Burgfrieden im Zeichen von Corona

Kriege und Katastrophen bringen es mit sich, dass die Herrschenden nur noch Deutsche (Wahlweise Italiener, Franzosen etc.) sehen und keine sozialen Klassen. So jedenfalls in den öffentlichen Erklärungen. Der Staat springt ein, um die „Wirtschaft“ zu erhalten – mit Krediten, mit Zuschüssen und, falls erforderlich, auch mit Staatsbeteiligungen an großen Konzernen. Die italienische Regierung hat soeben die Fluglinie Alitalia mit 500 Millionen Euro verstaatlicht. Die deutschen Minister Olaf Scholz (SPD) und Peter Altmaier (CDU) stellen den Unternehmern Kredite und Garantien „ohne Begrenzung“ in Aussicht. Wirtschaftsminister Altmaier: „Wir werden einen Ausverkauf deutscher Wirtschafts- und Industrieinteressen verhindern. Dabei darf es keine Tabus geben. Vorübergehende und zeitlich begrenzte Staatshilfen, bis hin zu Beteiligungen und Übernahmen, müssen möglich sein.“ (FAZ, 21.3.20)

„Wenn wir die Geschichte des Eingreifens des Staates in die Angelegenheiten des täglichen Lebens und vor allem auch in die Wirtschaftsgestaltung erforschen, dann finden wir, dass der Staat immer dann besonders stark hervortritt, wenn sich die an der Macht befindende Klasse bedroht fühlt. Diese Gefahr mag von außen und innen oder gar von beiden Seiten kommen. In jedem Fall dient der Staat als Instrument der herrschenden Klasse der Befestigung ihrer Position. Zum Beispiel spielt der Staat während des Krieges eine viel größere Rolle als im Frieden. Auch während der großen Krisen in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts trat der Staat in allen kapitalistischen Ländern viel stärker hervor, griff hier und da dirigierend, befehlend ein, wo er zuvor herausgehalten worden war; insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschaft.“
(Jürgen Kuczynski, Die Bewegung der deutschen Wirtschaft von 1800 bis 1946, 16 Vorlesungen, Berlin 1947)

Schließung von Büros, Industrieanlagen, Hotels, Restaurants, Kindergärten, Schulen und Universitäten, Sportstätten, Schließung der Grenzen für Urlaubsreisende, Kontaktverbote im öffentlichen Raum und manches mehr – im Laufe eines knappen Monats ist der unmittelbare Zugriff des bürgerlichen Staates auf die einzelne Person in Friedenszeiten, der Eingriff ins tägliche Leben so dramatisch zugespitzt worden, wie wir es nun erleben. Ein Großmanöver über die Grenzen der Länder und Kontinente hinweg.

Die sachliche Notwendigkeit für diese Art Ausnahmezustand, die von Ärzten und Virologen auf der ganzen Welt betont wird, wird von den Bevölkerungen im Wesentlichen als gegeben akzeptiert. Die Reaktionen des Staates in der kapitalistischen Klassengesellschaft  fallen allerdings erwartungsgemäß differenziert aus: In erster Linie wird „der Wirtschaft“, d. h. den Unternehmern, geholfen. Bei wichtigen großen Unternehmen, wie z. B. der Lufthansa, sind direkte Staatsbeteiligungen am Kapital möglich; d. h. der Staatshaushalt (d. i. die große Mehrheit der Steuerzahler) steht unmittelbar für Verluste mit ein. Mittlere Unternehmen können mit Überbrückungskrediten der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) rechnen, falls ihre Hausbank mitspielt und sie die Zinsen tragen können. Die Arbeitsämter stellen Kurzarbeitergeld zur Verfügung, eine Art Lohnsubventionierung für eine Übergangszeit, in der die Betriebe keine Beschäftigten entlassen sollen. Kleine Selbstständige sollen zwischen 9.000 und 15.000 Euro Beihilfen erhalten können. Mietzahlungen sollen gestundet werden können, Wohnungs- und Geschäftskündigungen wegen Corona-bedingter Mietausfälle sollen ausgeschlossen werden; die Mietenkürzungen sind allerdings in den folgenden Jahren nach zu entrichten. Für die Lohnabhängigen bleibt der Verweis auf das Kurzarbeitergeld, die Hoffnung auf Aufstockung durch den Betrieb oder einen schnelleren Zugang zu Hartz IV ohne vorangehende Vermögensprüfung.

Die Gewerkschaftsvorstände geben sich wieder einmal staatstragend, an vorderster Front die IG Metall Nordrhein-Westfalen, die einen Nottarifabschluss mit den Unternehmern vereinbarte, der für dieses Jahr keine Tariferhöhung vorsieht. Stattdessen sollen die Betriebe sogenannte Härtefonds für die Beschäftigten einrichten, die durch Kurzarbeit Lohneinbußen erwarten. Einzelheiten müssen die Betriebsräte mit den Vorständen klären. So können z. B. dem laufenden (geringeren) Monatslohn anteilig Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld zugeschlagen werden, wodurch sich die Berechnungsgrundlage für das Kurzarbeitergeld erhöht. Der Vorteil für die Unternehmer: Die sonst fälligen Sozialabgaben für Urlaubs- und Weihnachtsgeld entfallen.

Die FAZ (21. 3. 20) zitiert den nordrhein-westfälischen Metall-Arbeitgeberpräsidenten Kirchhoff mit dem Satz: „Das wichtigste Ergebnis dieses Pakts ist Frieden.“

Dazu gehört, dass für ca. fünf Millionen Freiberufler, Selbstständige und Betriebe mit bis zu 10 Angestellten 50 Mrd. Euro für die Dauer von drei Monaten von der Bundesregierung zur Verfügung gestellt werden. Für diese Bevölkerungsgruppe bedeuten diese Zuschüsse natürlich ein Aufatmen, weil sie diejenigen sind, die ohne dieses Geld vermutlich in kurzer Zeit pleite wären. Einige Landesregierungen stocken die Beihilfen noch auf bis zu 25.000 Euro auf. Das Credo der Regierenden lautet: Wir lassen niemanden im Regen stehen! So versucht der Staat als ideeller Gesamtkapitalist vorzubeugen, dass Unruhe in der Bevölkerung entsteht.

Gleichzeitig belehrt dieser journalistische Vorposten des freien Unternehmertums darüber, wie ein „feinfühliger Umgang mit den Folgen der gegenwärtigen Krisenlage in tarifpolitischen Kreisen“ nicht aussehen darf. Beispiel: die Baugewerkschaft, die in ihrer Tarifrunde eine Lohnerhöhung von 6,8 Prozent verlangt.

Die für die Telekom zuständige Gewerkschaft ver.di teilte in einem Tarifbrief vom 17. 03. 2020 ihren Funktionären mit, sich zurückhalten zu wollen. Sie erhofft sich „eine gerechte und wertschätzende Teilhabe an den erst kürzlich präsentierten guten Konzernergebnissen“ und will vor allem Sorgen um die berufliche Zukunft mit „einer deutlichen Verlängerung des Schutzes vor betriebsbedingten Beendigungskündigungen“ entgegenwirken.

Die Lage der Lohnabhängigen in einer Krisensituation wie der gegenwärtigen kann je nach Unternehmensgröße und Branche sehr unterschiedlich sein. Große Konzerne, die ungehinderten Zugang zu den Institutionen des Staates und seinen Hilfsmitteln haben und die gewohnt sind, Regelungen mit ihren Beschäftigten über die Betriebsräte schiedlich-friedlich zu regeln (wie z. B. in der Autoindustrie), stehen kleinere und mittlere Betriebe gegenüber (z. B. in der Bauwirtschaft), die als gewerkschaftsferne Sub- oder Sub-Sub-Unternehmen mit mehr oder weniger prekär Beschäftigten ihre Profite erwirtschaften. In den Konzernbetrieben erwarten die meisten Beschäftigten, dass die Betriebsräte – und eventuell noch die Gewerkschaft – ihre Angelegenheiten konfliktarm und  zufriedenstellend regeln, d. h. also, Kompromisse finden, mit denen es sich leben lässt. In den prekären Beschäftigungsverhältnissen sind die Kolleginnen und Kollegen in der Regel auf sich selbst gestellt; der Unternehmer kann Festangestellte und Aushilfskräfte, Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte, Fachkräfte und Hilfskräfte gegeneinander ausspielen.

DA


aus Arbeiterpolitik Nr. 1/2 2020

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