Gedenken in Hanau an die rassistischen Morde vor einem Jahr
Die Angehörigen der Opfer kämpfen um Aufklärung

Korrespondenz

Jugenddemo zum Jahrestag der Rassistischen Morde in Hanau – 19.02.2021
Quelle: Fototeam Hessen e. V. / Reiner Kunze

Neun Menschen wurden am 19. Februar 2020 in Hanau ermordet, allein weil sie einen ‚Migrationshintergrund‘ hatten, danach erschoss der Täter seine bettlägerige Mutter und sich selbst. Dieses Massaker hat die Stadt schwer getroffen.“ So begannen wir unsere Berichterstattung zu „Die Morde in Hanau und ihr Hintergrund“ in Arbeiterpolitik Nr. 1/2, 2020, S. 10 ff. Das Entsetzen war groß und berechtigterweise bundesweit. Auch eine multikulturelle Stadt wie Hanau, in der 160 Nationalitäten leben, war vor solchen Exzessen rassistischer Täter offenbar nicht sicher. Aber auch die Gegenwehr ist da. Noch immer hängen am zentralen Denkmal der Brüder Grimm am Marktplatz die mit Blumen geschmückten Bilder der Getöteten, ebenso an den beiden Schauplätzen der Taten, dem Heumarkt in der Innenstadt und dem Kurt-Schumacher-Platz im Stadtteil Kesselstadt. Ein CDU-Politiker hatte vergeblich gefordert, diese „endlich“ zu entfernen und dem Denkmal seinen „ursprünglichen Charakter“ zurückzugeben, denn die Brüder Grimm hätten ja mit der schrecklichen Tat nichts zu tun, auch dürfe das Image der Stadt nicht auf ewig darunter „leiden“. Von Äußerungen der AfD ist hier ganz zu schweigen. Die Angehörigen der Opfer und ihre UnterstützerInnen aber lassen sich davon nicht beirren. Sie fordern von der hessischen Politik und Justiz lückenlose Aufklärung der Zusammenhänge, der Hintergründe und des Versagens der Behörden und der Polizei sowie der Rolle des Vaters des Attentäters, der in Kesselstadt weiter Drohungen gegen die Angehörigen und andere ihm missliebige BewohnerInnen des Stadtteils ausstößt. Die „Initiative 19. Februar Hanau“ hat mit der Anmietung eines Zentrums nahe dem Heumarkt und der Einrichtung einer Internetseite eine Anlaufstelle für den Austausch und die Koordinierung der Auseinandersetzungen geschaffen.

Die Kundgebungen am Tag des Gedenkens

Im vergangenen Jahr war eine bundesweite Gedenkkundgebung am 22. August am Hanauer Freiheitsplatz noch an einem Verbot der Stadt wegen der Corona-Pandemie gescheitert, dann auf eine Präsenz von 249 Menschen und strengen Auflagen reduziert worden. Am 19. Februar 2021 gab es zahlreiche Veranstaltungen, Aktionen und Transparente von Gewerkschaften, Parteien, Bürgerinitiativen, Firmen, Schulen, Kitas. Der DGB Südosthessen lud zur Kundgebung vor dem Gewerkschaftshaus ein, wollte diese aber wegen der Corona-Bestimmungen auf 10 Teilnehmende beschränkt sehen. Es kamen etwa fünfzig. Nach der Eröffnung vor dem Gebäude ging es im Rahmen eines (allerdings recht kurzen) „antifaschistischen Stadtrundgangs“ als erstes zur nahegelegenen jüdischen Gettomauer. In Hanau gibt es nur wenige der bekannten messingfarbenen Stolpersteine. Gedenktafeln dieser Art sind hier vielmehr in grauer Farbgebung in die Reste der Mauer eingelassen. Ein Redebeitrag klärte über Geschichte und Bedeutung des jüdischen Viertels in Hanau auf.

Die nächste Station war der Freiheitsplatz. Hier referierte eine Mitverfasserin des „Antifaschistischen Stadtführers“ des DGB Südosthessen (Fassung von 2016, s. Arbeiterpolitik 1/2 2020, S. 32) über die Geschichte der Arbeiterbewegung in der Stadt mit der in Hessen frühesten Industrialisierung im 17. Jahrhundert, den Kämpfen in den Revolutionen von 1848 und 1918, der starken Stellung von KPD und SPD in der Kommunalpolitik, schließlich der Zerschlagung der Arbeiterorganisationen durch die Nazis ab 1933 und den Verfolgungen der Kommunisten, Sozialdemokraten, jüdischen Menschen u. a. Der Freiheitsplatz wurde zum Zentrum der „Maifeierlichkeiten“ des faschistischen Regimes und erhielt in dieser Zeit den Namen zurück, den er in der Kaiserzeit getragen hatte: „Paradeplatz“. Im nahegelegenen „Behördenhaus“ (heutigen Finanzamt) nahm die Gestapo ihre Residenz, ihr Folterkeller wurde der „Fronhof“ der früheren Hanauer Grafen in der Altstadt.

AktivistInnen der Initiative 19. Februar hatten Straßennamen mit den Namen von Getöteten provisorisch umbenannt
Quelle: Fototeam Hessen e. V. / Reiner Kunze

Anschließend ging es zum Marktplatz, danach zum Heumarkt. Hier hatten AktivistInnen der Initiative 19. Februar Straßennamen mit den Namen von Getöteten provisorisch umbenannt. Der DGB legte einen Kranz nieder. Die Regionsgeschäftsführerin des DGB Südosthessen, Tanja Weigand, erklärte: „Die rassistisch motivierten Morde an unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Hanau erfüllen uns mit Abscheu und Entsetzen. Wir trauern um die Opfer. Unser Mitgefühl gilt den Familien und Freunden, die geliebte Menschen verloren haben. Wir wollen heute ein Zeichen gegen das Vergessen setzen und mahnen.“ Der Vorsitzende des DGB Hessen-Thüringen, Michael Rudolph, forderte, eine Antirassismus-Klausel in die hessische Verfassung aufzunehmen. Parallel dazu gibt es Bestrebungen, den Begriff „Rasse“ in Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes durch eine Formulierung zu ersetzen, die Rassismus in Wort und Tat unter Strafe stellt.

Respekt-Schild-Enthüllung am Gewerkschaftshaus
Quelle: Fototeam Hessen e. V. / Reiner Kunze

Der letzte Akt der DGB-Kundgebung war die Rückkehr zum Gewerkschaftshaus, um dort gut sichtbar eine Tafel „Respekt! Kein Platz für Rassismus!“ zu enthüllen.

Jugenddemo zum Jahrestag der Rassistischen Morde in Hanau – 19.02.2021
Quelle: Fototeam Hessen e. V. / Reiner Kunze

Ab 15.00 Uhr fand am Marktplatz eine Gedenkkundgebung statt, zu der mehrere Gruppen und Verbände aufgerufen hatten, darunter die Initiative 19. Februar, DIDF, Fridays for Future, IG-Metall-Jugend und viele andere. Der Titel der Veranstaltung war: „Kein Vergeben – kein Vergessen – gemeinsam gegen Rassismus!„. Es kamen mehrere hundert Menschen. Viele trugen Schilder und Spruchbänder mit den Namen der Getöteten und Forderungen nach Aufklärung der Hintergründe der Verbrechen. Auf einem Transparent waren zwei Gedichtzeilen des getöteten Ferhat Unvar zu lesen: „1945 schrie ein Land: ‚Mit uns nie wieder!‘ Plötzlich gibt’s die AfD, besorgte Bürger und Pegida.“ Seine Mutter, Serpil Unvar, hat inzwischen eine Bildungsinitiative gegründet, mit der Aufklärung über Rassismus und die Lebensumstände rassistisch diskriminierter Menschen in Deutschland mit praktischen Hilfestellungen und Beratungen verbunden werden sollen. Sie ist damit ein Beispiel dafür, dass die Angehörigen der Opfer nicht resignieren, sondern den Kampf aufnehmen. Sie sagen: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.

Jugenddemo zum Jahrestag der Rassistischen Morde in Hanau – 19.02.2021
Quelle: Fototeam Hessen e. V. / Reiner Kunze

Im Kongress-Center der Stadt sprach Bundespräsident Steinmeier, seine wichtigste Aufgabe als „Staatsoberhaupt“ erfüllend, nämlich an den Zusammenhalt der Klassengesellschaft zu appellieren. „Er sei nach Hanau gekommen, weil es ihn bedrücke, ‚dass unser Staat sein Versprechen von Schutz, Sicherheit und Freiheit‘ nicht habe einhalten können. Gleichzeitig warb Steinmeier um Vertrauen in diesen Staat. Um dieses Vertrauen zurückzugewinnen, müsse der Staat Aufklärung und Aufarbeitung leisten„, so die Frankfurter Rundschau in ihrer Berichterstattung über diesen „offiziellen“ Teil des Gedenkens. Die Erfahrungen der Angehörigen sprechen eine andere Sprache.

Auseinandersetzungen um antirassistische Aufklärung

Was bleibt, sind die Trauer um die Ermordeten, das Mitgefühl für die Angehörigen, der tiefe Schock über das Grauen und die politischen Forderungen: restlose Aufklärung, Schutz gegen weitere Gefährdungen/Bedrohungen, Konsequenzen in Politik und Gesellschaft.

Jugenddemo zum Jahrestag der Rassistischen Morde in Hanau – 19.02.2021
Quelle: Fototeam Hessen e. V. / Reiner Kunze

Der erste Fragenkomplex dreht sich um den Attentäter selbst. Seine rechtsextreme Verschwörungsideologie war den Behörden bekannt. Er hatte z. B. wirklichkeitsferne Anzeigen an die Staatsanwaltschaft Hanau, sogar bis an die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe geschaltet, in denen von Ausländerkriminalität, Bedrohung Deutschlands durch innere und äußere Feinde die Rede war. Es mag viele Menschen in der BRD geben, die solche Gedanken hegen, doch nicht alle verfolgen sie mit einer Hartnäckigkeit, die an den Norweger Anders Breivik erinnert. Bei dem späteren Attentäter wurde 2002 Schizophrenie festgestellt, die zu vorübergehender Zwangseinweisung führte. Warum, so die Frage, bekam so jemand ohne Überprüfung einen Waffenschein und auch die entsprechende Verlängerung? Für die Erteilung eines Waffenscheins sollten besondere Vorsichtsmaßnahmen gelten.

Dies führt zum nächsten Komplex. Dem Attentäter kann man keinen Prozess mehr machen, er ist tot. Sippenhaft darf es natürlich nicht geben. Aber was ist mit dem konkreten Verhalten seines Vaters, jetzt, nach dem Attentat, aber auch vorher? Er tickt auf der gleichen Wellenlänge. Er fordert von der Staatsanwaltschaft die Rückgabe der Waffen seines Sohnes, die Freischaltung der Internetseite seines Sohnes, eine Anklageerhebung gegen die Angehörigen der Opfer und ihre UnterstützerInnen wegen „Volksverhetzung“. Er wohnt im selben Stadtteil mit einigen von ihnen, stellt also mit seinem Verhalten weiter eine Bedrohung für sie dar. Die „Gefährderansprachen“ von der Polizei bekamen aber nicht er, sondern einige der Angehörigen: Sie sollten „keine Rache üben“ (auch dies eine rassistische Provokation). Ungeklärt ist hier, wie das „nachbarschaftliche“ Leben weitergehen soll. Ist der Vater vielleicht der eigentliche „spiritus rector“ (Stichwortgeber) des Sohnes, der selbst nur durch sein Alter (73) an der Ausführung der Tat gehindert war?

Jugenddemo zum Jahrestag der Rassistischen Morde in Hanau – 19.02.2021
Quelle: Fototeam Hessen e. V. / Reiner Kunze

Der dritte Punkt ist das Behördenversagen. Einer der später Getöteten, Vili Viorel Paun, hatte den Attentäter in der Tatnacht am Heumarkt beobachtet, hatte ihn mit seinem Auto bis zum Kurt-Schumacher-Platz verfolgt und dabei dreimal die Polizeiwache in Hanau angerufen. Niemand dort hob ab. Der Attentäter bemerkte schließlich seinen – unbewaffneten – Verfolger und erschoss ihn. Wäre Vili Viorel Paun noch am Leben, wenn die Polizeiwache reagiert, ihm von der Verfolgung abgeraten hätte und selbst gerade noch rechtzeitig erschienen wäre, um wenigstens die Morde in Kesselstadt zu verhindern? Der hessische Innenminister sprach später nichtsdestotrotz von „hervorragender Polizeiarbeit“.

Ein weiterer Punkt war, dass in einer der Gaststätten der Notausgang verschlossen war, auf „Anregung“ der Behörden, um bei Razzien das Entkommen zu verhindern. Fragen über Fragen.

Das alles führt natürlich zu der übergreifenden Frage nach den Hintergründen des Rassismus in Deutschland. Es geht nicht nur darum, Sicherheitsbehörden mit Geld, Personal, Schulung etc. zu ertüchtigen, solche Gewalttaten zu verhindern oder wenigstens konsequenter zu verfolgen. „Es muss demnach das nachgeholt werden, was seit 1945 nur bedingt vollzogen wurde: die Entnazifizierung der Behörden und Institutionen und der Ausbau eines antirassistischen Bildungs- und Kulturbereichs“ (Neues Deutschland, 20.2.21; der Autor Timo Dorsch begleitete die Initiative 19. Februar seit ihrer Gründung durch Angehörige und Unterstützer im März 2020). Der Antirassismus kann nicht auf staatliche Verordnung warten, sondern muss selbst in die Hand genommen werden. Linke Parteien, Gewerkschaften, Initiativen, Verbände haben hier ihre Verantwortung, in die Gesellschaft, die Betriebe, die Bildungseinrichtungen usw. zu wirken.

HU, 21.2.2021


Nachtrag

Seit dem 19. März sind die Bilder, Blumengestecke und Kränze am Brüder-Grimm-Denkmal nicht mehr zu sehen. Die Angehörigen selbst haben sie zurückgenommen, nachdem sie sich in einem Offenen Brief für die Solidarität in der Bevölkerung bedankt haben. Zugleich haben sie bekräftigt, dass sie ihre Forderungen nach restloser Aufklärung der Verbrechen und ihrer Hintergründe sowie den Kampf gegen den Rassismus aufrechterhalten werden. Dazu gehört auch die angestrebte Einrichtung eines zentralen Mahnmals.

Der 19. März ist in Hanau ebenfalls ein Gedenktag: Am 19. März 1944 wurde die Stadt durch Bombenangriffe zu 85 % zerstört. Dies war im lokalen Rahmen eine Folge des von dem NS-Terrorregime begonnenen Zweiten Weltkriegs und der notwendigen militärischen Befreiung Europas vom Faschismus.

HU, 30.03.2021

Hanau – 19.02.2021
Quelle: Fototeam Hessen e. V. / Reiner Kunze

aus Arbeiterpolitik Nr. 3 / 2021

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