9. Mai 1945: „Tag des Sieges“ oder „Befreiung vom Faschismus“?

antifaschistisches Mahnmal Hanau

Wie alljährlich am 8. Mai zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs, die Befreiung Deutschlands und Europas vom NS-Faschismus und die Opfer, die das gekostet hat, fand auch in diesem Jahr in Hanau am Mahnmal in der Martin-Luther-Anlage die Veranstaltung von VVN/BdA und DKP Main-Kinzig statt. An die vierzig Personen nahmen daran teil. Umrahmt von Kranzniederlegung und antifaschistischen Musikbeiträgen wurden einige Reden von VVN, DKP, Hanauer Friedensplattform und Internationalem Jugendverein Hanau gehalten. Hierin wurden die Verantwortung der Bundesregierung für die Beteiligung an den Kriegen in der Ukraine und im Gazastreifen dargelegt und insbesondere die Eskalationsgefahr zu einem Dritten Weltkrieg hervorgehoben.

Für den nächsten Tag, den 9. Mai, diesmal zufällig ein Feiertag, luden VVN/BdA und DKP Main-Kinzig zu einer Feier im Hof des Gewerkschaftshauses ein. Es sollte der „Tag des Sieges“ begangen werden. In der Einladung wurde auch die Erwartung ausgedrückt, dass man das Begehen dieses Tages künftig zur Regel machen könne. Bekanntlich wurde am 7. Mai 1945 mit Gültigkeit ab 8. Mai die Kapitulation der Wehrmacht des NS-Reiches vor den Westmächten in Reims, am 8. Mai mit Gültigkeit ab 9. Mai vor der Roten Armee der Sowjetunion in Berlin vollzogen.

Soweit die Bedeutung dieser Tage. Die damit verbundene Begrifflichkeit wirft jedoch Fragen auf, die mit der historischen und politischen Bewertung zusammenhängen. Wir sind gewohnt, von der „Befreiung vom Faschismus“, genauer: vom faschistischen Regime und seiner Wehrmacht, zu sprechen. Aber waren diese Ereignisse ein „Sieg“? Waren sie es vom Standpunkt der Arbeiterbewegung aus? Die Frage zu stellen, heißt, sie zu verneinen. Die „Befreiung vom Faschismus“ war vom Standpunkt der Arbeiterbewegung kein „Sieg“, sondern eine ambivalente Ausgangslage in die nachfaschistische Zeit.

Erfahrungen des Ersten Weltkriegs

Ein historischer Vergleich gibt hier erste Aufschlüsse. Der Erste Weltkrieg endete mit einer schweren Niederlage des deutschen Imperialismus. Deutschland war als Großmacht zunächst ausgeschaltet, aber nicht völlig wehrlos.

Die Bourgeoisie wurde durch die Bestimmungen des Waffenstillstandes und des Versailler Vertrags schwer getroffen, verlor ihre Auslandsinvestitionen und musste ihre Profite mit der westeuropäischen Konkurrenz teilen; die USA drangen erstmals tief in die deutsche Ökonomie ein (z. B. Autoindustrie: General Motors, Ford; auch den Vorsitz in der Reparationskommission konnten sie nutzen). Aber die Widersprüche der Reparationspolitik auf dem Weltmarkt und zwischen den Großmächten konnten auch zugunsten des deutschen Kapitals ausschlagen, so dass ein Ende der Zahlungen, Lieferungen und politischen Belastungen nicht aussichtslos erschien (um Geld für Reparationszahlungen zu verdienen, musste die deutsche Wirtschaft ihrer Konkurrenz auf dem selbigen Marktanteile streitig machen; französische Kohlebarone waren nicht erfreut über Zwangslieferungen der deutschen Kohlewirtschaft zum Nulltarif, weil diese ihren eigenen Absatz schmälerten; usw.).

Die Arbeiterbewegung war gespalten, aber in dieser Beschränkung dennoch handlungsfähig. Es gab eine revolutionäre Teilbewegung, die den Sturz der kapitalistischen Produktionsweise anstrebte und über eine Partei (KPD), ein Programm und eine Führung verfügte. Sie wurde niedergeschlagen, indem die SPD ein Bündnis mit der Obersten Heeresleitung unter den kaiserlichen Generälen Hindenburg und Gröner schloss.

Der Staat blieb souverän und gab sich eine bürgerliche Verfassung. Nur einige Teile des Reichsgebietes im Westen wurden von westalliierten Streitkräften besetzt. Sein Militär wurde radikal reduziert, so dass es die Alliierten nicht angreifen konnte, aber es war im Innern einsetzbar. Diese Gesamtlage schuf wesentliche Voraussetzungen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs nicht gegeben waren. Die Novemberrevolution nahm so ihren bekannten Verlauf (vgl. Arbeiterpolitik 5/6 2018). Für die in- und die ausländische Bourgeoisie waren diese Verhältnisse also in der Zwischenkriegszeit noch beherrschbar.

Zweiter Weltkrieg: Bedingungslose Kapitulation

Am Ende des Zweiten Weltkriegs war die Lage eine völlig andere. Deutschland war besiegt und besetzt, das faschistische Regime und seine Wehrmacht restlos zerschlagen. Die Alliierten hatten „unconditional surrender“ (bedingungslose Kapitulation) gefordert. Es sollten diesmal wirklich einschneidende Lehren aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs gezogen werden.

Für die westlichen Alliierten, also insbesondere USA, Großbritannien und das erst nachträglich hinzugezogene Frankreich, bedeutete das, dass Deutschland nun wirklich als Großmacht ausgeschaltet werden sollte. Es sollte keine Gelegenheit mehr bekommen, einen nochmaligen Angriffskrieg zu führen, einen „dritten Griff zur Weltmacht“ zu wagen. Also wurde das gesamte Reichsgebiet besetzt, durch die Besatzungszonen zerstückelt und der alleinigen Regierungsmacht der Sieger unterworfen. Um es als imperialistischen Konkurrenten auszuschalten, wurde auch die Kontrolle über die Wirtschaft übernommen. Anfangs gab es sogar radikale Überlegungen (Morgenthau-Plan), Deutschland auf den Stand eines reinen Agrarlandes zu reduzieren. Demontagen industrieller Betriebe wurden durchgeführt, auch gegen Widerstände der Belegschaften. Spätestens in der beginnenden Blockkonfrontation mit der Sowjetunion erwiesen sich solche Vorstellungen als unrealistisch, verdichteten sich aber in späteren Jahren in der vorübergehenden internationalen Kontrolle des Ruhrgebietes als schwerindustriellen Zentrums und den Vorläuferorganisationen der EU wie Montanunion und Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Dazu kam die Wiederbewaffnung unter Kontrolle der NATO und der USA. Von dieser Seite her wurde in (West-) Deutschland selbstverständlich der Kapitalismus im liberalen Sinne reorganisiert, der die Grundlage für den Wiederaufstieg eines (west-) deutschen Staates innerhalb des westlichen Lagers unter Führung der USA schuf.

Die Sowjetunion beanspruchte ihren Teil Deutschlands, zunächst für die Schaffung eines sicheren Vorfeldes gegen einen neuen Angriff aus einem (west-) deutschen Staat samt potentiellen Verbündeten, dann für die Ausdehnung des sozialistischen Produktionsmodells, wie es sich in der SU entwickelt hatte. Stalin fasste das in die treffende Beschreibung, dass der Sieger dem Besiegten sein Gesellschaftsmodell aufzwinge. Hatten die Westmächte in Westdeutschland den liberalen Kapitalismus reorganisiert, die (Groß-) Betriebe wieder ihren Eigentümern übergeben, Forderungen nach Formen der Vergesellschaftung ignoriert, so setzte die Sowjetmacht in Ostdeutschland ihre autoritäre Form sozialistischer Eigentumsverhältnisse und Wirtschaftsweise von oben durch. In vier Jahrzehnten Blockkonfrontation ist der Sozialismus sowjetischer Prägung dem liberalkapitalistischen Westen erlegen. Es hatte sich gezeigt, dass sozialistische Produktionsweise offenbar nicht dauerhaft funktionieren kann, wenn sie nicht mit demokratischen Umgangs- und Lenkungsformen verbunden ist, d. h. von den arbeitenden Menschen selbst getragen wird.

Mit der Geschichte der Sowjetunion haben wir uns beschäftigt in der Broschüre „Weiße Flecken“ sowie einer Nachfolgeserie ab dem Zweiten Weltkrieg in den Ausgaben der Arbeiterpolitik 3 bis 5/2017 und 1/2018 (Alles hier zu finden).

Für die Arbeiterklasse auf beiden Seiten der Blockgrenze bedeutete der Sieg der sowjetischen und westalliierten Truppen über die Wehrmacht und die Zerschlagung des Regimes natürlich eine Befreiung vom Faschismus. Aber diese Ausgangslage am Kriegsende war ambivalent: einerseits der Neuanfang für eine Arbeiterbewegung, andererseits die Kontrolle durch die Besatzungsmächte beiderseits der sich herausbildenden Blockgrenze.

Die kapitalistischen Westmächte zogen aus der selbständigen revolutionären Bewegung im Ausgang des und nach dem Ersten Weltkrieg den Schluss, eben dieses nicht zuzulassen. Die Übernahme der Regierungsgewalt im Westen des ehemaligen Reichsgebietes hatte also die Funktion, eine Entwicklung wie in der Novemberrevolution zu unterbinden. Es gab weder ein deutsches Militär noch eine selbständig handelnde deutsche Sozialdemokratie, die ihre Rollen jeweils hätten übernehmen können. Deshalb traten die Siegermächte an deren Stelle.

Spiegelbildlich, aber mit umgekehrten gesellschaftlichen Vorzeichen galt dies auch in der sowjetischen Besatzungszone. Es gab zwar wieder die KPD, aber die Rolle einer selbständig und in Übereinstimmung mit einer revolutionär gestimmten Bewegung in der Arbeiterklasse handelnden kommunistischen Partei konnte sie nicht einnehmen. Auch die sich in der weltpolitischen Lage abzeichnende Blockkonfrontation erlaubte es der Sowjetunion in ihrem Interesse, wie sie es verstand, nicht, die Kontrolle in ihrer Zone aus der Hand zu geben.

Wessen Sieg?

In beiden Teilen Deutschlands waren also die politischen Kräfte der Arbeiterbewegung ausgeschaltet und zur Passivität bzw. willigen Zusammenarbeit mit der jeweiligen Besatzungsmacht verurteilt. Wir kommen deshalb wieder auf unsere Ausgangsfrage zurück: Kann vom Standpunkt der Arbeiterbewegung von einem „Sieg“ über den Faschismus gesprochen werden? Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Linken setzt in einem mehr oder weniger oberflächlichen Verständnis, etwa einer falsch verstandenen Traditionspflege oder einer globalpolitischen Parteinahme in der gegenwärtigen Auseinandersetzung des US-geführten Westens mit Russland, die „Befreiung vom Faschismus“ mit einem „Sieg“ der richtigen Seite gleich, wie immer sie diese versteht. Auch wenn dieser Teil der Linken sich darauf beruft, dass nicht nur die sowjetischen und westalliierten Truppen den Faschismus bekämpft und niedergerungen haben, sondern in vielen Teilen Europas, etwa Frankreich, Italien, Griechenland, Partisanen an deren Seite oder selbständig gegen die faschistischen Besatzer vorgegangen sind, so wurde doch am Ende die Machtfrage – im Sinne der zitierten Stalin’schen Bemerkung – von den Staaten geregelt.

Von einem „Tag des Sieges“ der Arbeiterklasse kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn wir feststellen müssen, dass in beiden Blöcken der Systemauseinandersetzung die Arbeiterbewegung unter Kontrolle gestellt wurde. Dies geschah zum Zweck der Wiederherstellung und Stabilisierung der jeweiligen Gesellschaftsordnung. Dies galt prinzipiell auch für die Besatzungsmacht Sowjetunion, die in Ostdeutschland/Osteuropa im Interesse der Arbeiterklasse zu handeln vorgab. Mitwirken durfte daran nur, wer sich in die durch die Besatzungssituation vorgegebenen Machtverhältnisse einbringen konnte.

Ein wenig klassenbewusster Teil der Linken wird in dieser Lage zu einer geostrategischen Sichtweise verleitet, in dem kapitalistischen Westen aufgrund eigener Interessenlage als Gegner gegenübertretenden Großmächten wie Russland, China, Indien, kurz: den BRICS-Staaten schon wegen dieser Konstellation potentielle „Verbündete“ zu sehen. Dies wurde etwa deutlich in einer Veranstaltung der Hanauer Friedensplattform mit dem bekannten linken Publizisten Werner Rügemer. Ein klassenbewusster Gewerkschafter trat dagegen auf und erinnerte daran, dass Deutschland, aber auch alle anderen im Ukrainekrieg verwickelten Staaten Klassengesellschaften sind. Im Interesse der Lohnabhängigen müssen in erster Linie die Waffen schweigen und Verhandlungen aufgenommen werden. Es war der gleiche Gewerkschafter, der in einer Delegiertenversammlung der IG Metall Hanau/Fulda im März eine Resolution eingebracht hatte, die in diesem Sinne argumentiert: „Die Gewerkschaften müssen sich unüberhörbar für Friedensfähigkeit statt ‚Kriegstüchtigkeit‘ einsetzen, für Abrüstung und Rüstungskontrolle, Verhandlungen und friedliche Konfliktlösungen (Auszug aus dem Beschluss).“ Der Text wurde mit Zwei-Drittel-Mehrheit angenommen in einer Zeit, in der der Hauptvorstand der IG Metall nichts Besseres zu tun hat als gemeinsam mit dem SPD-Wirtschaftsforum und dem Unternehmerverband der Rüstungsindustrie BDSV ein Positionspapier zu unterzeichnen, in dem Aufrüstung und „Kriegstüchtigkeit“ gefordert werden.

Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte vom Faschismus schweigen,“ lautet der berühmte Ausspruch von Max Horkheimer. Er bedeutet, dass Faschismus, wenn er auch aus kapitalistischen Verhältnissen nicht zwangsläufig entstehen muss, so doch in jedem Fall in diesen seine Grundlagen hat. Im Interesse der Arbeiterklasse hätte also einer „Entnazifizierung“ auch eine Transformation der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zum Sozialismus folgen müssen. Dies geschah im Westen bekanntlich nicht, im Osten durch autoritäre Lenkung von oben.

August Thalheimer hat in seiner Broschüre „Grundlinien und Grundbegriffe der Weltpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg“ von 1946 die internationale Lage unmittelbar nach Kriegsende so beschrieben: 1. das relativ einheitliche Lager der imperialistischen Siegermächte unter der Vormachtstellung der USA, 2. das von der Sowjetunion geführte sozialistische Lager, 3. die Halb- und Vollkolonien als „(wenn auch rebellische) Unterwelt der Weltpolitik„. Diese Situation hat ca. vier Jahrzehnte gehalten. Aber der sozialistische Block ist als solcher untergegangen. Er hätte nur verteidigt und weiterentwickelt werden können, wenn a) die überwältigende Mehrheit der Arbeiterklasse dahinter gestanden hätte, er also ein demokratischer Sozialismus gewesen wäre; b) ihm kein materiell überlegener Imperialismus gegenüber gestanden hätte, sondern in den westlichen Staaten durch eigenständige revolutionäre Kräfte der Übergang zur sozialistischen Transformation angegangen worden wäre. Wir wissen, dass es nicht so war. Geschichte lässt sich nicht umschreiben.

Die „(wenn auch rebellische) Unterwelt der Weltpolitik“ hat sich inzwischen weiter entwickelt. Sie zeigt – an der Spitze, wenn auch nicht als einheitliches Lager, die BRICS-Staaten -, dass die Dominanz des US-geführten Westens an engere Grenzen stößt. Perspektivisch, also in historisch langfristiger Sicht ist bisher noch jede Hegemonialmacht (wie z. B. das britische Weltreich) an ihr Ende gekommen.

Die Arbeiterbewegung und die antikapitalistische Linke haben einen schweren Rückschlag erlitten, von dem sie sich bisher noch nicht erholt haben. Die „Zeitenwende“ der frühen 1990er Jahre hat schließlich dazu geführt, dass wir heute wieder in einer hochgefährlichen Kriegslage leben. Die „Befreiung vom Faschismus“ war ein wichtiges historisches Ereignis, eine ambivalente Ausgangslage für den Kampf um die Verbesserung der politischen Rechte und der Lebensbedingungen der Lohnabhängigen, aber von einem „Tag des Sieges“ sollte man nicht sprechen, sondern von Aufgaben, die vor uns liegen.

13.5.2024


 

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