparation von Deutschland für den 2. Weltkrieg forderte, waren diesbezüglich ein Wink mit dem Zaunpfahl.

Ohne die Zustimmung zu den USA und zur NATO geht in Osteuropa für Deutschland gar nichts. Der russische Angriff auf die Ukraine musste diese Ausrichtung verstärken, ob nun ein weiterer russischer Angriff auf andere osteuropäische Länder eine realistische Drohung war oder nicht. In der Wahrnehmung der osteuropäischen Länder konnte die Ukraine angegriffen werden, weil sie nicht in der NATO ist.

Auf deutscher Seite sind die Politiker, die die Gegnerschaft zu Russland am deutlichsten betonen, neben anderen von der Leyen, die jetzige EU-Präsidentin, und die Grünen. Sie betonen am stärksten die „gemeinsamen Werte“ des Westens, d. h. die gemeinsame Politik mit den USA gegen Russland. Die ist für sie deutsche Staatsräson.

Was die deutsche Politik zurzeit betreibt mit der Sanktionspolitik gegen Russland, die einem Teil der deutschen Wirtschaft schadet und die Bevölkerung ärmer werden lässt, mit der militärischen Unterstützung der Ukraine, die die atomare Kriegsdrohung verstärkt, ist keine Dummheit oder Wahnsinn, sondern Politik im Interesse des deutschen Gesamtkapitals. Dessen Hauptinteresse ist eben die Erhaltung der EU. Dafür müssen Opfer gebracht werden: Verarmung der Bevölkerung, teilweise Deindustrialisierung, weitere Staatsverschuldung und Inflation, vielleicht sogar ein Atomkrieg.

Und wir?

Diese Klassenpolitik müssen wir sehen, benennen und bekämpfen. Das bedeutet aber, dass die Sanktionspolitik, die zur Verteuerung der Energiekosten führt, die Aufrüstungspolitik, die militärische Unterstützung der Ukraine untrennbar miteinander verwoben sind. Es ist unmöglich, die sozialen Lasten für die Bevölkerung zu beklagen und gleichzeitig die Sanktionspolitik mitzutragen. Es ist unmöglich, gegen die Milliardenausgaben für die Aufrüstung der Bundeswehr aufzutreten, ohne eine Beendigung des Krieges in der Ukraine zu fordern.

Diese Unmöglichkeiten kennzeichnen die Eiertänze der DGB-Gewerkschaften und der Linkspartei in ihren Aufrufen zu sozialen Protesten. Sie wollen sich der Kriegspolitik nicht widersetzen, aber deren Folgen bekämpfen. Sie fürchten die Folgen, wenn sie sich widersetzen würden: Ihr betreibt das Geschäft Putins! Ihr macht Querfront! Ihr seid Vaterlandsverräter! Sahra Wagenknecht hat dies nach ihrer Bundestagsrede zu spüren bekommen.

In den kommenden Monaten gilt es diejenigen zu unterstützen, die den Zusammenhang zwischen Krieg, Sanktionspolitik und sozialer Verelendung, also den Angriff auf die unteren Klassen sehen, und zur Zusammenarbeit beim Widerstand aufzufordern.

(12.10.22)


 

 

10 Kommentare

  1. Ich teile die Argumente des Artikels, die die Interessen der NATO-Partner offenlegen. Wir müssen abermals konstatieren, dass Menschenrechte bzw. Verstöße gegen Artikel 2, Absatz 4, der UN Charta (Erhaltung der territorialen Integrität der Staaten) benutzt werden, um eigene Ziele -insbesondere der US-Regierung- zu erreichen, die zusammen mit Putins Aggression den Ukraine-Krieg größer machen, was zu einer nuklearen Katastrophe führen kann.
    Ich teile die Argumente, aber nicht den Grundtenor des Artikels und die anschließenden Handlungsempfehlungen „Und wir?“ des Artikels. Während die Interessen der US-Regierung und der NATO-Partner detailliert dargelegt werden, gibt es keinen Hinweis auf den Charakter der russischen Strategie, ihrer Maßnahmen und die russischen Verhältnisse, die zu einer solchen großrussischen Geo-Politik -ähnlich wie schon in der Vergangenheit (z.B. Afghanistan und Tschetschenien, andere Beispiele gibt es genug)- geführt hatten.
    Die Länder der ehemaligen Sowjetunion, aber auch Nord-Korea, Vietnam, China, Venezuela und Nicaragua und viele mehr: Länder, wo in einigen von ihnen originäre Revolutionen mit sozialistischem Charakter stattfanden, die uns auch begeisterten: Sie sind mittlerweile zu Monstern geworden sind.
    Meine These ist, dass die langanhaltende Entwicklung des Stalinismus‘ zu fast nicht reversiblen Deformationen dieser Gesellschaften geführt hatte und nunmehr im Falle von Russland in einen absolutistischen Post-Stalinismus mündete, geführt von einer KGB Clique. Das stellt für mich eine Ursache dieses Krieges dar -womöglich die wichtigste- und dass die einseitige Beschreibung der „westlichen Seite“ den Blick verliert für die Verantwortung des gescheiterten sozialistischen Projektes und für die Schlagseiten unserer politischen Wahrnehmung.
    Ich möchte das anhand der SU im Folgenden ausführen und darstellen, warum eine pervertierte nach-revolutionäre Entwicklung zur Voraussetzung für globale Katastrophen werden kann. Fielen der Zwangskollektivierung in der SU schätzungsweise 3 bis 5 Millionen Menschen zum Opfer, wird das von Marxisten auch heute noch rückblickend gerechtfertigt mit der Notwendigkeit der ursprünglichen Akkumulation, d.h. der Industrialisierung der SU und der damit einhergehenden Schaffung einer Arbeitsklasse; fürwahr darüber man kann streiten. Als dann während der „Kulaken“-Kampagne Abweichler in- und außerhalb der Partei deportiert und liquidiert wurden und die Beseitigung von Stalins (vermeintlicher) Gegner in den Moskauer Prozessen gipfelte, wurde auch von kommunistischen Parteien inkl. der KPD(O) als „Reinigung gerechtfertigt“. Bei den anschließenden Säuberungen waren 5 bis 7 Millionen Menschen von Repression betroffen (davon zwei Millionen Parteimitglieder) von denen eine Million liquidiert wurden. Intellektuelle wurden aus Partei und Führung und gesellschaftlichen Funktionen entfernt. Auch das wurde von der Gruppe Arbeiterpolitik in „Weiße Flecken“ gerechtfertigt mit „Die Säuberungen waren ein Prozess … den auseinanderstrebenden Kräften im Innern des Landes, ja auch in der Partei, mit Zwangsgewalt zusammengehalten wurden – um dem Druck von außen standzuhalten.“ Was noch lange nicht die Liquidierung von politischen Gegnern während des Spanischen Bürgerkrieges erklären konnte. Längst ist ein Muster erkennbar, nämlich die Liquidierung Andersdenkender, die Aberkennung von individuellen Rechten und somit die Unterminierung einer politischen Verfassung und Kultur, die Fehler der gesellschaftlichen Entwicklung korrigieren kann und die Voraussetzung für eine Weiterentwicklung einer sozialistischen Gesellschaft ist. Auch der Hitler/Stalin-Pakt wurde gerechtfertigt mit der Bedrohung außen.
    Ich sehe in der einseitigen Darstellung des Artikels oben eine Wiederkehr derselben Argumentation.
    Wenn am Ende von internationalem Klassenkampf die Rede ist, frage ich mich, welche Gesellschaft Russland bzw. die Länder der russische Föderation eigentlich repräsentieren. Sie ist absolutistisch, diktatorisch und terroristisch, was Liquidationen und Unterdrückung Andersdenkender im In- und Ausland angeht, im Endeffekt wiederum stalinistisch, was Entscheidungsprozesse und Strategien angeht und hat eine Bevölkerung produziert, die viele Jahrzehnte in Angst leben musste und diese Angst Teil der „russischen Seele“ geworden ist (s. Orlando Figes „Die Flüsterer“) unter Verlust jeglichen Potentials, da sich bis heute die Mehrheit der Bevölkerung an die von Putin vorgegeben Regeln hält („Brot und Spiele“ gegen Unterstützung des Regimes). Es gibt kein demokratisches, sozialistisches oder ökologisches Entwicklungspotential dieser Gesellschaften, wenn Alleinherrschaft herrscht und Meinungsfreiheit und Koalitionsrecht unterdrückt werden. Ebenso wie im Westen gibt es in der Föderation Klassengesellschaften, die nicht so sehr (aber auch) über den Besitz an Produktionsmitteln definiert sind, sondern über Hegemonie und politisch-militärische Macht. Ähnliches in China, Nordkorea, Nicaragua, usw.
    Ich unterstelle also, dass die pervertierte Entwicklung Russlands seit spätestens der Stalinära bis heute zu Putins großrussischen Nationalismus‘ Voraussetzung und Triebfeder für den Angriff auf die Ukraine ist und insbesondere die US-Regierung erkannt hat, dass diese Gesellschaftsformation keine Zukunft in längeren Auseinandersetzungen haben wird.

    Zu- Verhältnis EU / Ukraine empfehle ich den Artikel „Kiews falsche Freunde“ von Pierre Rimbert in der Le Monde Diplomatique vom 13.Oktober 2022

    • Warum existiert heute in Russland und den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken kein Sozialismus?
      Um die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse sowie die Lage der Menschen in Russland und den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken zu verstehen, reicht nicht ein einfacher Blick auf die Länder und eine oberflächliche Betrachtung der Geschichte. Wir müssen von der Ausgangslage mit der Revolution 1917, dem Bürgerkrieg sowie dem Krieg gegen die Interventionstruppen aus den entwickelten kapitalistischen Industriestaaten bis 1921 ausgehen, um die heutige Lage zu verstehen.
      Zwar gab es 1917 eine siegreiche Revolution der kleinen Arbeiterklasse einer kleinen Industrie, aber die große Mehrheit der Bevölkerung waren Bauern, und die von den Revolutionären erhoffte Unterstützung durch Revolutionen in Deutschland und anderen europäischen Staaten blieb aus. Zwar vertrieben die Bauernarmeen schließlich die Interventionsarmeen, doch die Gesamtverhältnisse boten keine Grundlage für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft: Industrie und Arbeiterklasse waren unterentwickelt.
      Der Versuch, die private Landwirtschaft erst einmal weiterlaufen zu lassen, scheiterte nach ein paar Jahren: Weil die Bauern nicht die gewünschten Trecker aus den Städten geliefert bekamen, lieferten sie keine Lebensmittel. Die Sowjetunion war zu einer von Feinden umgebenen Festung geworden, die Rüstungsgüter, wie z. B. Panzer, brauchte, und die Bevölkerung musste ernährt werden.
      Die Sowjetführung stand vor der Entscheidung, zu kapitulieren oder Zwangsmaßnahmen zu ergreifen. Um die dringend notwendige Industrialisierung mit Lebensmittellieferungen abzusichern, wurde deshalb auf dem Lande eine Zwangskollektivierung bei den Kampfgenossen aus dem Bürgerkrieg durchgeführt, was große Opfer mit sich brachte. Notwendig war nun auch eine Planwirtschaft für die Arbeit in den Bergwerken und neuen Fabriken.
      Die Bauernsöhne, die nur jahreszeitbedingte Landarbeit kannten, wurden gezwungen, in den Bergwerken und den neuen Fabriken zu arbeiten. Die so entstehende neue Arbeiterschaft konnte kein Klassenbewusstsein, kein Verantwortungsbewusstsein, kein initiatives eigenes Handeln entwickeln. Sie kamen nur den Anweisungen von oben nach. Und die Regierung handelte abgehoben von der arbeitenden Bevölkerung.
      Trotz dieser Schwächen konnte die SU die im 2. Weltkrieg ins Land eingefallenen faschistischen deutschen Armeen besiegen, die die Kornkammer der Ukraine und die Bodenschätze für die imperialistische Politik der herrschenden Klasse in Deutschland ausbeuten wollten und den Versuch eine sozialistische Gesellschaftsordnung aufzubauen, zerstören wollten..
      Um die Stagnation in der UdSSR zu überwinden, strebte Gorbatschow Ende der achtziger Jahre bessere Qualität in Landwirtschaft, Industrie und Verwaltung an und ging gegen Korruption vor. Er wollte die Eigeninitiative und Eigenverantwortung fördern und die Marktwirtschaft einführen. Die Produktion sollte entsprechend der Nachfrage ausgerichtet werden. Außenpolitisch forderte er Abrüstung, die er dann im Lande durchführte. Einerseits wurde sein Vorgehen abgelehnt, andererseits als zu langsam kritisiert. Er kündigte das Ende des Warschauer Paktes an. und 1991 wurden die Auflösung der UdSSR und die Gründung der GUS beschlossen. Präsident Gorbatschow versuchte, die Industriearbeiter direkt für seine Zielsetzung zu gewinnen, indem er sie vor der Versammlung einer Belegschaft vortrug. Er wollte sie zu Initiativen, selbständigem Handeln und Verantwortungsbewusstsein ermuntern. Doch seine Zuhörer reagierten nicht, blieben passiv. Er hatte also keinen Rückhalt in der Arbeiterschaft. Bergarbeiter hinter dem Ural, die in dieser Phase streikten, wurden nicht für gesellschaftlichen Reformen aktiv, sondern für ihren Lohn. Gesellschaftspolitisch zu denken und zu handeln war nicht ihre Sache.
      In der Folge erhielten die Arbeiter Anteile der Fabrik, in der sie arbeiteten. Da sie nichts damit anfangen konnten, war es für den Direktor der Fabrik ein Leichtes, den Arbeitern für ein geringes Geld die Anteile abzukaufen und damit Alleinbesitzer des Unternehmens zu werden. So entstand die mächtige Schicht der Oligarchen. Auch der Privatisierung der Wirtschaft stellte sich die Arbeiterschaft nicht entgegen.
      An dieser Stelle sei daran erinnert: Revolutionen mit sozialistischem Ziel in agrarischen Staaten können auf Dauer nur überleben, wenn sie ausreichende Unterstützung in den Arbeiterklassen der industriell hochentwickelten Staaten finden.

  2. Der Artikel über „Deutschlands Interessen“ erklärt die Berliner Ukraine-Politik aus den Interessen des deutschen Gesamtkapitals. Die entscheidende ökonomische Logik sieht er darin, dass der deutsche Außenhandel zu über 50% mit der EU abgewickelt wird; deshalb bestehe das deutsche „Hauptinteresse“ darin, die EU zusammenzuhalten, und „das einigende Band war seit einigen Jahren mehr und mehr die Gegnerschaft zu Russland.“
    Welche seit Jahren gewachsene Gegnerschaft Deutschlands zu Russland meint der Artikel? Seit Auflösung der Sowjetunion, dh. seit den 90er Jahren, haben sämtliche deutschen Regierungen eine Politik der „Sicherheitspartnerschaft“ mit Russland verfolgt, und zwar zusammen und in Absprache mit Frankreich. Sie haben also das Gegenteil der behaupteten Gegnerschafts- bzw. Konfrontationspolitik gegen Russland betrieben, wenigstens bis zum russischen Überfall auf die Ukraine.
    Die Triebkraft hinter dieser französisch-deutschen Ostpolitik war von Anfang an das langfristige Ziel, sich aus der US-Hegemonie zu lösen, was auf französischer Seite auch mehr oder weniger offen formuliert wurde und wird. Nicht einmal die russische Eroberung der Krim 2014 hat – von der verbalen Verurteilung abgesehen – an der skizzierten Ausrichtung der deutschen Ostpolitik etwas Substantielles geändert, wie sich unschwer an den regelmäßigen Warnungen der damaligen Kanzlerin Merkel vor einer „Isolierung Russlands“ ablesen lässt.
    Umgekehrt waren die Vereinigten Staaten naturgemäß immer ein Gegner dieser Politik, zunächst der westdeutschen Entspannungspolitik und erst recht der Politik der „gemeinsamen Sicherheit“ mit – und nicht gegen – Russland. Außer auf die baltischen Staaten konnten sie sich dabei zuverlässig stützen auf Polen, das durchgängig eine ebenso anti-russische wie anti-deutsche Politik betreibt. Außerdem gab es immer eine „atlantische“ Fraktion in der deutschen Bourgeoisie (mittlerweile verstärkt durch die „Grünen“), die in allen Parteien vertreten ist und ebenfalls unverbrüchlich an der Seite Washingtons stand und steht.
    Einen Markstein dieser Konstellation bildete die Auseinandersetzung um den Bau von Northstream2, der von Deutschland unter der Fahne der „Energiepartnerschaft“ als Ergänzung und materielle Fundierung der „Sicherheitspartnerschaft“ mit Russland vorangetrieben wurde – gegen den offen erklärten und organisierten Widerstand der USA (plus Polen, die baltischen Staaten und die deutschen „Atlantiker“). Die Sprengung der Pipeline durch Washington stellt den vorläufigen Höhepunkt dieser hinter den Kulissen mit Klauen und Zähnen ausgetragenen Differenzen dar.
    Erst der russische Einmarsch in die Ukraine im Februar letzten Jahres hat der bis dahin verfolgten französisch-deutschen Russlandpolitik ein Ende bereitet und einen vorläufigen Zusammenschluss zur Unterstützung der Ukraine auf dem Boden der Nato bewirkt.
    Unter der Oberfläche setzen sich die alten Gegensätze jedoch unverändert fort: auf der einen Seite fordern die Atlantiker aller Parteien von Strack-Zimmermann über Röttgen und Gabriel bis Baerbock die Lieferung von immer mehr und immer stärkeren Waffen an die Ukraine bis hin zum Sieg über Russland. Auf der anderen Seite agiert die politikbestimmende Kanzlerfraktion deutlich zurückhaltend, sowohl was Waffenlieferungen als auch das Kriegsgeschrei angeht. Die Präferenzen dieser Fraktion hat der französische Präsident Macron vor wenigen Wochen unverblümt formuliert, indem er Friedensverhandlungen mit Russland unter Beteilung Chinas und Europas forderte – und die USA nicht erwähnte (ein im Internet veröffentlichter Text über die „traurige Gestalt“ der deutschen Bourgeoisie behandelt die hier nur angerissenen Fragen ausführlicher: https://kommunistische-debatte.de/?page_id=2655).
    Die französische Bourgeoisie kann ihre außenpolitischen Ziele öffentlich kundtun. Dagegen kann die deutsche Bourgeoisie ihr gleichlautendes Ziel, langfristig die USA aus Europa loszuwerden, aufgrund ihrer atomaren Abhängigkeit von Washington nur verdeckt verfolgen. Sie versucht sozusagen, sich aus der US-Hegemonie heraus zu schleichen, ohne den atlantischen Verbündeten vorzeitig zu verprellen. Deshalb eröffnet sich hier ein weites Spielfeld, auf dem die Linke vom deutschen Vasallentum bis zu einem neuen Ostlandritt des Imperialismus alle denkbaren Theorien aufstellen kann.
    Das methodische Grundmanko des Arpo-Artikels besteht m.E. darin, dass die Klasse der Bourgeoisie mit dem Kapital gleichgesetzt wird, so dass man glaubt, die politische Realität aus wirtschaftlichen Gegebenheiten ableiten zu können. Die reale Geschichte besteht jedoch nicht aus der Entfaltung der Ökonomie des Kapitals, sondern ist die Geschichte von Klassen und ihren (auch inneren) Kämpfen, wie Marx und Engels es im Kommunistischen Manifest formuliert haben.
    Anders heranzugehen hat politische Folgen, die sich bei den am Schluss vorgeschlagenen Forderungen zeigen, die sich auf das ökonomisch-soziale Feld beschränken. Eine eigenständige revolutionäre Position gegenüber dem kleinbürgerlichen Pazifismus der Friedensbewegung wird dabei nicht entwickelt, so dass sogar die elementare politische Antwort auf den Ukrainekrieg fehlt: „Deutschland raus aus der Nato – Nato raus aus Deutschland!“

  3. Heiner Karuscheit führt als wesentliches Argument an, es hätten „sämtliche deutschen Regierungen eine Politik der ‚Sicherheitspartnerschaft‘ mit Russland verfolgt, und zwar zusammen und in Absprache mit Frankreich. Sie haben also das Gegenteil der behaupteten Gegnerschafts- bzw. Konfrontationspolitik gegen Russland betrieben, wenigstens bis zum russischen Überfall auf die Ukraine.“
    Das ist richtig und auch nicht richtig. Deutschland hat einerseits die -vor allem Energie- Partnerschaft mit Russland betrieben, gleichzeitig die EU-Osterweiterung vorangetrieben – gegen russisches Interesse! Das schloss seit 2005 auch schon die Ukraine mit ein, was Jörg Kronauer genauestens in seinem Buch „Ukraine über alles!“ dokumentiert Und dies im ausgesprochenen Gegensatz zu Frankreich, das demgegenüber seine Fühler Richtung Mittelmeeranrainer ausstreckte.
    Spätestens mit der Bestallung der Merkel-Freundin von der Leyen als EU-Kommissions-Präsidentin wurde der Anti-Russland-Kurs Politik. Von der Leyen hatte bereits 2017 auf der Feier zum 70-jährigen Bestehen des „Spiegel“ Russland als Hauptgegner ins Visier genommen.
    Auf das Argument im Artikel, dass die EU für Deutschland nur zusammenzuhalten ist durch einen äußeren Feind, geht Karuscheit gar nicht ein. Außerdem spielt Osteuropa für das deutsche Kapital mittlerweile eine dermaßen große Rolle, dass es gar nicht anders kann, als ihm politisch zu folgen. Wie soll man denn anders die Rolle erklären, die der ukrainische Außenminister Melnyk spielte, der die deutsche Regierung buchstäblich vor sich hertrieb?
    Wenn aber die EU nur zusammengehalten werden kann durch einen äußeren Feind, dann wird die USA, wird die NATO gebraucht, deshalb die „bedingungslose Unterordnung“ an diesem Punkt, dem militärischen Punkt. Deshalb auch das Schweigen zur Sprengung der Nordstream-2-Pipeline durch die USA. Weshalb lässt sich eine deutsche Regierung das bieten, wenn nicht aus strategischem Interesse?
    Karuscheit behauptet ein Ziel der deutschen Bourgeoisie sich aus der US-Vorherrschaft herauszuschleichen, deshalb die Leisetreterei. Und wenn sie das Ziel aus obengenannten Gründen gar nicht hat?
    Karuscheit sieht in dem Artikel das „Grundmanko“, „dass die Klasse der Bourgeoisie mit dem Kapital gleichgesetzt wird, so dass man glaubt, die politische Realität aus wirtschaftlichen Gegebenheiten ableiten zu können.“ Das steht erstens so gar nicht drin. Der Artikel bezieht sich auf Sandleben, der z.B. formuliert: „Gleich einem Parallelogramm der Kräfte, worin die Einzelkapitale im Verhältnis ihres Anteils am Gesamtkapital wirken, konstituiert sich als resultierende Größe das gemeinsame außenpolitische Interesse. Nicht der Staatsapparat, sondern das Gesamtkapital schafft den Inhalt dieser Politik.“
    Es geht um das Interesse des Gesamtkapitals, dem kann die Regierung als Ausschuss der herrschenden Klasse zumindest mittelfristig gar nicht widersprechen. Worauf soll sich denn die Politik der herrschenden Klasse begründen, wenn nicht auf dem Interesse des Gesamtkapitals?

    • Das von Manfred vorgebrachte Argument, dass die Europäische Union nur zusammengehalten werden könne durch einen „äußeren Feind“, finde ich grundfalsch. So schlicht funktionieren weder einer Gesellschaft noch ein solches, auf relativ gleichartigen Strukturen beruhendes Staatenbündnis wie die EU. Zunächst muß es ein gemeinsames Interesse geben, das den Kitt hergibt für den Zusammenhalt. In der europäischen Geschichte ist das eine Reihe von Konsequenzen, die aus den ständigen innereuropäischen Kriegen, insbesondere den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, der Zerstörung und Erschöpfung der ehemaligen Groß- und Kolonialmächte, der Einsicht, dass Europa nicht mehr das Zentrum der Weltgeschichte ist, seiner Abhängigkeit von den USA in der Blockkonfrontation im Kalten Krieg, den sozialen und nationalen Befreiungsbewegungen, dem Entstehen neuer Machtzentren (s. BRICS), also neuer Multipolarität folgen. Der Ukrainekrieg hat erneut klargemacht, was auch davor ziemlich deutlich war: Die EU ist nicht im gleichen Sinne handlungsfähig wie die USA, die -nach einer neuen Studie des European Council on Foreign Relations (ECFR)- alle wesentlichen Entscheidungen im Vorgehen gegen Russland selbst getroffen haben. Alle diese Faktoren, die ich zur Kennzeichnung der Position der EU und ihrer Mitgliedstaaten hier aufgezählt habe (es kann natürlich viel mehr dazu gesagt werden), lassen sich zurückführen auf ein gemeinsames Klasseninteresse an der Ausbeutung der Arbeitskraft, der Natur, der ökonomisch schwächeren Länder und natürlich prinzipiell an der Aufrechterhaltung der kapitalistischen „Weltordnung“. Das ist der Kitt, der die EU in Zeiten zusammenhält, in der die europäischen Nationalstaaten jeder für sich diese Rolle nicht mehr spielen können. Das zwingt sie aber auch, aufgrund ihrer strukturellen Schwäche, zur Unterordnung unter die Weltpolitik der USA. Warum Russland als „äußerer Feind“ gilt (oder auch nicht, wie zu Zeiten der Gasgeschäfte), muss dann auch einen „äußeren“ Grund haben, und wie damit umgegangen wird, ist eine taktische Frage, nicht der Stoff, der die EU angeblich zusammenhält.

  4. Das zentrale Argument Manfreds gegen die in meinem Leserbrief vom 13.Mai enthaltene Kritik besteht in der Wiederholung der von Guenther Sandleben stammenden Feststellung, dass „die EU nur zusammengehalten werden kann durch einen äußeren Feind“, sprich Russland. Aber warum reicht die Wirtschaftsmacht der stärksten Ökonomie in Europa nicht aus, um die EU zusammenzuhalten? Eine Begründung dafür gibt es nicht, der Sprung aus der Ökonomie in die Sphäre der Politik wird einfach nur konstatiert. Die Fragwürdigkeit dieses Vorgehens hat bereit Friedhelm benannt.
    Außerdem stellt sich die Frage, warum gerade Russland als äußerer Gegner herhalten muss, um als Kitt der EU zu dienen? Sind die USA nicht ein viel näherliegender Gegner, der auf den Weltmärkten ein ganz anderer Konkurrent des BRD-Kapitals als Russland ist. Deshalb noch einmal bzw. anders gefragt: wieso entspringt nicht aus der Konkurrenz der Nationalkapitale die Gegnerschaft zu den USA als äußerem Gegner, um die EU zusammenzuhalten?
    Aus der EU-Zusammenhaltstheorie leitet Manfred die Behauptung ab, dass Deutschland „spätestens mit der Bestallung der Merkel-Freundin von der Leyen als EU-Kommissions-Präsidentin“ zu einer Anti-Russlandpolitik übergegangen ist. Was ist von dieser Behauptung zu halten?
    Real sind es die Vereinigten Staaten, die auf die Gegnerschaft gegen Russland angewiesen sind, um die Nato zusammenzuhalten. Ökonomisch schon lange nicht mehr das unbestrittene Zentrum des kapitalistischen Weltsystems, können sie ihre Vorherrschaft über Europa nur als militärische Schutzmacht des alten Kontinents gegen einen äußeren Gegner bewahren – zuerst gegen die Sowjetunion und heute gegen Russland. Deshalb waren die USA immer schon gegen die deutsche Entspannungspolitik in Europa, weil jeder Schritt der Entspannung die legitimatorische Basis ihrer Hegemonie untergräbt. Insbesondere die seit den 90er Jahren von Berlin verfolgte Politik der „gemeinsamen Sicherheit“ mit Russland war für Washington von Beginn an ein rotes Tuch.
    Demzufolge wäre Deutschland also „spätestens mit der Bestallung der Merkel-Freundin von der Leyen als EU-Kommissions-Präsidentin“ im Jahr 2019 ebenfalls zu einer Anti-Russland-Politik umgeschwenkt, d.h. wieder auf die Seite der USA getreten. Ist das aus den Fakten herzuleiten?
    Leyen, eine überzeugte „Atlantikerin“, versuchte als Verteidigungsministerin von 2013 bis 2019 nach Kräften, das Aufrüstungsprogramm umzusetzen, das 2014 nach der russischen Besetzung der Krim von der Nato beschlossen worden war. Zu den Beschlüssen von 2014 gehörte u.a. die Verpflichtung aller Nato-Mitglieder, das jährliche Rüstungsbudget auf 2% des Bruttosozialprodukts anzuheben. Real wurde der Verteidigungshaushalt jedoch nicht ernsthaft erhöht, sondern blieb weit unter den zugesagten 2%. Ebenso wenig gelang es Leyen, den militärischen Auftrag der Bundeswehr im Sinne der Nato abzuändern. 1992 hatten die „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ das Konzept der „Landesverteidigung“ (gegen Russland) fallen gelassen, weil ein konventioneller Krieg in Europa fernliegend erschien (https://de.wikipedia.org/wiki/Landesverteidigung). Umfang, Struktur und Bewaffnung der Streitkräfte wurden dementsprechend umgestellt, und daran hat sich in Leyens Jahren als Verteidigungsministerin nichts geändert.
    Mit einem Satz: sie lief mit ihrer atlantischen Aufrüstungsagenda gegen eine Mauer, weil die Mehrheitsfraktion der deutschen Bourgeoisie an der politisch-militärischen Entspannungs- und Ostpolitik festhielt, den gegenteiligen Bemühungen der USA und der deutschen Atlantiker zum Trotz. Gleichermaßen als Verteidigungsministerin und Atlantikerin gescheitert, wechselte sie so 2019 auf den zwar öffentlichkeitswirksamen, aber machtpolitisch bedeutungslosen Posten als EU-Kommissionspräsidentin (böse Zungen behaupten, dass sie von ihrer politischen Intimfeindin Merkel dorthin abgeschoben wurde).
    Gleichzeitig verfolgte die Merkel-Scholz-Regierung unbeirrt die Politik der „gemeinsamen Sicherheit“ mit Russland weiter, auf deren Boden auch Northstream 2 gebaut wurde, gegen den Widerstand der USA und ihrer engsten europäischen Vasallen (Polen und die baltischen Staaten). Dieser Politik hat erst Russlands Einfall in die Ukraine im Februar 2022 ein Ende gesetzt, woraufhin neben den besonders US-hörigen Grünen die „Atlantiker“ aller Parteien glaubten, Merkel noch im Nachhinein wegen ihrer Russlandpolitik ans Schienbein treten zu müssen.
    Die neue außen- und militärpolitische Sicherheitsstrategie Deutschlands sollte eigentlich schon fertiggestellt sein, jedoch sind die verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie sich bisher nicht einig geworden, wie man sich im Spagat zwischen den USA und Frankreich, Russland und China künftig durchlavieren soll. Eines allerdings kann man jetzt schon sagen: das neue Konzept wird sich nicht als Quersumme aus den ökonomischen Interessen der zu einem Gesamtkapital addierten Einzelkapitale ergeben, wie der von Manfred hochgeschätzte Sandleben das meint.
    Heiner Karuscheit

    • Friedhelm spricht von einem gemeinsamen Interesse, das den Kitt hergeben müsse für ein „auf relativ gleichartigen Strukturen beruhendes Staatenbündnis wie die EU“. Was soll das sein? Das ist doch nur die Oberfläche. Entscheidend für die EU ist, dass sie ein Bündnis aus konkurrierenden nationalen Kapitalen und ihren Bourgeoisien ist. Das grundlegende Merkmal des Kapitalismus ist nun mal die Konkurrenz, die nicht aufhebbar ist. Friedhelm nennt das „gemeinsame Klasseninteresse an der Ausbeutung der Arbeitskraft, der Natur, der ökonomisch schwächeren Länder und natürlich prinzipiell an der Aufrechterhaltung der kapitalistischen ‚Weltordnung‘“, vergisst dabei aber völlig die Konkurrenz untereinander. Diese Konkurrenz macht eine europäische Vereinheitlichung heute und in Zukunft unmöglich. Die EU ist kein Nationalstaat und wird auch keiner werden.
      Deutschlands wirtschaftlich starke Position in der EU hat mittlerweile dazu geführt, dass andere Staaten immer schwächer geworden sind und allenthalben Anti-EU-Parteien stärker werden. Deutschland ist angesichts der krisenhaften Entwicklung nicht mehr in der Lage die auseinandertreibenden Kräfte durch finanzielle Polster einzubinden. Der äußere Feind ist deshalb kein „äußerer Grund“, sondern entspringt aus dem Klasseninteresse der deutschen Bourgeoisie an der Erhaltung der EU.
      Nun sagt Heiner Karuscheit, es sei doch überhaupt nicht nachvollziehbar, dass Russland der äußere Feind sein müsse, viel eher seien es doch die USA, die ökonomisch der Hauptkonkurrent der EU und der des deutschen Kapitals seien. Er schreibt in AZD 96: „Eine selbstbewusste nationale Bourgeoisie würde die Kriegs- und Spaltungspolitik Washingtons zum Anlass nehmen, um das Bündnis mit den USA und die Nato-Mitgliedschaft aufzukündigen“. Wenn das die deutsche Bourgeoisie tun würde, würde die EU am nächsten Tag auseinander fliegen, denn für viele EU-Staaten, insbesondere in Osteuropa, aber auch für Frankreich und Italien, ist ein von Deutschland dominiertes Europa nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert absolut undenkbar. Die USA sind nach wie vor die Rückversicherung gegen Deutschland.
      Die „selbst bewusste deutsche Bourgeoisie“ weiß das zu genau. Dem widerspricht auch nicht ihre Russland-Politik bis 2022. Die deutsche Bourgeoisie hat immer im Verhältnis zu Russland beide Seiten betrieben: die ökonomische Zusammenarbeit und gleichzeitig die militärische Aufrüstung, das war nie ein Gegensatz. (Vgl. dazu Jörg Kronauer: Meinst du, die Russen wollen Krieg? Köln 2018) Die Zusammenarbeit ging immer bis zu einem gewissen Punkt, dann kam der Bruch.
      Am 24. Februar 2022 kam diesmal der Bruch, da es nicht mehr möglich war, die ökonomische Zusammenarbeit mit Russland fortzusetzen und die EU zusammenzuhalten. Deutschland musste sich entscheiden und hat sich entschieden. Der Zusammenhalt der EU geht nur noch gegen Russland und das bedeutet, dass man sich der militärischen Führungsrolle der USA unterwerfen muss. Das ist aus Sicht der deutschen Bourgeoisie „selbstbewusst und national“. Da nützen alle Träumereien von einer von den USA unabhängigen Bourgeoisie nichts.
      Heiner Karuscheit fügt dem obig zitierten Satz hinzu: „Doch diese Bourgeoisie ist eine Klasse von trauriger Gestalt; sie war zeit ihrer gesamten Existenz noch nie zu einer geschichtlichen Tat fähig.“ Das mutet angesichts der Unterwerfung Europas im 2. Weltkrieg und dem Griff nach der Weltmacht schon ziemlich seltsam an. Oder meint Karuscheit, Nazideutschland hätte nicht im Interesse der deutschen Bourgeoisie gehandelt? Die Nazipartei bekam zwar die politische Macht, um die deutsche Bourgeoisie vor der Revolution zu retten, musste aber, einmal an der Regierung, die Interessen des deutschen Kapitals ausführen. Ich hoffe, hinter dieser Position steckt nicht eine heimliche Sympathie für eine „selbstbewusste nationale Bourgeoisie“. Da wären wir dann bei Dohnanyi und Wagenknecht.
      Natürlich ist die Forderung „Deutschland raus aus der NATO! NATO raus aus Deutschland!“ richtig. Aber dieses Ziel ist nicht im Bündnis mit einer „selbstbewussten nationalen Bourgeoisie“ möglich, sondern nur im revolutionären Kampf gegen sie. Wir haben keine andere Perspektive.

  5. Natürlich vergesse ich nicht die Konkurrenz untereinander. Meine Argumentation ist, daß der Kitt (oder sagen wir, die Substanz), der die EU zusammenhält, das gemeinsame Klasseninteresse ist. Das ist nach deinem Verstandnis die „Oberfläche“? Das gemeinsame Klasseninteresse schließt doch die Konkurrenz nicht aus, weder auf der einzelstaatlichen noch auf staatenbündischer Ebene. Das führt zu Widersprüchen, aber so ist das nun mal im Kapitalisimus (es gibt Umstände, wo z. B. die Konkurrenz zeitweilig hinter dem gemeinsamen Klasseninteresse zurücktreten muß – und umgekehrt). Die deutsche Bourgeoisie hat nach zwei durchgreifenden Niederlagen ihre Lektion gelernt. Ihre Schutzmacht sind die USA, und der Versuch, wenigstens teilweise auf Augenhöhe zu kommen, materialisiert sich in der EU.
    Daß die EU kein Nationalstaat ist und auch keiner werden wird, vertrete ich immer schon (gegen alle Einwände, die ich dazu höre). Man sollte aber nicht von einem Extrem zum anderen springen. Es ist nicht so, daß Erhalt und Ausbau der EU nur durch „Vereinheitlichung“ geht. Widersprüche werden bleiben. Ob die dazu führen, daß die EU auseinanderfällt (über den Brexit hinaus), wie Manfred offensichtlich nahelegt, ist für mich nach wie vor eine offene Frage. Ob das gemeinsame Klasseninteresse die auseinanderstrebende Konkurrenz noch kontrollieren kann, werden wir sehen. Widersprüche bleiben jedenfalls – die sind dem Kapitalismus immanent. Manfred glaubst, daß sie sich auf jeden auflösen müßten.
    Sein Denkfehler besteht darin, daß er die Konkurrenz verabsolutiert und das gemeinsame Klasseninteresse nebst relativ gleichartigen Strukturen (das bringt die EU-Staaten nunmal untereinander und mit den USA zusammen und in Gegensatz zu Rußland und China) für „Oberfläche“ hält.

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