In Hanau fand am 30. Januar die nun schon in vielen Städten Deutschlands übliche Kundgebung gegen Rechts statt. Mindestens 3000 Menschen sollen es laut Auskunft der Polizei gewesen sein, der (nicht allzu große) Marktplatz war gut gefüllt. Viele Aktivist:innen hat das jedoch enttäuscht: In Hanau hätte mehr drin sein müssen. Veranstalter war der DGB. Unterstützung bekam er vom politischen Spitzenpersonal der Stadt und des Main-Kinzig-Kreises, den Parteien, den Kirchen, der AWO, ferner Gruppen wie „Initiative 19. Februar“ und „Bildungsinitiative Ferhat Unvar “ (also die Organisationen, die sich der Aufarbeitung der rassistischen Morde vom 19. Februar 2020 widmen), DIDF-Jugend und „Internationaler Jugendverein Hanau“ (letzterer ist entstanden aus der Zielsetzung der DIDF-Jugend, Interessenvertretung migrantischer Jugendlichen in Deutschland auf eine breitere Grundlage zu stellen als nur die hier wohnhafte „türkisch-stämmige“ Jugend, die von DIDF angesprochen wird).
Das Publikum auf dem Marktplatz war sehr gemischt. Die Kundgebung lässt sich wohl am besten verstehen durch die Inhalte der Reden, soweit sie in Kürze hier zusammengefasst werden können. Ein „Schönheitsfehler“ war natürlich die Einbindung durch die Rede von Oberbürgermeister Kaminsky am Anfang und Landrat Stolz am Ende, denn die hatten schlicht drauf: Hanau steht zusammen, Grundgesetz, Artikel 1 („Die Würde des Menschen ist unantastbar“), in Hanau ist kein Platz für Nazis (die letzten hessischen Landtagswahlen strafen dies Lügen, die nächsten Europa- und Kommunalwahlen werden uns das ebenfalls mitteilen). Insgesamt gab es acht Beiträge. Die Kundgebung begann um 17.30 Uhr und endete etwa zwei Stunden später.
Aus der von der „Gemeinsamkeit der Demokrat:innen“ usw. bestimmten Tonlage stachen wohltuend heraus die Reden von Cetin Gültekin (Initiative 19. Februar), Tobias Huth (Regionsgeschäftsführer des DGB Südosthessen seit dem inzwischen erfolgten Wechsel von Tanja Weigand zur IG Metall, die noch im Juni 2023 die Hanauer Friedenskonferenz mit organisiert hatte, vgl. Arbeiterpolitik 3/2023) und von Berrin und Dennis von der DIDF-Jugend bzw. dem Internationalen Jugendverein.
Cetin Gültekin, Bruder des am 19. Februar 2020 ermordeten Gökhan Gültekin, ging selbstverständlich auf Rassismus und seine mörderischen Folgen ein. Der Mörder von Hanau sei kein Einzeltäter gewesen, sondern durch die AfD und Konsorten ermutigt worden. Insofern habe die AfD am 19. Februar mitgeschossen. Zu deren Idee der „Remigration“ sagte Gültekin: „Vielleicht sollten alle Migrant:innen einmal für zwei Wochen ihre Arbeit niederlegen. Wer kehrt dann die Straßen? Wer holt den Müll? Wer pflegt Alte und Kranke?“ Mit diesen Beispielen ist die Bedeutung der Menschen „mit Migrationshintergrund“ in einer Stadt wie Hanau natürlich weit untertrieben. Die letzte Statistik mit Stand vom 31.12.2023 weist aus: Deutsche 73528, EU-Bürger:innen 11790, sonstige „Ausländer:innen“ 20828 (insgesamt soll es in Hanau 140 Nationalitäten geben), zusammen 106146. Darunter gibt es selbstverständlich in allen drei ausgewiesenen Bevölkerungsgruppen von Hilfs- bis Fachkräften alles, was die Gesellschaft braucht. In einer politwissenschaftlichen Analyse würde man das so darstellen. Aber die Rede von Cetin Gültekin muss verstanden werden aus der Betroffenheit und dem Wunsch, die Verhältnisse anschaulich zu machen und so zu ihrer Veränderung beizutragen.
Am Ende seines Beitrags rief er dazu auf, sich an der zum 17. Februar 2024 bundesweit geplanten Demonstration zum vierten Jahrestag (vorgezogen auf den Samstag) der rassistischen Morde in Hanau zu beteiligen.
Die dritte Rede (nach Kaminsky und Gültekin) hielt Tobias Huth als Veranstalter selbst. Er ließ sich nicht auf das Gerede der „Gemeinsamkeit der Demokraten“ etc. ein, sondern beschäftigte sich mit den sozialen und politischen Verhältnissen von einem linksgewerkschaftlichen Standpunkt aus. Er analysierte die Politik der AfD als eine, die genau diejenigen verrät, die sie zu vertreten vorgibt. Er führte u. a. aus:
„Die AfD will eine Partei der kleinen Leute sein. Doch sie vertritt eben nicht die Interessen der Beschäftigten. Weder hat diese Partei Konzepte noch Lösungen für die gesellschaftlichen Krisen des 21. Jahrhundert.
Gute Löhne, sichere Arbeit, bezahlbare Wohnungen, gute Bildung und Sicherheit im Alter – das sind zentrale Eckpfeiler für ein sicheres und planbares Leben. Ein finanziell gut aufgestellter Sozialstaat und Gewerkschaften, die die Interessen der Beschäftigten durchsetzen, sind dafür Voraussetzung. Von der AfD haben Beschäftigte jedoch in allen Bereichen nichts zu erwarten.
Dem Anstieg des Mindestlohns auf 12 Euro hat die AfD 2022 im Bundestag nicht zugestimmt, weil ‚die politische Anhebung des Mindestlohns den Markt außer Kraft setze‘.
Ob Lohnsteigerungen, Tarifbindung, soziale Sicherheit oder Arbeitnehmer:innenrechte – die AfD bietet keine Lösungen an. Im Gegenteil, sie vertritt in arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Belangen eine neoliberale Politik. Die Folge: Weniger Fairness auf dem Arbeitsmarkt und weniger soziale Absicherung für Beschäftigte.
Auch die Ausweitung des Streikrechts, wurde von ihr im Bundestag abgelehnt. Auch mehr Tarifverträgen stellt sie sich in den Weg.
Als im Bundestag während der Corona-Pandemie über eine Sonderprämie für Beschäftigte in sogenannten systemrelevanten Berufen gesprochen wurde, war es die AfD, die das ablehnte. Die Begründung: Es sei unklar, wie das finanziert werden solle. Die AfD war nicht bereit, den großen Einsatz von Verkäufer:innen, Pflegepersonal oder Erzieher:innen während der Pandemie zu würdigen.
Ganz anders agiert die AfD, wenn es um eine Besteuerung von Spitzenverdiener:innen und sehr großen Vermögen geht. Hier stimmen die AfD-Parlamentarier:innen für Steuerentlastungen und gegen jeden Vorstoß, Reichtum stärker zu besteuern. Den Staat und damit auch die sozialen Sicherungssysteme will die AfD finanziell ausbluten: Die sogenannte Schuldenbremse, die in Wahrheit eine Bremse für Zukunftsinvestitionen ist, wird von niemandem im Bundestag so vehement verteidigt wie von der AfD.
Auch bei der Frage nach bezahlbarem Wohnen steht die Partei klar aufseiten der großen Wohnungskonzerne: Jeder Vorschlag zu einer möglichen Mietpreisbremse wurde von ihr im Bundestag abgelehnt.
Zur Rentenfrage hat die AfD auch keine Lösungsansätze. Sie lehnt ein höheres Rentenniveau ab und will es sogar noch weiter absenken. Würde die AfD Millionen Menschen aus dem Arbeitsleben abschieben – wie sie offenbar plant – dann zahlen auch weniger Menschen Rentenbeiträge. Ein sinkendes Rentenniveau wäre bei der AfD zwangsläufig die Folge. Stattdessen sollen nach dem Willen der AfD die Menschen einfach mehr privat vorsorgen. Wie die Beschäftigten sich das leisten sollen, lässt die Partei offen.
Außerdem schließt die AfD nicht aus, alle immer länger arbeiten zu lassen. Für Ärmere mit harter Arbeit bedeutet das eine Rentenkürzung: Sie sterben früher und beziehen daher kürzer Rente, wenn das Rentenalter steigt. Wer früher in Rente geht als mit 67, muss nach dem Willen der AfD weiter hohe Abschläge in Kauf nehmen. Die AfD will außerdem über 15 Milliarden Euro jährlich aus der Rentenkasse plündern, um eine Gebärprämie zu zahlen. Welche Familien eine solche Prämie bekommen sollen, entscheidet sich danach, ob sie der AfD deutsch genug ist.“
Zu den sozialpolitischen Aussagen der AfD schrieben wir einen Artikel in Arbeiterpolitik 3/4 2020 „AfD und soziale Frage“
Nun könnte hier die Frage kommen: Wie sieht es eigentlich bei etlichen dieser Themen mit den Positionen der CDU/CSU oder der Ampel aus? Das war aber eben nicht die Frage dieses Teils seiner Rede, sondern die Auseinandersetzung mit der AfD. Der Vorzug dieser Themen gegenüber den abstrakten staatspolitischen Reden der kommunalen und kirchlichen Vertreter:innen war die Fokussierung auf die Sozialpolitik. Der Widerspruch zwischen den sozialdemagogischen Verheißungen der AfD und der Realität im Abstimmungsverhalten wurde klar angesprochen, dazu auch immer wieder die Seite, auf die sich alle einigen können: der Rassismus der AfD.
Aber im zweiten Teil der Rede kam auch zum Ausdruck, dass ein Gewerkschaftssekretär in der Position wie Tobias Huth Konzessionen machen muss an die Differenziertheit der gewerkschaftlichen Basis, an übergeordnete Instanzen im Gewerkschaftsapparat, an bündnispolitische Konstellationen und schließlich die örtliche kommunalpolitische Machtverteilung. Kritik an der Ampel-Regierung fiel daher verhalten aus, aber durchaus hintergründig. Er brachte zunächst einige Forderungen:
„Was wir viel mehr brauchen, sind gute Perspektiven für alle Menschen. Gute Arbeitsplätze und bezahlbarer Wohnraum. Dafür muss sich auch die Politik ändern. Die neoliberale Schuldenbremse gehört abgeschafft. Sie ist kein Instrument um Schulden zu vermeiden, sondern verhindert Investitionen in die Zukunft unseres Landes. Wir müssen unsere Kommunen zukunftsfest machen. Wir brauchen das Geld, um die Digitalisierung unseres Gemeinwesens voranzubringen. Wir brauchen das Geld, um die Krankenhäuser in Stadt und Land so gut auszustatten, damit alle Menschen im Krankheitsfall gut versorgt werden können. … Auch hier in Hanau und im Main-Kinzig-Kreis gibt es zu wenige bezahlbare Wohnungen für Normalverdiener. Weiterhin haben wir große Probleme mit der sozialen Infrastruktur. Viele Menschen, die gern mehr arbeiten würden, können es nicht, da es an Kitaplätzen fehlt.“
Dann folgte die Kritik an der Regierungspolitik: „Wenn dann gesagt wird, dafür ist kein Geld da, muss man sich nur die sogenannten Sondervermögen ansehen. Die Milliarden Euro dort dürfen nicht in Aufrüstung, sondern müssen in soziale Projekte gesteckt werden. Das Geld muss dorthin fließen, wo es den Menschen hilft.
Alle diese Missstände gibt es nicht erst seit zwei Jahren. Deshalb ist es auch falsch, sie alle der aktuellen Regierung anzulasten. Es sind vielmehr seit zwei Jahrzehnten die falschen Prioritäten gesetzt worden.“
Der direkte und offensichtliche Angriff auf die Ampel wurde vermieden durch den Hinweis auf die letzten zwanzig Jahre. Falsch ist das natürlich keineswegs: Mit dem Bezug auf die seitherige Reihenfolge von Rot-Grün, Schwarz-Rot, Schwarz-Gelb und nochmal Schwarz-Rot sind alle Parteien der „bürgerlichen Mitte“ im Boot. Trotz einer gewissen Begrenztheit, die wir feststellen müssen, ist es doch wichtig, dass ein Gewerkschaftsvertreter die Interessen der Lohnabhängigen anspricht statt der abstrakten und vor allem – im klassenpolitischen Sinne, der allein nur unser Maßstab sein kann – unrealistischen „Gemeinsamkeit der Demokraten“.
Bemerkenswert und weitgehend in die gleiche Richtung zielend war auch der Beitrag vom Internationalen Jugendverein, der sich klar und deutlich gegen Sozialabbau, Hochrüstung und Kriegspolitik ausgesprochen hat.
F/HU, 1.2.2024
Beim diesjährigen vierten Gedenken an die Opfer der rassistischen Morde in Hanau am 19. Februar 2020 kam es zur Zweiteilung der Veranstaltungen. Die Angehörigen, unterstützt von der Initiative 19. Februar, wollten sich die Regie nicht aus den Händen nehmen lassen. Das bedeutete: Möglichst keine Transparente und Aktionen politischer Gruppierungen, keine Vordergrundpräsenz für die Vertreter:innen staatlicher und kommunaler Politik.
Am 19. Februar 2024 selbst gab es daher nur eine stille Gedenkfeier an den Gräbern von Ferhat Unvar, Hamza Kurtovic und Said Nesar Hashemi am Hanauer Friedhof (die Namen der sechs anderen, die anderswo begraben liegen, sind auf steinernen Tafeln genannt). Nur der Imam sprach ein Friedensgebet. Die Politiker:innen -darunter der Oberbürgermeister, der Landrat, der hessische stellvertretende Ministerpräsident und Bundesinnenministerin Faeser- mussten derweil an der Trauerhalle warten, zu der später der Trauerzug ging. Einer der Väter, Armin Kurtovic, machte klar, dass aus seiner Sicht die Politiker:innen gar nichts in der Veranstaltung zu suchen hätten. Faeser gab abseits der Feierlichkeiten zu Protokoll, dass die Migrant:innen in Deutschland sich auf den Staat verlassen könnten, wenn zur Zeit die Sprüche über „Remigration“ überhand nähmen – auf den Staat also, der auf solche Bestrebungen bereitwillig eingeht: Das „Rückführungsverbesserungsgesetz“, die „Bezahlkarte“ sind nur Beispiele dafür, unerwünschten Asylsuchenden das Leben hierzulande schwerzumachen, anschließend mit dem Finger auf angeblich integrationsunwillige Migrant:innen zu zeigen.
Diesem in Teilen erbärmlichen Schauspiel war am 17. Februar, einem Samstag, eine mächtige Demonstration vorangegangen. Die Angehörigen und die Initiative 19. Februar hatten sie geplant und bundesweit dafür mobilisiert. Sie fiel aufgrund dieses Bezugsrahmens deutlich größer aus als der Anti-AfD-Protest des DGB und der kommunalen Parteien am 30. Januar; die Schätzungen der Polizei und der Medien spannten sich von 5000 bis 8000 Teilnehmer:innen. Der Zug ging vom ersten Tatort am Kurt-Schumacher-Platz zum zweiten am Heumarkt und dann zur Abschlusskundgebung am Marktplatz. Auch in diesem Zug hatten die Veranstalter:innen darum gebeten, keine politischen Transparente mitzuführen. Das mag auf den ersten Blick unverständlich erscheinen. Man sollte jedoch verstehen, dass es sich bei der Gruppe der Angehörigen nicht um eine politische Organisation, sondern um einen Kreis von diesen schrecklichen Ereignissen Betroffener handelt, die zunächst einmal nur dadurch zusammengeführt wurden. Dementsprechend gibt es unter ihnen differenzierte Art und Weise der Verarbeitung, die respektiert werden muss, und unterschiedliche politische Konsequenzen. Die Initiative 19. Februar ordnet sich darin offenbar so ein, dass sie den Angehörigen die Bestimmung des Vorgehens bei diesem Gedenken überlässt.
Der Ärger der Angehörigen über die Politik der Kommunen, des Landes Hessen und des Bundes ist bekannt: Sie bezieht sich insbesondere auf die mangelnde Aufarbeitung der Mordnacht (die Erreichbarkeit der Polizeiwache, der verschlossene Notausgang in der Arena-Bar usw.), die Ermittlung und Bestrafung von Verantwortlichen („Keine Gerechtigkeit ohne Konsequenzen“) sowie gegenwärtig immer noch den mangelnden Schutz vor der Gefährdung durch den anhaltenden Psychoterror des Vaters des Attentäters vor allem für Serpil Unvar, die eine Bildungsinitiative gegründet hat.
Im Anschluss gebe ich hier noch einmal die Links zu den Artikeln der Arbeiterpolitik über diese Ereignisse:
https://arbeiterpolitik.de/2020/04/die-morde-in-hanau-und-ihr-hintergrund/
https://arbeiterpolitik.de/2021/02/gedenken-in-hanau-an-die-rassistischen-morde-vor-einem-jahrdie-angehoerigen-der-opfer-kaempfen-um-aufklaerung/
https://arbeiterpolitik.de/2022/03/gedenken-an-die-rassistischen-morde-in-hanau-am-19-februar-2020kein-vergeben-kein-vergessen/
https://arbeiterpolitik.de/2022/06/erinnerung-gerechtigkeit-aufklaerung-und-konsequenzen/