Rudi Wunderlich Gedenkfahrt

Korrespondenz

Rudi Wunderlich

Am Samstag den 10. Juni 2023 hatte die Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde anlässlich des 79. Jahrestages der Flucht von Rudolf, kurz Rudi, Wunderlich aus dem KZ Lichterfelde nun schon zum fünften Mal eine Radtour organisiert. Das Arbeitslager war eine Außenstelle des KZ Oranienburg.

An der Gedenkfahrt beteiligten sich etwa 40 Antifaschist:innen. Die Radtour begann an seinem Fluchtort, dem in Steglitz gelegenen SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt (SS-WVHA). Sie folgte seiner vermutlichen Fluchtroute zur Schliemannstr 8[1] im Stadtteil Prenzlauer Berg, wo sich Rudi bei einer befreundeten Genossin verstecken konnte, und endete am benachbarten Helmholtzplatz.

Vor Beginn der Radtour informierte der Vorsitzende der Initiative, Thomas Schleissing-Niggemann die Teilnehmer über die wichtigsten Lebensdaten Rudis, skizzierte die Umstände seiner Inhaftierung und beschrieb, wie sich Rudi auf die Flucht vorbereitete. Nach Abschluss der Gedenkfahrt ging er in einem kurzen Beitrag auf die Lebensbedingungen in der Illegalität ein und schilderte, auf welche Schwierigkeiten Rudi in der DDR als ehemaliger oppositioneller Kommunist nach 1945 stieß.

Erstes politisches Engagement

Rudi wurde am 10. März 1912 in Leipzig geboren. Er entstammte einer proletarischen Familie. Die Mutter war Arbeiterin, der Vater Schlosser. Nach dem Tode seiner Mutter im August 1917 kam er in das Städtische Pflegehaus. Er stand fortan unter der Obhut von Erzieherinnen, die im ‚Königin Luise Bund‘ Mitglied waren, einem Verein, der christlich ausgerichtet war und sich politisch für die Wiederherstellung der Monarchie einsetzte. Schon frühzeitig bekannte sich die Vereinigung zu völkischen Positionen. Intern war sie nach dem Führerprinzip organisiert. Auch ihre Erziehungsmaßnahmen richtete sie danach aus.

Nach Ende seiner Schulzeit 1926 begann Rudi eine Ausbildung als Schriftsetzer. Er schloss sie ab, bekam aber aufgrund der dramatischen wirtschaftlichen Lage in Deutschland Anfang der 30er Jahre keine Arbeit.

Mitte 1928 trat er der Naturfreundejugend bei. Ende 1928 schloss er sich der Jugendorganisation der KPD, dem Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD), an. Im November 1930 wurde er aus dem Verband ausgeschlossen und wechselte zur Jugendorganisation der KPD-Opposition (KPO), der KJO.

Als das Bürgertum dem Faschismus die Macht übertrug ging Rudi in die Illegalität und leistete für die KPO wie die Naturfreundejugend Kuriertätigkeiten und stellte Propagandamaterial her. Er wurde inhaftiert, verurteilt und floh nach seiner Entlassung in die Slowakei. Dort wurde ihm der Status des Emigranten verweigert, so dass er nach Leipzig zurückkehrte und sich dort der Polizei stellte. Er wollte mit dieser Entscheidung den Druck von seine Freunden nehmen, denen die Gestapo im Nacken saß, weil sie von ihnen Auskünfte über seinen Aufenthaltsort erfahren wollten.

Rudi wurde erneut vor Gericht gestellt und vom Oberlandesgericht Dresden zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Als er seine Strafe verbüßt hatte, kam er nicht frei, sondern wurde wie viele aktive Widerständler: innen in sog. ‚Schutzhaft‘ genommen.

In den Lagern

Das einzige Lagerbild – der Mann in der Tür der Baracke links ist Rudi Wunderlich

Über mehrere Stationen, u. a. dem Moorlager Emsland, kam er schließlich ins KZ Sachsenhausen. Er wurde nach kurzer Zeit als „Lagerläufer“ und „Lagerschreiber“ eingesetzt, später dann als „Lagerältester“ benannt. Zu seinen Aufgaben gehörte es, die von den Nazis diktierte Lagerordnung so durchzusetzen, dass die Häftlinge so wenig wie möglich in den Fokus der Wachmannschaften kamen. Auch wenn die Verantwortung für seine Kameraden groß war und die Aufgabe konzentriertes Arbeiten erforderte, so nutzte er die Vorteile, die diese Funktion ihm bot, geschickt aus. Rudi kam durch seine neue Tätigkeit viel im Lager herum. Er konnte Dokumente der SS einsehen, hatte den Überblick über Maßnahmen der Wachmannschaft und vermochte so gut die Situation im Lager einzuschätzen. Er gab anderen Häftlingen Tipps wie sie den Torturen des Aufsichtspersonals entkommen konnten und bereitet sie so gut wie möglich vor, wenn die SS Veränderungen im Lager plante. Nach dem die SS 1942 aus ökonomischen Gründen beschlossen hatte, in Lichterfelde ein Außenlager zu errichten, wurde Rudi von den kommunistischen Gefangenen, die sich in Sachsenhausen wie in Buchenwald organisiert hatten, aufgefordert, als Lagerältester dorthin zu gehen.

Inhaftierte des neuen Lagers wurden vor allem eingesetzt, um die durch Alliierte Bombenangriffe beschädigten Gebäude der NSDAP, der SS und der Gestapo baulich instand zu setzen und die anfallenden handwerklichen Arbeiten in den Bauten zu erledigen[2]. Da das Lager in der Innenstadt lag, konnten die höheren NS Funktionäre ohne größeren Aufwand und recht preiswert kleinere Arbeitskommandos für Reparaturarbeiten in ihren Privathäusern oder zur Pflege ihrer Gärten ordern.

Der Vorteil des Einsatzes in einem solchen Arbeitskommando, war, dass die Tätigkeiten weniger streng kontrolliert wurden. Die für solche Arbeiten eingeteilten Häftlinge konnten sich recht gut über die politische Lage in der Stadt informieren und bis zu einem gewissen Grad sogar Außenkontakte aufnehmen.

So kam Rudi in das SS-WVHA. Dort wurde er mit der Reparatur der von einem Bombenwurf teilzerstörten Wohnung des Fahrers von Oswald Pohl, dem Chef des Amtes, betraut. Die Behörde war mit der Verwaltung der KZs beauftragt und verwertete die geraubten Hinterlassenschaften der Opfer der Nazis, von Grundstücken über Möbel und Kleidungsstücken bis zu den Goldzähnen der in den KZ ermordeten. In den letzten Jahren des Faschismus war es das größte Amt im Staat.

Rudi nutzte den Freiraum, den er bei seiner Arbeit hatte, um seine Flucht vorzubereiten. Er besorgte sich zwei Pistolen um im Falle seiner Entdeckung, die den sicheren Tod bedeutet hätte, einige Nazis mit ins Jenseits nehmen zu können. Seine Freundin Martel Thomas, die wohl auch der Leipziger Jugendgruppe der KPO angehört hatte, organisierte für ihn eine Unterkunft bei einer Freundin, besorgte Kleidung und Verpflegung. Rudi kam im Prenzlauer Berg unter in einer Einzimmerwohnung bei Charlotte, genannt Lott, Kohl. Sie war im Arbeitersport aktiv und half vielen, die untergetaucht waren und sich vor den Schergen der Nazis verstecken mussten.

Als sich Ende 1944 die Lage in Berlin immer mehr zuspitzte, täglich Straßenkontrollen und Razzien in den Stadtteilen stattfanden, die Sicherheitskräfte in Erwartung ihrer Niederlage mit aufgegriffenen Oppositionellen, Deserteuren oder geflohenen Zwangsarbeitern kurzen Prozess machten, wechselte Rudi das Quartier. Nach einem Monat verließ er diese Unterkunft wieder und setzte sich nach Leipzig ab. Er kam er bei der Familie seiner Freundin unter und erlebte die letzten Monate der faschistischen Herrschaft unter teilweise abenteuerlichen Umständen. Am 18. April 1945 wurde er mit der Eroberung der Stadt durch die US Armee befreit.

Nachkriegserfahrungen

Rudi wollte nie Opfer des Faschismus sein. Er wusste als Kommunist, dass der Faschismus ein Ende haben werde und es dann zu einer Abrechnung mit den Vertretern des Systems kommen könne. Um sich darauf vorzubereiten, schrieb er in seinem Versteck in der Schliemannstr. akribisch seine Erinnerungen an die Erlebnisse in den diversen Arbeits- und Konzentrationslagern nieder. Er nannte die Verantwortlichen für Folter, Erschießungen, medizinische Experimente und Misshandlungen beim Namen und beschrieb so weit möglich ihren Anteil an den jeweiligen Maßnahmen. Rudi trat in mehreren Nachkriegsprozessen gegen Mitglieder der Wachmannschaften, die Ärzte wie gegen die Führungskräfte der KZs als Zeuge auf.

Da die Aufzeichnungen vor seiner Flucht aus Berlin versteckt werden mussten, waren sie unmittelbar nach Ende des Krieges nicht zugänglich. Rudi schrieb seine Erinnerungen erneut auf. Sie waren nahezu deckungsgleich mit seiner ursprünglichen Fassung, die später wiederentdeckt wurde. Die Erstschrift war verborgen auf dem Land in der Wohnung eines evangelischen Pfarrers. Im Jahr 1957 verfasste er eine detaillierte Darstellung der Umstände seiner Flucht. Sie enthielt auch Angaben zu den Personen, die ihm dabei geholfen hatten und ihn in der Illegalität unterstützten. So ist ein knapp 160seitiges, bisher unveröffentlichtes, Dokument entstanden, dass in seiner Art nur mit wenigen vergleichbar ist.

Die gradlinige Haltung von Rudi, seine unbeugsame antifaschistische Überzeugung, seine Opferbereitschaft für seine politischen Ziele und seine Solidarität in den KZs gegenüber allen Gefangenen, egal zu welcher politischen Richtung sie gehörten, verschafften ihm in den ersten Nachkriegsjahren große Anerkennung.

Ende der 40er Jahre wurde seine frühere Mitgliedschaft in der KPO zum Thema. Er verlor im Rahmen einer Umstrukturierung der Landespolizeidirektion von Mecklenburg-Vorpommern seinen Posten als Leiter des Dezernates K5. In dieser Funktion hatte er sich auf die Verfolgung der Nazis konzentriert, die in den Wirrnissen der ersten Nachkriegsjahre untergetaucht waren. Er wollte sie in ihren Verstecken aufspüren und vor Gericht stellen. Eine Überprüfung durch Erich Mielke über seinen weiteren Einsatz in den Sicherheitsorganen kam zu dem Ergebnis, dass er fachlich wohl für die Aufgaben geeignet sei, aber als politisch unzuverlässig angesehen werden müsse. Um seiner Entlassung zuvor zu kommen, verließ er „freiwillig“ die Volkspolizei.

Anfang der 50er Jahre kam er erneut in die Mühlen der Parteijustiz. Die SED hatte kurz nach Gründung der DDR eine große Säuberungsaktion in der Partei eingeleitet. Ihr fielen fast alle zum Opfer, die zweitweise nicht der KPD angehörten oder aber in der Westemigration überlebt hatten. Rudi wurde zwar nicht aus der Partei ausgeschlossen, bekam aber zukünftig nur noch untergeordnete Posten. Ständig wurde er mit Vorwürfen konfrontiert, ein unredlicher Charakter zu sein. Mehrere Wechsel der Arbeitsstelle folgten.

Im Mai 1956 wurde Rudi für die Arbeit im Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer freigestellt. Er war zukünftig als Abteilungsleiter für die Gedenkstättenarbeit der DDR verantwortlich.

Erst 1962 rehabilitierte ihn die SED. Mit einer Entscheidung des Politbüro wurde seine Parteimitgliedschaft rückwirkend ab 1930 anerkannt, Doch der Makel, ein Oppositioneller gewesen zu sein, blieb an ihm haften. Die SED korrigierte mindestens bis Anfang der 80er Jahre ihr Verhältnis zur KPO nicht und danach nur leicht.

Verschiedene Arten der Erinnerung

Von der SED ins Abseits gestellt und von der SPD vollständig ignoriert, ist es einzelnen Initiativen zu verdanken, dass die Erinnerung an Rudi Wunderlich erhalten geblieben ist[3]. Sie sind fasziniert von seiner konsequente Widerstandsarbeit und seiner facettenreiche Persönlichkeit[4]. In ihren Darstellungen beschreiben sie durchaus seine politischen Ansichten, bleiben aber in der Erinnerungsarbeit stecken. Die Frage, ob seine grundsätzlichen Ansichten auch heute noch eine Bedeutung für die politische Auseinandersetzung haben, erörtern sie nicht.

Rudi hat sich zwar wie viele Mitglieder der KPO nach 1945 nicht der Nachfolgeorganisation Gruppe Arbeiterpolitik angeschlossen und auch den Kontakt zu ihr nicht gesucht. Dennoch blieb er den früheren politischen Überzeugungen verbunden, eine politische Arbeiterbewegung zu schaffen, die ihre Entscheidungen frei von äußerer Bevormundung trifft. Seine Motive einen politischen Neuanfang in anderen Zusammenhängen zu wagen wie auch die Entscheidungen derjenigen, die damals ähnlich handelten, sind nachvollziehbar und den jeweils besonderen persönlichen wie politischen Umständen geschuldet, in denen sie lebten.

Da aber die Hoffnungen, einen anderen Weg zu gehen, sich nicht erfüllt haben, KPD, SAP und SED nicht mehr existieren, gilt es, die auseinander gelaufenen Fäden einer selbständigen kommunistischen Bewegung wieder zusammenzuknüpfen und in eine Debatte über den Neuanfang einer politischen Arbeiterbewegung einfließen zu lassen. Persönlichkeiten wie Frida Winckelmann, Rudi Wunderlich oder Hertha Walcher um nur die zu nennen, über die derzeit außerhalb unserer Zusammenhänge diskutiert wird, liefern dafür wichtige Impulse.

Verdienst der Initiative

Die Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde hat nicht nur die Erinnerung an das KZ-Außenlager Lichterfelde wieder lebendig werden lassen und Rudolf Wunderlich ausführlich gewürdigt, sie hat auch Verdienste erworben, weil sie auch die Widerstandsarbeit derjenigen herausgestellt hat, die Rudi bei seiner Flucht geholfen haben und ihm anschließend ermöglichten, in der Illegalität zu überleben.

Die Initiative hat anlässlich der diesjährigen Feiern zur Befreiung des KZ-Außenlager Lichterfelde am 8. Mai, zur Erinnerung an sie am Gedenkstein der „Säule der Gefangenen“ in der Wismarer Str. 23-26 einen Kranz niedergelegt, der an die Widerständler im Hintergrund erinnert. Dies ist von großer Bedeutung, weil diese in der vorherrschenden Geschichtsschreibung häufig unterschlagen werden.

Zu Rudi Wunderlich existiert eine ausführliche Biografie. Sie enthält seine Darstellung der SS Folterknechte mit den Namen, die er unmittelbar nach seiner Flucht geschrieben hat[5]. Die Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde hat zu Rudi eine kleine Broschüre herausgegeben, die sich auf die wichtigsten Stationen seines politischen Lebens und seine Flucht konzentriert[6]. Sie kann bei der Initiative oder über die Redaktionsadresse angefordert werden kann.

H.B., 14.07.2023


[1] Das Haus ist abgerissen worden. An seiner Stelle ist ein Spielplatz entstanden.
[2] Detaillierte Angabe zu den Arbeitseinsätzen finden sich bei: Pioch, Nie im Abseits, Berlin 1978, S. 130-160
[3] Arne Groß, Rudi Wunderlich, in: Un-Einheitlich, Biographien ehemaliger kommunistischer Häftlinge des Konzentrationslagers Sachsenhausen, Berlin 1998, S. 56-65 Uneinheitlich ; Vgl. a. Theodor Bergmann, Rudi Wunderlich*, Sozialismus 4’88, S. 13
[4] Vgl. dazu das Kurzportrait von Regina Scheer. , Über die Frauen der Widerstandskämpfer, in Helden, Täter und Verräter, Hrsg. von Annette Leo und Peter Reif-Spirek, Berlin 1999, S. 155-175
[5] Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg 1939-1944 – Die Aufzeichnungen des KZ-Häftlings Rudolf Wunderlich, Hrsg. Von Joachim S. Hohmann und Günter Wieland, Frankfurt am Main 2015, 2. Aufl.
[6] Thomas Schleissing-Niggemann, Rudi Wunderlich – gelungene Flucht aus dem KZ, Initiative Außenlager Lichterfelde, Berlin Juni 2021


 

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