
Wir dokumentieren die gemeinsame Rede von Iris Hefets und Nadija Samour auf der großen Friedenskundgebung vom 3. Oktober 2024 in Berlin.
Konkret schildern sie die Repressionen gegen die Palästina-Solidarität in den letzten Monaten. Und beide argumentieren von einem antirassistischen und internationalistischen Standpunkt des Klassenkampfes. Damit unterscheiden sie sich positiv von anderen Beiträgen, die das Thema des zunehmenden Rassismus ignorieren. Nadija: „Und damit wir uns nicht missverstehen: Iris und ich stehen hier um auch laut zu sagen – unser Kampf gegen Rassismus ist untrennbar vom Kampf gegen kapitalistische Unterdrückung und Militarismus.“
Nadija:
Vor fast einem Jahr standen Iris und ich schon einmal hier und haben den Genozid in Palästina unter deutscher Beteiligung angeprangert und zu internationaler Solidarität aufgerufen. Seitdem sind zehntausende Menschen mehr durch israelische Bomben getötet worden, aber auch durch die totale Absperrung des Gaza-Streifens und der damit einhergehenden Hungersnot und der medizinischen Unterversorgung. Tausende mehr sind willkürlich festgenommen und gefoltert worden, Kinder sind dem Ausbruch von Polio ausgesetzt, und die Barbarei hat sich inzwischen auch auf den Libanon ausgeweitet. Jeden Tag zeigt sich die siedlungskolonialistische Gewalt des zionistischen Projekts aufs Neue – und wenn man dachte, es könne nicht noch schlimmer werden, wird man leider eines Besseren belehrt. Israel zeigt der Welt, wie man ungestraft alle völkerrechtlichen und auch moralischen Grenzen überschreiten kann und dient als hervorragende Blaupause für das, was Naomi Klein als „ökofaschistische Zukunft“ beschreibt, in welcher wir alle als entbehrlich gebrandmarkt werden.
Während all das in Palästina vor sich geht, kämpfen wir in Deutschland gegen die aggressive Kriminalisierungs- und Propagandakampagne, die die deutsche Presse und auch die deutschen Strafverfolgungsbehörden ständig gegen uns führen.
Die Liste an Repressionsschlägen gegen palästina-solidarische Menschen in Deutschland ist lang: Demonstrationen und Vereine werden verboten, Menschen mit Kuffiyah werden auf der Straße einfach angehalten und durchsucht, Menschen mit Palästinafahne am Fenster bekommen Polizeibesuche zur Einschüchterung, Menschen sollen abgeschoben werden oder sogar die Staatsbürgerschaft entzogen bekommen, Schüler werden von Lehrern geschlagen, weil sie eine Palästinafahne hochhalten, oder sie werden vom Unterricht ausgeschlossen. Menschen verlieren ihren Job, ihren Universitätsplatz oder ihre Ausstellungsräume. Menschen werden in der Presse mit einer Hetzkampagne überzogen. Menschen werden angeklagt und eingesperrt.
Dabei dient die Kriminalisierung der Solidarität mit Palästina nur der siedlungskolonialistischen Propaganda auf der einen Seite und dem deutschen Ersatznationalismus auf der anderen Seite. Denn Deutschland projiziert seine Geschichte des gewalttätigen Antisemitismus auf Migrant:innen, insbesondere auf Palästinenser:innen.
Der deutsche Ersatznationalismus versucht damit, das jüdische Leid, hervorgerufen durch den deutschen Faschismus, als moralische Rechtfertigung für Israels Verbrechen zu missbrauchen. Dabei schreckt die Propaganda auch nicht davor zurück, unsere jüdischen Genoss:innen zu verunglimpfen.
Iris:
Inzwischen bin ich 3 x durch die Berliner Polizei festgenommen. Mein Schild, worauf stand: „Als Jüdin und Israelin: Stoppt den Genozid in Gaza!“, wurde als Beweismittel konfisziert, weil ich wegen Volksverhetzung angezeigt wurde. Die Polizisten konnten nicht erklären, welches Volk und welche Verhetzung, sie sagten, sie befolgen lediglich Befehle von oben.Meine Proteste gegen den von Deutschland unterstützten Genozid zählen in der Polizeistatistik als antisemitische Straftaten. Die Instruktionen sind, die Statistiken aufzupumpen, Felix Klein meinte, er wolle auch Prozesse sehen. Das Verfahren wurde aber, wie mehrere, eingestellt. Die Verfolgung geht aber weiter.
Mittlerweile fordert fast die Hälfte der Deutschen, einen “Schlussstrich unter die Vergangenheit” des Holocausts zu ziehen, Staatsbeamt:innen und Polizist:innen mit Nazihintergrund laden Jüd:innen aus, kündigen ihnen, und die Berliner Polizei schlägt Juden mit Kippa nieder. Das kommt alles nicht in die Statistik als antisemitische Vorfälle. Die Gewalt ist nicht importiert, der Antisemitismus ist der alte braune. Dann zählt das nicht.
Menschen- und Grundrechte sind teilbar geworden: sie gelten nur für Unterstützer:innen der Politik der deutsch-israelischen Regierung.
Nadija:
Es scheint so, dass je erschütternder die Realität in Palästina, insbesondere Gaza wird, desto verrückter die Bemühungen, Palästinenser:innen und Palästina-solidarische Stimmen durch den Dreck zu ziehen und mit der vollen Wucht des staatlichen Gewaltmonopols zu überziehen.
Je klarer die Forderungen für einen sofortigen Waffenstillstand, für den freien und unbedingten Zugang zu humanitärer Hilfe, für das Ende der Besatzungs-, Besiedlungs- und Apartheidpolitik und für das Rückkehrrecht sind, desto stärker muss dagegen gehalten werden mit der Instrumentalisierung des legitimen Kampfes gegen Antisemitismus, indem Jüd:innen mit Israel gleichsetzt werden und indem ein grundrechtswidriger Ausnahmezustand für Palästinenser:innen und Palästina-solidarische Menschen gefordert wird.
Für die deutsche Staatsräson wird alles getan und zwar auch, wenn es die Aushebelung verfassungsrechtlicher Garantien bedeutet. Für die deutschen Interessen in Israel wird alles getan, auch wenn es die Aushebelung des Völkerrechts bedeutet.
Innen- und außenpolitische Interessen verschmelzen beim Thema Palästina, weil man jede Saite rassistischer und imperialistischer Machtpolitik nach Belieben spielen kann:
Geht es um den Wunsch nach rassistischer Säuberung durch Massenabschiebung? Der Palästinenser dient da als nützliches Feindbild, um dies durchzusetzen und dabei noch eine gute liberale Mine zur Schau zu stellen; denn immerhin geht es um den Schutz unserer Leitkultur und damit auch um die nunmehr einverleibten Jüd:innen in das deutsche Volk!
Oder geht es um die Durchsetzung von repressiver Law & Order Politik, der Ausweitung polizeilicher und geheimdienstlicher Befugnisse, dem Abbau von Rechtsstaatsgarantien, der Verharmlosung von Polizeibrutalität oder anderer Behördengewalt, dann macht sich auch hier die Panikmache gegen den Palästinenser als Hassobjekt nützlich; denn diese gefährliche und unzivilisierte Brut muss nun mal mit harter Hand regiert und zermalmt werden!
Und ein Wort zur Polizeigewalt: Wer politisch aktiv ist, kennt Polizeigewalt. Was aber seit Monaten gegen die palästina-solidarische Bewegung erprobt wird, hat eine neueQualität: die Polizei prügelt und schikaniert mit absoluter Straflosigkeit und Rückendeckung aus Politik, Medien und Justiz. Der Widerstand gegen den Genozid soll zum Schweigen gebracht werden.
Iris:
Deutschland versucht, seine genozidale Vergangenheit durch die Unterstützung Israels den Genozid zu entsorgen. Da stören Jüd:innen, für die Judentum und Zionismus verschiedene Dinge sind, Menschenrechte und Judentum dagegen zusammengehören.
Die Solidarität mit dem um sich bombenden Israel ermöglicht es Deutschen mit Nazihintergrund, Nachfahren von Holocaustüberlebenden als Antisemiten zu diffamieren, wenn sie Israels Besatzungsregime als Apartheid und seine Kriegsverbrechen als Genozid benennen. Es gibt wieder brauchbare und unbrauchbare Jüd:innen und deutsche Staatsbeamte übernehmen wieder die Selektion.
Wir dienen besonders gut den Interessen der weißen Elite. Der ehemalige Berliner Bürgermeister Michael Müller sprach sich gegen die per Volksentscheid beschlossene Enteignung von Wohnungen aus, da es ein „falsches Signal“ für die Wirtschaft wäre und erwähnte dabei, dass möglicherweise jüdische Eigentümer zum zweiten Mal enteignet würden. Dadurch suggerierte er, dass „die Juden“ die Wohnkonzerne und das Kapital besitzen. Ähnlich wie Habeck, Chialo, Wegner, Faeser, Scholz und Steinmeier nutzt Müller seine „besorgten jüdischen Freunde“, um rassistische Politik gegen Palästinenser, Muslime und Migranten durchzusetzen, was Juden zum Ziel von Hass macht.
Da die Deutschen durch ihre Israel-Solidarität zum Zionismus konvertiert sind, sind sie wie von Zauberhand gegen Antisemitismus gefeit: Antisemiten sind nur die anderen. Und der Verweis auf angsterfüllte Jüd:innen hilft dabei, die Migration zur Mutter aller Probleme zu erklären. Fast alle Juden in Deutschland sind selbst Migrant:innen, die der deutschen Hölle entkamen, u.a. unter Muslimen in Palästina, in Albanien, in der Türkei oder Nordafrika. Ein Blick auf die Stolpersteine zeigt, dass viele nach Auschwitz deportiert worden oder nach Palästina geflohen sind.
Soweit zum importierten Antisemitismus in der Weltexportnation.
Diese Hetze über Migrant:innen wird durch die Politik und die Presse betrieben, während die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht und die Militarisierung des Landes dem Sozialstaat den Rest gibt.
Weder die USA noch Deutschland können sich ihrer Verantwortung für tote Kinder in Gaza entziehen, genauso wenig wie Merz, Lindner, Baerbock und Scholz für das Erstarken der Rechten in Deutschland, wenn sie die AfD-Agenda übernehmen. Die Stimmungsmache zeigt Wirkung: In Deutschland sehen doppelt so viele Menschen die Migration als Hauptproblem wie im Rest Europas, interessanterweise sogar dreimal so viele wie in Italien oder Griechenland. Dabei ist Deutschland auf Migration angewiesen: 30 % der Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund, und 86 % der zwischen 2014 und 2016 eingewanderten Männer sind heute erwerbstätig, damit mehr als unter den Deutschen ohne Migrationshintergrund.
Nadija:
Und damit wir uns nicht missverstehen: Iris und ich stehen hier, um auch laut zu sagen – unser Kampf gegen Rassismus ist untrennbar vom Kampf gegen kapitalistische Unterdrückung und Militarismus. Wer meint, auch in unseren Reihen (!) , dass wir uns für dumm verkaufen lassen und etwa ein Ende der Aufrüstung gegen Obergrenzen bei der Aufnahme von Flüchtlingen austauschen lassen, oder etwa Kuschelpolitik mit der AfD hinnehmen, um die vermeintlichen Massen hinter sich zu scharen, der irrt sich gewaltig. Es ist nicht nur dumm und gefährlich, sich die rechte und rassistische Polarisierung zu eigen machen zu wollen, sondern auch verdammt unsolidarisch und reaktionär. Kriege beenden, Rassismus und Militarisierung stoppen, die Klassengesellschaft überwinden – das alles geht nur mit Internationalismus und Solidarität.
Wie blicken wir nun, nach fast einem Jahr Genozid in die Zukunft? Wie blicken wir nach 100 Jahren Krieg gegen Palästina in die Zukunft? Es mag uns schwer fallen, die Hoffnung zu bewahren, auch wenn die Palästinenser:innen uns jeden Tag das Leben lehren. We teach life! Aber wenn es uns schwer fällt, über Hoffnung zu sprechen, dann möchte ich über das Versprechen reden und über unsere Pflicht, weiter entschlossendie massive Solidaritätsbewegung, die in den letzten Monaten all den Anfeindungen, Einschüchterungen, Repressionsschlägen zum Trotz entstanden ist, weiter voran zu treiben, international zu vernetzen, zu stärken und aufzurichten, und den Raum zu öffnen, sich Palästina und die Welt nach der Befreiung vorzustellen. Vom Jordan bis zum Mittelmeer, von Ras Naqoura bis zur Negev-Wüste, Palästinenser:innen lehren uns Sumoud, und – das sage ich auch an meine palästinensischen Mitkämpfer:innenhier und weltweit: Die Tatsache, dass es uns noch gibt, grenzt an ein Wunder. Unser Widerstand und unser frecher Trotz angesichts einer der größten Kriegsmaschinerien der Welt, die sich gegen uns verschworen hat, dient so vielen anderen kämpfenden Menschen als Inspiration – und die Verpflichtung, für sie alle mitzukämpfen, tragen wir mit Stolz.
Iris:
Wir werden uns als Jüdinnen und Juden weder für die Kriegsertüchtigung Deutschlands noch für antimuslimische Hetze missbrauchen lassen. Wir stehen für ein Zusammenleben in Solidarität, gegen Kriegsverbrechen und Genozid und für Menschenrechte und das Völkerrecht. Dabei wissen wir, dass nur die Unterdrückten ihre Unterdrücker befreien können. Es waren die Schwarzen Südafrikas, die gegen die Apartheid kämpften, die die Weißen von ihrer Täterschaft befreiten.
Lasst uns zusammen dafür arbeiten, dass die Palästinenser:innen und ihre Verbündeten in der ganzen Welt, Israel und seine Verbündeten wie die USA und Deutschland von ihrer Täterschaft und Barbarei befreien. In diesem Sinne rufe ich aus vollem Herzen: Free Palestine!
Der Redebeitrag kann auch hier als Video angesehen werden.
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