Die Bundesregierung ist noch nicht einmal zwei Monate im Amt und schon muss Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) zugeben, dass die Krankenkassen sich in einer finanziellen Schieflage befinden. Mit einem Bundeszuschuss von 800 Millionen Euro will sie kurzfristig deren Handlungsfähigkeit sichern.
Wir erinnern uns: Bereits im letzten Jahr musste ihr Vorgänger Karl Lauterbach öffentlich eingestehen, dass bei den Kranken- und den Pflegekassen ein riesiges Defizit aufgetreten ist. Er schlug vor, es mit einer drastischen Erhöhung der Beiträge für die Kranken- und die Pflegeversicherung auszugleichen. Die Krankenkassenbeiträge wurden Anfang 2025 trotz steigender Einkommen im Durchschnitt um 0,8 %-, die Beiträge zur Pflegeversicherung um 0,2 %-Punkte heraufgesetzt. Bei einem Bruttoeinkommen von 4.000.- € im Monat führt dies zu einer Erhöhung der Abgabelast um 40 €. Jeder sozialversicherungspflichtige Beschäftigte hat davon die Hälfte zu tragen. Wenn diese drastische Steigerung der Beiträge ab Januar diesen Jahres nicht ausgereicht haben, die Sozialkassen zu stabilisieren, muss es tiefer liegende Gründe für deren Unterfinanzierung geben. Auch die Arbeitslosenversicherung gab jüngst bekannt, im vergangenen Jahr ihren Haushalt mit einem Fehlbetrag abgeschlossen zu haben.
Erklärungsversuche der bürgerlichen Politik
Die bürgerliche Politik hatte schnell Erklärungen parat. Ministerin Warken sieht die Krankenkassen als „Notfallpatienten“. Das Gesundheitssystem stecke in „tiefroten Zahlen“, ergänzt sie. Sie fordert, „Reformen im Gesundheitswesen nicht auf die lange Bank zu schieben“. Zentrale Gründe für die Krise erkennt sie darin, dass „wir“ immer älter würden, Medikamente und Krankenhausbehandlungen sich ständig verteuerten. Und eilfertig fügt der Grünen-Politiker Dahmen hinzu: „Unser Gesundheitswesen krankt aber nicht primär an zu wenig Geld, sondern an einem chronischen Reformstau …“.
Diese Argumente sind altbekannt. Sie werden immer vorgebracht, wenn es zu Haushaltsproblemen bei den Kassen kommt. Mit ihnen soll die paritätische Finanzierung der Sozialversicherungen in Frage gestellt und die Notwendigkeit eines schleichenden Übergangs zu einer kapitalgedeckten Vorsorge begründet werden. Die Beschäftigten, so die Intention dieser „Reformer“, sollen zukünftig einen größeren Teil der Kosten für die Krankenversorgung und die Pflege selber aufbringen.
Dass es strukturelle Probleme in der Finanzierung der Krankenkassenleistungen gibt, wie etwa die unzureichenden staatlichen Zuschüsse für Bürgergeldempfänger, Asylsuchende, Flüchtlinge etc., ist bekannt. Da die Unterfinanzierung aber seit Jahren besteht, kann sie nicht der Grund sein, weshalb seit 2023 die Einnahmen und Ausgaben der Kranken- wie der Pflegekassen und der Arbeitslosenversicherung nicht mehr ausgeglichen sind.
Entstehen der Inflationsausgleichsprämie
Als etwa Mitte 2022 die Inflation in die Höhe schnellte, gerieten die Unternehmerverbände wie die Bundesregierung in Panik. Sie entwickelten ein Horrorszenario für die kommenden Lohnrunden. Sollten die Gewerkschaften bei den anstehenden Tarifrunden hohe Lohnabschlüsse durchsetzen, würde dies eine Inflationsspirale in Gang setzen. Waren und Dienstleistungen würden sich derart verteuern, dass die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie auf den internationalen Märkten gefährdet werde.
Unter Federführung von Kanzler Olaf Scholz reaktivierte die Bundesregierung im Juli 2022 die sog. Konzertierte Aktion. Bereits am 3. September beschloss das Kabinett nach intensiven Beratungen im Rahmen des sog. 3. Entlastungspaketes gesetzlich den Tarifparteien die Möglichkeit zu eröffnen, bis Ende 2024 eine steuer- und sozialabgabenfreie Inflationsausgleichsprämie (IAP) in Höhe von maximal 3.000 € zu vereinbaren. Ausgeschlossen vom Bezug der IAP blieben alle Bevölkerungsgruppen, deren Einkommenserhöhungen nicht über Tarifverträge oder ihnen unmittelbar folgenden Entgeltregelungen (Besoldungen) zustande kommen, also Bürgergeldempfänger, Selbstständige, Rentner, etc.
Die Gewerkschaften befürworteten den Bundestagsbeschluss zur IAP. Sie wollten diese allerdings nur zusätzlich zu den regulären Lohnabschlüssen vereinbaren. Dabei orientierten sie sich an den in den Monaten zuvor für bestimmte Beschäftigtengruppen gezahlten Corona-Ausgleichsprämien.
Doch mit ihrer prinzipiellen Zustimmung zu dem Gesetz konnten sie nicht mehr zurück. Die IAP war für die Unternehmen und den Staat derart attraktiv, dass beide die gesetzlichen Möglichkeiten voll ausschöpfen wollten. Die Arbeitgeber konnten mit der Zahlung der IAP über viele Monate die durch die Inflation entstandenen Kaufkraftverluste der bei ihnen Beschäftigten annähernd ausgleichen, ohne für diese Leistungen Einkommenssteuer und Sozialabgaben zahlen zu müssen. Auch der Staat hatte einen Vorteil von der Zahlung der IAP. Er konnte die Ausgaben für die Gehälter der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst verringern und den Kaufkraftverlust eindämmen.
Folgen für die Sozialversicherungen
Noch vor dem endgültigen Auslaufen der gesetzlichen Regelung Ende 2024 zeigten zwei Autoren der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung (HBS) in einer Studie[1] auf, welche Auswirkungen die IAP für die Unternehmen, den Staat und die Tarifbeschäftigte hatte.
Nach ihrer Untersuchung erhielten etwa 26 Millionen Beschäftigte eine IAP. Durchschnittlich bekam jeder Empfänger einen Betrag von ca. 2.000 €. Vom Staat und den Unternehmen wurden etwas mehr als 52 Milliarden Euro Prämie gezahlt.
Davon wurden etwa 5,8 Milliarden Euro an die Beamten und vergleichbare nicht sozialversicherungspflichtige Gruppen (Richter, Parlamentsabgeordnete, Soldaten, Pensionäre, etc.) überwiesen. An sozialversicherungspflichtige Beschäftigte flossen 46,7 Milliarden Euro.
Da die Zahlungen der IAP nicht in die Lohntabellen eingeflossen sind, erhöhten sich die tabellenwirksamen Löhne der betroffenen Beschäftigten für viele Monate nicht. Deren Abgaben an die Sozialkassen stagnierten in dieser Zeit. Die ausgebliebene Erhöhung der Tariflöhne wird dauerhaft fehlen, da die kommenden Einkommenssteigerungen auf den Entgelttabellen von 2022 aufbauen.
Gleichzeitig stiegen die Ausgaben der Sozialversicherungsträger inflationsbedingt, so dass bei ihnen eine Finanzierungslücke entstand. Sie lässt sich in den kommenden Jahren nur schließen, wenn es zu überproportionalen Lohnsteigerungen oder einer dauerhaften Erhöhung der Sozialbeiträge kommen würde. Allerdings könnte auch der Staat seine Zuschüsse für bestimmte Bevölkerungsgruppen anheben um das Defizit auszugleichen. Letztlich sind auch schmerzhafte Leistungseinschränkungen denkbar. Vermutlich wird es zu einer Kombination unterschiedlicher Maßnahmen kommen.
Profitiert von der IAP haben vor allem die Unternehmer. Sie konnten die Lohnzahlungen stark begrenzen und etwa 9 Milliarden Euro an eigenen Sozialversicherungsbeiträgen einsparen.
Der Staat musste durch die IAP Steuermindereinnahmen von 15 Milliarden Euro verkraften.
Die Beschäftigten sind durch die IAP mehrfach bestraft worden. Sie mussten auf die Erhöhung ihrer Tariflöhne verzichten und dauerhaft eine Absenkung ihrer Realeinkommen hinnehmen. Sie wurden durch die hohen Mindereinnahmen bei den Sozialkassen mit einer Erhöhung ihrer Beiträge belastet. Sie verlieren sogar an Kaufkraft, wenn in den kommenden Tarifrunden die Inflationsrate ausgeglichen werden sollte. Denn die erhöhten Sozialbeiträge fließen nicht in die Berechnung der Preissteigerungsrate ein.
[1] Inflationsausgleichsprämie erhöht Einkommen von 26 Millionen Beschäftigten um 52 Milliarden Euro, IMK Policy Brief Nr. 171
Zur Tabelle
Die folgende Übersicht kann nur grob die Auswirkungen der IAP skizzieren. Sie orientiert sich an der Studie der HBS.
Unberücksichtigt muss bleiben, dass ein Teil der IAP-Empfänger wegen der Beitragsbemessungsgrenzen nicht für das gesamte Einkommen Sozialversicherungsbeiträge zahlt.
In der Tabelle geben die Zeilen ‚IAP Beamte‘ und ‚IAP Tarifkräfte‘ an, wie hoch die IAP Zahlungen jeweils waren.
Die beiden folgenden Zeilen zeigen an, welche Steuer- und Sozialabgaben angefallen wären, wenn die IAP nicht von Steuer- und Sozialabgaben freigestellt worden wäre.
Die beiden letzten Zeilen lassen erkennen, welche Zahlungen an den Staat und die Sozialkassen geflossen wären, wenn die Beschäftigten eine tabellenwirksame Erhöhung ihrer Gehälter und ihrer Besoldung bekommen hätten. Dabei wird unterstellt, dass die Lohnsteigerungen zu einem Nettolohn in Höhe der IAP geführt hätten. Da eine Anhebung der Tariflöhne dauerhaft die Einkommen erhöht hätte, fehlen die davon zu zahlenden Steuern und Sozialabgaben dem Staat und den Sozialkassen jährlich.
Mindereinnahmen | ||||||||
Besoldung und Tariflohn | Steuer | Krankenkasse AN+AG | Rente AN+AG | Pflege AN+AG | ArbVers AN+AG
|
Gesamtverlust Sozialkassen pro Jahr | ||
Abzüge | 30 % | 16,3 % | 18,6 % | 3,6 % | 2,6 % | |||
IAP Beamte | 5,80 | |||||||
IAP Tarifkräfte | 46,70 | |||||||
IAP Beamte mit Steuer | 5,80 | -1,74 | ||||||
IAP Tarifkräfte mit Steuer und SV | 46,70 | -14,01 | -7,61 | -8,69 | -1,68 | -1,21 | -19,19 | |
Gehalt Beamte | 11,60 | -3,48 | ||||||
Tariflohn | 93,40 | -28,02 | -15,22 | -17,37 | -3,36 | -2,43 | -38,38 | |
- Alle Zahlenangaben in Milliarden Euro
- Ein durchschnittlicher Grenzsteuersatz von 30 % wird angenommen
- AN+AG = Arbeitnehmer + Arbeitgeber
- IAP = Inflationsausgleichsprämie
H.B., 01.07.2025
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