ver.di mobilisiert gegen die Novellierung des Postgesetzes
Größte Arbeiterdemonstration seit Jahren

Korrespondenz

Quelle: privat

Als am Abend der Landtagswahlen von Hessen und Bayern die Vertreter der bürgerlichen Parteien in den Fernsehanstalten zum Ergebnis interviewt wurden, gaben sie nur einen Grund für die Verschiebungen im Parteienspektrum an. Die „Flüchtlingsfrage“ hätte dazu geführt, dass die Ampelkoalition verloren und die konservativen wie rechten Parteien Zugewinne erhalten hatten. Allein der Vertreter der Linken hielt wacker dagegen und meinte, die wirklichen Probleme der Menschen lägen bei der Wohnungsfrage, den prekären Beschäftigungsverhältnissen, dem zu geringen Mindestlohn und der hohen Inflationsrate.

Am nächsten Tag, dem 9. Oktober 2023, wurde offenbar, dass er Recht hatte. Der Fachbereich E von ver.di, der die Beschäftigten aus dem Post, Speditions- und Logistiksektor organisiert, hatte zu einer Kundgebung vor dem Brandenburger Tor aufgerufen. Erschienen waren 30.000 Beschäftigte der Post[1] aus der gesamten Republik. Kolleg:innen aus den Randbereichen der Republik hatten sich bereits um Mitternacht auf den Weg gemacht, um rechtzeitig in Berlin zu erscheinen. Sie befürchteten, dass die anstehende Novellierung des Postgesetzes ihre Arbeitsplätze gefährden könnte.

Eindrucksvoll war der Auftritt der drei Berliner Niederlassungen. Sie trafen sich bereits drei Stunden vor Beginn der zentralen Kundgebung am Neptunbrunnen nahe des Roten Rathauses. Nach den Reden der Betriebsratsvorsitzenden und der Vorsitzenden des Berlin-Brandenburger Fachbereiches, zogen die Beschäftigten überwiegend in ihrer Arbeitskleidung zum Brandenburger Tor.

Worum geht es?

Quelle: privat

Das aktuelle Postgesetz besteht seit 1998. Es definiert die Bedingungen für den Brief- und Paketverkehr in der Bundesrepublik, definiert die Pflichtleistungen für den Universaldienst und bestimmt, welche Voraussetzungen Unternehmen erfüllen müssen, um eine Lizenz zur privaten Brief- oder Paketbeförderung zu bekommen. Recht streng ist der Briefverkehr geregelt, deutlich liberaler der Paketbereich. Für beide Sparten ist die Post der Universalanbieter. D.h., sie ist verpflichtet, jeden Brief und jedes Paket zur Beförderung und Zustellung anzunehmen, das den standardisierten Vorgaben und den gesetzlichen Vorschriften entspricht.

Die Post hat gegenüber den sonstigen Dienstleistern den Vorteil, dass sie für ihre Leistungen keine Umsatzsteuer entrichten muss und ein gesetzlich garantiertes Recht auf Profit besitzt. Die Preise, die die Post für die Beförderung von Briefen und Paketen nehmen darf, werden von der Bundesnetzagentur so kalkuliert, dass das Unternehmen stattliche Gewinne einfahren und an die Aktionäre hohe Dividenden ausschütten kann. Dennoch unternimmt die Post alles, um die Kosten weiter zu senken und Extraprofite zu realisieren. So hat sie die Tariflöhne seit dem Jahre 2000 um über 35% für neueingestellte Beschäftigte gesenkt, Tausende von eigenen Filialen geschlossen und die früher von ihnen angebotenen Leistungen an private Unternehmen wie Lebensmitteläden, Tabakgeschäfte, etc. outgesourct. Ferner hat sie die Leerungshäufigkeit der Briefkästen herabgesetzt und fast alle Immobilien verkauft. Das Personal für den laufenden Betrieb wird so angesetzt, dass Sendungsspitzen, verzögerte Zuführungen oder hohe Krankheitsstände nicht aufgefangen werden können. Zustellverzögerung von mehreren Tagen sind die Folge.

Gezerre um die Änderung des Postgesetzes

Angesichts drastisch zurückgegangener Briefmengen fordert die Post schon seit Jahren, das Postgesetz den veränderten Bedingungen anzupassen. Nach ihren Vorstellungen sollte die Anzahl der Briefkästen wie die Zahl der Filialstandorte drastisch verringert werden. Sie schlug vor, die Zustelltage für Briefsendungen zu reduzieren und die kostenintensiven Transportaktivitäten einzuschränken.

Bereits 2017 hatte die Bundesregierung versucht, das Postgesetz zu novellieren. Doch nach langen Auseinandersetzungen scheiterte sie, weil sie zwischen den unterschiedlichen Interessengruppen keinen Konsens herstellen konnte. Kommunen und Länder beharrten auf den Erhalt eines universellen Postdienstes mit werktäglicher Zustellung und lokaler Präsenz der Post.

Die Parteien der Ampelkoalition verabredeten 2021 in ihrem Koalitionsvertrag erneut ein leistungsfähiges, modernes Postgesetz zu verabschieden, mit dem „sozial-ökologische Standards“ weiterentwickelt werden sollten.

Doch auch jetzt ging es zwischen den einzelnen Interessengruppen hin und her. Die Post war in diesem Durcheinander am besten organisiert und konnte ihre Interessen schnell in den Vordergrund stellen. So fanden sich ihre Vorstellungen im Eckpunktepapier des Wirtschaftsministeriums vom März 2023 wieder.

Ver.di blieb gelassen, schrieb eine Stellungnahme und verfolgte die Diskussion über das Eckpunktepapier von der Seitenlinie aus. Aufgerüttelt wurde der Fachbereich erst als der ehemalige Fachbereichsvorsitzende Büttner Anfang August 2023 mit einer Online-Petition die Initiative ergriff und im Netz gegen die Novellierung des Postgesetzes mobilisierte. Schnell kam eine fünfstellige Zahl von Unterstützern zustande. Auffällig viele Kommunalpolitiker hatten unterschrieben. Büttner konzentrierte sich nicht in seinem Aufruf auf die Bedrohung der postalischen Versorgung der Bürger.

Da eine Einschränkung der flächendeckenden Präsenz der Post und der Zustellhäufigkeit auch Folgen für die Arbeitsplätze haben würde, verstärkten sich in der Gewerkschaft die Fragen von Kolleg:innen, was denn ver.di tun werde, um einen Kahlschlag bei der Post zu verhindern.

Für Unruhe sorgte auch, dass die Arbeitsplatzsicherheit im Unternehmen nicht mehr gewährleistet war. Die Tarifverträge zum Rationalisierungsschutz und zum „Ausschluss der betriebsbedingten Änderungs- und Beendigungskündigungen“ waren Mitte des Jahres ausgelaufen und vom Unternehmen nur bis Jahresende verlängert worden. Ebenso drohte der schuldrechtliche Vertrag zum Verzicht auf die Fremdvergabe von Zustellbezirken und der Sicherung von Eigenbeschäftigung von Kraftfahrer:innen am Ende des Jahres auszulaufen und ohne Nachfolgeregelung zu bleiben. Schließlich stockten die Verhandlungen über einen Tarifvertrag zu den Arbeitszeitregelungen in der Zustellung. Die Verhandlungen darüber kamen auf Initiative der Post zustande. Einen Abschluss hatte sie mehrmals verhindert, weil sie kurz vor einer Einigung mit einem Katalog neuer unannehmbarer Forderungen aufwartete. Ver.di hatte daraufhin im Herbst 2023 die Gespräche abgebrochen.

Alles gerät in Bewegung

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In dieser verfahrenen Situation trat ver.di die Flucht nach vorn. Nach Ende der Sommerferien mobilisierte der Fachbereich zu einer Großkundgebung nach Berlin. Deklariert wurde dies als außerordentlicher Betriebsversammlung von Post und Paket.

Die Kundgebung brach überall die verhärteten Fronten auf. Im Bundestag gab es auf Antrag der Linken eine aktuelle Stunde zum Postgesetz, die alle Parteien zu einer Stellungnahme zwang. Aus ihnen war ablesbar, dass der Reformbedarf der Post als nicht sehr hoch beurteilt wurde. Lediglich die FDP und Teile der CDU wollten eine weitgehende Liberalisierung durchsetzen. Klar war aber auch ihnen, dass mit einer fast vollständigen Abschaffung der Regulierung des Postmarktes eine verlässliche Briefzustellung nicht mehr gewährleistet werden konnte.

Die Post realisierte, dass sie für die im Unternehmen anstehenden Fragen Lösungen anbieten musste, wollte sie nicht Ende des Jahres eine größere Auseinandersetzung mit ver.di um den Rationalisierungstarifvertrag und den Tarifvertrag zum Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen riskieren. Eine unsichere Situation über das Postgesetz konnte diesen Konflikt dynamisieren und zu einer längeren Zeit betrieblicher Unruhe führen.

Auch den Tarifvertag zur Arbeitszeit in der Zustellung wollte sie zeitnah abschließen. Eine Vereinbarung mit der Gewerkschaft hätte den Vorteil, dass kräftezehrende Auseinandersetzungen mit örtlichen Betriebsräten verhindert werden können wie auch spezielle Regelungen zum Auf- wie Abbau von Arbeitszeitkonten. In Arbeitszeitfragen sind deren Mitbestimmungsrechte relativ stark. Hier deckten sich ihre Interessen mit denen von ver.di. Noch in einem Drittel der Niederlassungen existieren sog. Rahmendienstpläne, die das tägliche Arbeitszeitende von der jeweiligen Zustellmenge abhängig machen. Wer früh mit der Zustellung der Briefe seiner Tour fertig ist, kann nach Hause gehen. Wer länger braucht, muss länger arbeiten. Lediglich die gesetzliche Höchstarbeitszeit von zehn Stunden beendet definitiv die tägliche Arbeitszeit. Überzeiten wurden nur in wenigen Ausnahmen geschrieben. Arbeitszeitkonten gibt es in diesem Model nicht. Dies widerspricht mittlerweile europäischem Recht und deutscher Rechtsprechung. Eine gesetzliche Reglung dazu ist in Arbeit.

Mitte November konnten alle offenen Verträge unterzeichnet werden. Ver.di hatte den Abschluss eines Tarifvertrages zur Arbeitszeitregelung in der Zustellung an eine Verlängerung der Tarifverträge zum Rationalisierungsschutz wie zum Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen und der Fortsetzung der Vereinbarung zur Fremdvergabe gebunden. Die Verträge zum Rationalisierungsschutz und zum Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen wurden bis Ende März 2027 verlängert, die Regelungen für die Fremdvergabe in der Zustellung und der Eigenbeschäftigung im Fahrdienst bis Ende 2026[2]. Der Tarifvertrag über die Arbeitszeit in der Zustellung enthält die Arbeitszeiterfassung in allen Niederlassungen, Arbeitszeit- wie Überzeitkonten für alle, und eine Regelung zur Rufbereitschaft an freien Tagen. Sie beträgt maximal zwei Stunden, ist freiwillig und wird vergütet.

Die Luft ist raus

Die Post war zufrieden, weil sie jetzt ungestört von gewerkschaftlichen Aktionen ihre Lobbyarbeit für ein Gesetz in ihrem Sinne fortsetzen konnte.

Auch ver.di zeigte sich erleichtert. Die drei Verträge schaffen für einige Jahre Sicherheit für die Beschäftigten. Kündigung und Änderungskündigungen aus betrieblichen Gründen sind ausgeschlossen, Schutzregelungen im Falle von Rationalisierungen oder Betriebsschließungen verlängert. Nunmehr war für den Fachbereich nicht mehr so wichtig was im Einzelnen im Postgesetz stehen würde.

Es blieben lediglich drei Punkte offen, die nach Auffassung von ver.di branchenweit noch geregelt werden mussten, ob durch das Postgesetz oder durch eine Verordnung war nicht erheblich.

Ver.di forderte, dass ein Zusteller Pakete von höchstens 20 kg befördern dürfe sowie eine Kennzeichnungspflicht für schwere Pakete einzuführen. Außerdem verlangte sie, dass kein Fremdpersonal bei Paketunternehmen wie beim Transport beschäftigt werden dürfe. Die Vergabe von Dienstleistungen an Subunternehmen solle genauso verboten werden wie der Abschluss von Werkverträgen. Damit diese Regelungen im Falle ihrer rechtlichen Durchsetzung auch umgesetzt werden würden, seien sie durch wirksame Kontrollen des Zolls abzusichern.

Die Initiative zu diesem Forderungskatalog ging vom Betriebsrätekongress der Post Anfang November aus. Ver.di übernahm die Punkte und startete eine Online-Kampagne, allerdings mit mäßigem Erfolg.

In dem Referentenentwurf, der Ende November 2023 veröffentlicht worden war, wurden diese Punkte nicht aufgenommen. Auch im folgenden Gesetzesentwurf waren sie nicht zu finden.

In einer Videokonferenz Anfang Januar verkündet die Fachbereichsvorsitzende Kocsis, dass ver.di von weiteren Großaktionen zum Postgesetz Abstand nehmen werde. Der Bestand des Universaldienstes sei durch eine auskömmliche Finanzierung im Gesetz gesichert.

Der Fachbereich wolle sich in den kommenden Wochen bis zur Verabschiedung der Novellierung auf die drei für den Paketbereich wichtigen Punkte konzentrieren, durch Ansprache von Bundestagsabgeordneten und sonstige Lobbyarbeit. Diese Aktivitäten schienen erfolgversprechend, da bereits im März 2023 der Bundesrat diese Forderungen unterstützt hatte. Anfang Dezember bekräftigten die Sozialminister:innen der Länder diese Haltung.

Die Laufzeitverlängerung für die Briefsendungen auf zukünftig bis zu vier Tage, die von vielen Kolleg: innen kritisch gesehen wurde, sah die Fachbereichsvorsitzende nicht als konfliktfähig an. In der Gesellschaft wie bei den Bundestagsparteien habe es dazu keinen Aufschrei gegeben. Ohne wichtige Bündnispartner könne man keine Kampagne zur Beibehaltung der alten Laufzeitregelung starten. Auch wenn es derzeit keine konkreten Planung gibt, so droht doch langfristig die Konzentration der Briefbearbeitung auf wenige regionale Briefzentren. Die Spezialmaschinen für die Sortierung der Briefe, die derzeit maximal vier Stunden am Tag eingesetzt werden, können gestaffelt über den Tag mehrere Niederlassungen bedienen. Auch dürften so erhebliche Transportkosten eingespart werden können.

Auch für die Verstaatlichung des Postsektors und die Integration des Unternehmens in ein aktualisiertes Konzept der Daseinsvorsorge sah Kocsis keine gesellschaftliche Basis. Die Haushaltslage des Bundes verhindere einen Aufkauf der Aktien.

 Was hat ver.di erreicht?

Ver.di gelang es mit der Mobilisierung zum Postgesetz zehntausende von Beschäftigten in Bewegung zu bringen. Sie baute ein Drohpotential auf, das ihr half, wichtige Tarifverträge und einen Vertrag so zu gestalten, dass sie für die Beschäftigten keine wesentlichen Nachteile enthalten. Außerdem feierte sie bei den Arbeitszeitregelungen einen kleinen Sieg über einen Teil der eigenen Betriebsräte, die bisher die Beschlüsse von ver.di zur Arbeitszeitfrage ignoriert hatten.

Mehr als die Verteidigung des Status quo ließ sich mit den Mitteln Demonstration, Großkundgebung und Lobbyarbeit nicht erreichen. Die mit der Laufzeit einzelner Verträge verbundenen Aussetzungen tariflicher Regelungen (Kürzung der bezahlten Pausen um eine Minute pro Stunde, Außerkraftsetzung zweier freier Tag im Jahr, Aussetzung der Bezahlung von Überstunden) konnten deshalb nicht rückgängig gemacht werden. Dazu hätte es betrieblicher Aktionen bedurft und einer in der Gewerkschaftsbasis verankerten Konfliktbereitschaft. Die war aber nicht mehr vorhanden als die Post signalisierte, die alten Verträge verlängern zu wollen.

Und um Einfluss auf das Postgesetz nehmen zu können mangelt es derzeit an einer Kraft, die politische Forderungen der Gewerkschaft aufnehmen und durchsetzen will. Die Privatisierung des Postsektors bleibt so erst einmal bestehen.

H.B., 20.02.2024


[1] Die Post nennt sich seit kurzem DHL Group. Wir bleiben im Text bei dem geläufigen Namen.
[2] Die Post behielt sich eine außerordentliche Kündigung des Vertrages jeweils zum 30.06. der folgenden Jahre vor für den Fall, dass das Postgesetz für das Unternehmen in den Bereichen Fahrdienstes und Zustellung existenzgefährdende Regelungen treffen werde.


 

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