Wege zu Frieden und Gerechtigkeit für alle – in Israel und Palästina

Korrespondenz

Diskussionsveranstaltung vom 28. Februar 2024 in Hanau

Am 28.Februar 2024 fand im Nachbarschaftshaus Tümpelgarten in Hanau eine Informationsveranstaltung der Friedensplattform zum Nahostkonflikt statt, zu der zwei kompetente Referenten gewonnen werden konnten. Die Referenten setzen sich seit langem für Frieden und Dialog in Nahost ein. Die Initiative verfolgte die Zielsetzung, über die Hintergründe des Nahostkonflikts in historischer Dimension aufzuklären und damit einen Kontrapunkt gegen die einseitige Berichterstattung in den Medien hierzulande zu setzen. Diese wird bekanntlich bestimmt durch den Grundsatz, dass sich aus dem Holocaust, also dem im Zweiten Weltkrieg mit industriellen Vernichtungsmitteln durchgeführten Genozid an den europäischen Juden (soweit die Wehrmacht kam) eine besondere Verantwortung Deutschlands für die jüdische Bevölkerung ergebe. Diese wurde aber von vornherein, ab den Zeiten Adenauers und Ben Gurions bis heute, auf eine bundesrepublikanische „Staatsraison“ reduziert, die lediglich den Staat Israel unterstützt: also einen von der zionistischen Ideologie getriebenen Machtapparat, der die jüdische Gemeinschaft gegen die „feindliche“ Außenwelt abschottet und den palästinensischen Bevölkerungsteil in Kern-Israel diskriminiert, im Westjordanland weiterer Verdrängung durch israelische Siedler:innen ausliefert und im Gazastreifen einer seit 2007 anhaltenden Blockade aussetzt. Für die Auswahl der beiden Referenten war entscheidend, dass sie diesen Konflikt aus der Sicht von beiderseits verständniswilligen Israelis und Palästinenser:innen beleuchten. Es waren etwa 90 Männer und Frauen aller Altersgruppen erschienen.

Zum Einstieg wurden Bilder und Filmsequenzen gezeigt zur Situation der palästinensischen Bevölkerung auf dem Land, Konfrontation mit der Besatzungsmacht, Zerstörung von Häusern, Lage im Gazastreifen und zu dem angeblichen „Skandal“ in der Berlinale (dort hatten einige Künstler den Nahostkrieg thematisiert, von einem Genozid im Gazastreifen und von Apartheid im Westjordanland gesprochen; das „nicht vorsortierte Publikum“, wie die junge Welt schrieb, hatte dazu „applaudiert“).

Der erste von zwei Vorträgen kam von Fuad Hamdan (geboren in einem palästinensischen Flüchtlingslager in der Nähe von Jerusalem, heute wohnhaft in München, Gründer einer jüdisch-palästinensischen Dialoggruppe im dortigen Eine-Welt-Haus), jahrelang aktiv bei amnesty international und Mitarbeiter zahlreicher TV-Sendungen zum Thema.

Fuad trug die Geschichte des Konflikts vor, die Vertreibung und die aktuelle Situation. Jahrhundertelang haben die Angehörigen der „großen monotheistischen Weltreligionen“ im Nahen Osten friedlich zusammengelebt. Warum auch nicht? Der Konflikt kam nicht aus dem Nahen Osten selbst, sondern aus Europa. Er fasste drei Punkte zusammen.

  • Antisemitismus: Juden/Jüdinnen wurden in Europa diskriminiert, zunächst der religiöse Antisemitismus des christlichen Mittelalters, später der auf sozialen Konflikten aufsetzende Antisemitismus der kapitalistischen Neuzeit. Dabei gab es Differenzierungen: Während die Juden/Jüdinnen Westeuropas noch einigermaßen integriert waren, litten sie vor allem in Osteuropa (Machtbereich des Zarenreiches) unter Verfolgung (Pogromen). Viele führende Politiker:innen des Zionismus bzw. des Staates Israel kamen aus dem Bereich Osteuropa, während die ansässigen Juden/Jüdinnen aus Palästina insgesamt eine untergeordnete Rolle spielten (sie waren noch zu sehr „arabisch“). Aus dem Antisemitismus entwickelten führende Vertreter:innen des Judentums den Zionismus als politische Bewegung, der zwar das Judentum als soziale Basis beansprucht, aber dennoch in wesentlichen Teilen sich als säkulare Bewegung versteht (weshalb anfangs auch keineswegs nur Palästina als Ort einer jüdischen Staatsgründung ins Auge gefasst wurde, sondern etwa Argentinien, Madagaskar etc.).
  • Kolonialismus: Palästina gehörte zur Zeit des Ersten Weltkriegs dem Osmanischen Reich an und befand sich im Schnittpunkt der Interessen mehrerer Großmächte. Es gelang der zionistischen Führung, die damals noch stärkste Weltmacht, das Britische Reich, auf ihre Seite zu ziehen. Ausdruck davon war die Balfour Declaration, die der jüdischen Gemeinschaft einen Staat in Palästina versprach. Fuad drückte damit aus, dass – wie üblich im Kolonialismus – europäische Machtinteressen über die Köpfe der palästinensischen Bevölkerung hinweg verfügt wurden.
  • Holocaust: Der Holocaust ist das größte Massenverbrechen der Weltgeschichte und durch nichts zu relativieren. Umgekehrt ist aber klarzustellen, dass es auch weitere Massenverbrechen (hier zu nennen: im heutigen Namibia und Tansania, beides deutscher Kolonialismus, Fast-Ausrottung indigener Völker in den heutigen USA, Australien, Neuseeland, Genozid an der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich ) in der Weltgeschichte gab, die nicht ihrerseits durch die Einzigartigkeit des Holocaust relativiert werden dürfen. In diese Reihe gehört auch „Die ethnische Säuberung Palästinas“ (Buchtitel Ilan Pappe, englisch: The Ethnic Cleansing of Palastine, London 2006, aktuelle deutsche 4. Ausgabe Ulm 2024).

Antisemitismus einerseits, Zionismus andererseits sind also als europäische Strömungen vor dem Holocaust entstanden, aber die Konflikte durch diesen entscheidend verschärft worden. Aber – so Fuad – wieso sollten die Palästinenser:innen für europäische Verbrechen bezahlen? Im weiteren Verlauf stellte er dar, dass dies als Machtfrage umgesetzt wurde. Die zionistischen Siedler:innen und Funktionär:innen kamen nicht als Bittsteller, die um Asyl, Arbeitsplätze u. dgl. nachsuchten, sondern als Eroberungswillige mit Waffengewalt. Sie wurden von der britischen Kolonialmacht (Balfour Declaration) unterstützt (deren Rolle nach ihrem Abzug die USA übernahmen). Die Palästinenser dagegen befanden sich noch auf einer vorkapitalistischen Entwicklungsstufe der Produktivität ihrer Arbeit, die sie gegenüber dieser Gewaltentfaltung der Zionisten und Kolonialisten weitgehend wehrlos machte. Schon der UNO-Teilungsplan war eine grausame Provokation. Stell dir vor, du lebst seit vielen Generationen in diesem Land, und plötzlich kommen sogenannte Siedler:innen aus Europa und behaupten, gestützt auf ein mindestens zweitausend Jahre altes Buch, das sei ihr Land, und du habest jetzt deine Sachen zu packen. Aber auch dieser UNO-Teilungsplan war schon bald Makulatur. Fuad sprach von 530 Dörfern, die in der Nakba zerstört, und 750.000 Menschen, die vertrieben wurden.

Im folgenden problematisierte er die Verarbeitung des Holocaust auf Kosten Palästinas und die deutsche Staatsraison, Israel bedingungslos zu unterstützen, um von der „internationalen Gemeinschaft“ im Sinne des „Westens“ wieder aufgenommen zu werden und letzten Endes darin wieder eine (zumindest unterhalb der USA) führende Rolle zu spielen. Konsequenzen: In Deutschland leben ca. 200.000 Palästinenser:innen, die faktisch nicht wahrgenommen werden – außer wenn sie sich wie aktuell zu Wort melden, dann aber notorisch als „Antisemiten“ verleumdet werden. Die Nakba und der Holocaust sind beide mit der deutschen Geschichte verbunden.

Im späteren Verlauf der Diskussion ergänzte er noch, dass Gideon Levy, Journalist der israelischen Tageszeitung Haaretz, den Erfolg des zionistischen Staatsprojekts Israel kritisch mit drei Merkmalen erklärte und hinterfragte: 1. Wir sind das auserwählte Volk; 2. wir sind die Opfer des Holocaust; 3. es ist uns gelungen, die Palästinenser:innen zu entmenschlichen, zu dämonisieren.

Im zweiten Vortrag kam mit Wieland Hoban (Vorsitzender des Vereins „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ mit Sitz in Berlin, deutsche Sektion der European Jews for a Just Peace) ein Vertreter von jüdischen Gruppen in Europa, Israel und sonstwo in der Welt zu Wort, die sich für die Rechte der Palästinenser und eben auch für ein sofortiges Ende des aktuellen Gaza-Krieges einsetzen.

Wieland beschrieb die Situation von jüdischen Organisationen wie seines Vereins (in Deutschland wie in Israel), die sich kritisch mit dem Zionismus, dem Staat Israel und dem Besatzungsregime auseinandersetzen. Sie werden dort (mit jetzt hier den Worten des Protokollanten) als „Nestbeschmutzer“ angesehen und behandelt. Er führte eine Reihe von Beispielen an, wo sie Schwierigkeiten hatten und haben, Räumlichkeiten für ihre Veranstaltungen zu bekommen, wo sie ihnen ohne Begründung entzogen wurden, wo sie beschimpft wurden etc. Jede Veranstaltung, die sie durchsetzen können und die gelingt, sei deshalb ein kleiner Sieg. Die Hindernisse seien eben ein Hinweis darauf, dass man den Finger in die Wunde lege, aber genau das müsse man tun. Die Lage in Gaza sei ein Genozid, das müsse man immer wieder sagen. Insofern gleicht seine Aussage derjenigen, die oben bei Fuad beschrieben ist: Der Holocaust war einzigartig, aber darüber dürfe man andere schlimme Verbrechen nicht relativieren. Dass sich aus dem Holocaust ein jüdischer Anspruch auf einen eigenen Staat mit Diskriminierung, Vertreibung und Vernichtung nichtjüdischer Menschen ergebe, sei ein Trugschluss. Die Emanzipation des Judentums innerhalb der Gesellschaften, in denen jüdische Menschen leben, sei der bessere, sicherere, humane Weg. Die Logik des auserwählten Volkes werde leider außerhalb Israels mitgetragen. Niemand komme auf den Gedanken, einen eigenen Staat für Sinti und Roma zu fordern, obwohl auch diese Opfer des Holocaust waren. Auch Wieland beschrieb die Geschichte des Zionismus als Produkt europäischer Verhältnisse. Zionist:innen empfanden sich dabei als integrierte Europäer:innen, soweit nicht dagegen verstoßen wurde (Wieland erwähnte hier die Dreyfus-Affäre in Frankreich um 1894). Herzl war ein durch und durch säkularer Jude. Aber der Weg war falsch. Diskriminierung muss man bekämpfen, so Wieland, man darf ihr nicht ausweichen. Insofern war die zionistische Strategie, auf einen jüdischen Staat (ob in Argentinien, Madagaskar oder Palästina) zu orientieren, die Umsetzung des Antisemitismus als Zionismus auf Kosten eines dritten Volkes und anstelle der Fortsetzung des Kampfes für die jüdische Emanzipation in der jeweiligen europäischen Gesellschaft. Die Zionisten schufen eine künstliche Identität neu, indem sie z. B. Hebräisch als gemeinsame Sprache eines jüdischen Staatsvolks reaktivierten unter gleichzeitiger Diskreditierung und Verdrängung der seinerzeit üblichen Sprache Jiddisch. Die Schaffung der jüdischen Volksgemeinschaft war zugleich gerichtet gegen den Klassengedanken. Die Kibbuz-Bewegung war kein „Sozialismus mit jüdischen Kennzeichen“, sondern eine jüdisch-ethnische Bewegung. Klassensolidarität jüdischer mit nichtjüdischen Arbeiter:innen spielte keine Rolle oder wurde dezidiert abgelehnt.

Der Zionismus, so Wieland, frisst sich selbst auf. Linke im Westen demonstrieren für oder gegen Israel, für oder gegen Hamas, für Frieden, für Wiederaufbau in Gaza, für eine Zweistaatenlösung, aber wenige Linke demonstrieren ausdrücklich gegen die Gewalt, die vom Zionismus ausgeht und die auf Auslöschung der palästinensischen Identität zielt. Die Unterstützung Israels muss unterbleiben. Es muss sich vieles ändern.

In der anschließenden Diskussion ging es um Fragen zur Versöhnungsarbeit, Grundlagen, Perspektiven, Sensibilität gegenüber den Leiden der palästinensischen Bevölkerung etc. Insgesamt wurden die Vorträge positiv aufgenommen. Es gab aber auch Kritik. Sie bezog sich vor allem auf die Struktur der Veranstaltung: Die Vorträge waren zu lang geraten, die Zeit für Diskussion zu kurz. Der historische Teil in beiden Referaten hatte ein zu starkes Übergewicht, für Perspektiven, gar Lösungen blieb zu wenig Raum. Die Hanauer Friedensplattform wird sich daher um eine zeitnahe Nachfolgeveranstaltung bemühen, in der die komplizierten Fragen einer Zwei- oder Einstaatenlösung und insbesondere der politischen und mentalen Verständigung der beiden Bevölkerungen, die sich infolge der verlaufenen Historie diese Region teilen müssen, in den Vordergrund gerückt werden. Die Dämonisierung muss ein Ende haben. Wer ein friedliches Palästina will, muss für ein freies Palästina eintreten, zu dem dann auch ein Ausgleich für die Verbrechen der Vergangenheit gehört. Die Shoa und die Nakba müssen einen gleichberechtigten Platz in der Verarbeitung dieser Geschichte erhalten. Das ist gerade in Deutschland mit seiner Fixierung auf die einseitige „Staatsraison“ der Unterstützung des zionistischen Machtapparates immer wieder klarzustellen.

F/HU, 10.3.2024


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