1989 gab die Gruppe ‚Arbeiterpolitik‘ zusammen mit der Autonomen ‚Nahostgruppe Hamburg‘ eine Broschüre heraus: „Zionismus, Faschismus, Kollektivschuld“. Wir veröffentlichen die wichtigsten Artikel aus dieser Broschüre erneut. Der gerade stattfindende Vernichtungs- und Vertreibungskrieg Israels verleiht ihnen neue Aktualität. Sie erinnern an die Schaffung und Gründung des Staates Israel. Und sie entlarvt die Mythen und das Bild Israels, welches seit Jahrzehnten in Deutschland gemalt wird von der „einzigen Demokratie“ in Nahen Osten. Israel zeigt immer deutlicher sein Gesicht als Apartheid-Staat, mit seinen offen geäußerten territorialen Ansprüchen. Sie umfassen nicht nur den Gaza-Streifen und das Westjordanland, sondern auch Gebiete in den Nachbarstaaten Libanon und Syrien. Seine kolonialistische Siedlungspolitik betreibt es seit jeher im Interesse des US-Imperialismus und seines wichtigsten europäischen Verbündeten, der Bundesrepublik Deutschland.
Obwohl sich die globalen Kräfteverhältnisse seit 1990, vor allem mit dem Ende des sozialistischen Lagers, grundlegend geändert haben, verweisen die Artikel auf Grundlinien, die auch heute noch gültig sind. Manche Aussagen über den palästinensischen Widerstand haben sich allerdings als zu optimistische erwiesen. Aber der Ausgang der aktuellen israelischen Nah-Ost-Kriege ist ungewiss, wie auch die Perspektiven des Palästinensischen Widerstandes.
Auch dieser Artikel über den „Kampf der palästinensischen Massen für Selbstbestimmung und Rückkehr“ ist von den Grundzügen der historischen Entwicklung weiterhin gültig. Aber insbesondere die Schlussabsätze sind vor dem Hintergrund der Lage von 1989 formuliert worden und nur von daher zu verstehen. In der aktuellen Situation der existenziellen Gefährdung der palästinensischen Bevölkerung können wir Aussagen wie diese nicht treffen: „Alle Strukturen der palästinensischen Gesellschaft entwickeln sich politisch weiter. Die zukünftige palästinensische Gesellschaft wird schon erkennbar.“ Diese Zukunft scheint heute ungewiss und eher düster.
Wir veröffentlichen die Dateien in der 1989 gebräuchlichen deutschen Rechtschreibung. Das Original kann hier als PDF heruntergeladen werden oder als gedrucktes Exemplar (für EUR 2,50 plus Porto) über die Redaktionsadresse bestellt werden.
Inhaltsverzeichnis
- Jüdische Frage und Zionismus: Exodus – Einwanderung in die Wagenburg
- Zionismus und Faschismus in Deutschland
- Judenfrage und Judenvernichtung im deutschen Faschismus
- Von Roosevelt zur Hafenstraße: Zur Geschichte der Kollektivschuld-Ideologie
- Palästinensischer Befreiungskampf
Zionismus, Faschismus, Kollektivschuld
I. Jüdische Frage und Zionismus: Exodus – Einwanderung in die Wagenburg
Im Denken der meisten Menschen in der BRD beginnt die Geschichte Israels mit der Gründung des Staates 1948 und der Judenverfolgung unter den Nazis. Tatsächlich bewegten sich in den 30er und 40er Jahren große Flüchtlingsströme von Europa nach Palästina. Viele Juden, die der Terrormaschine der Nazis entkamen, konnten sich ein Leben in den europäischen Ländern, vor allem in Deutschland, nicht mehr vorstellen.
Aber was war das für ein Land, in dem sie ankamen? Seit Jahrzehnten schon, lange vor dem deutschen Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg, führten hier zionistische Siedler einen erbitterten Kampf zur Vertreibung der arabischen Bevölkerung und zur Durchsetzung eines nur-jüdischen Staates. Seit Beginn der Judenverfolgung in Deutschland setzten die Zionisten alles daran, dass sich die jüdischen Flüchtlinge in Palästina und nicht in anderen Ländern der Welt niederließen. Sie brauchten die Flüchtlingsmassen, um die Basis des zionistischen Lagers in Palästina zu verbreitern.
Die jüdischen Flüchtlinge waren keine ,,Zionisten“, sie suchten nur einen Ort, wo sie sich sicher fühlen konnten vor weiteren Schrecken und Leiden. Nachdem sie die Verfolgung der Nazis überlebt hatten, gerieten sie nun in die Wagenburg des Zionismus und wurden zum ,,Staatsvolk“ eines Systems, das nur bestehen konnte und kann, wenn es die Kräfte der nationalen und sozialen Befreiung in der Region unterdrückt und bekämpft. Die Vertreibung der Palästinenser gehört hier ebenso dazu wie die militärische Aggression gegen arabische Länder (die ,,Nah-Ost-Kriege“ seit 1948).
Die Geschichte des ,,Nah-Ost-Konfliktes“ und des Staates Israel beginnt daher nicht mit der Judenverfolgung in Deutschland und der gewaltsamen Durchsetzung des zionistischen Staates im Jahre 1948. Sie beginnt viel früher: mit der ,,jüdischen Frage“, die durch die Herausbildung des Kapitalismus in Europa aufgeworfen wird, und mit dem Zionismus – der imperialistischen Antwort auf die jüdische Frage.
Die Entstehung der jüdischen Frage im 19. Jahrhundert
Wir können hier nicht die ganze Geschichte der Juden seit der Vertreibung aus Palästina darstellen. Für die Entstehung der „jüdischen Frage“ (und später des Zionismus) ist es aber wichtig, die gesellschaftliche Stellung der Juden in den feudalistischen Gesellschaften Europas festzuhalten.
Die jüdische „Diaspora“ verteilte sich im Mittelalter über ganz Europa – von Spanien und Portugal bis nach Rußland. In Spanien erlebte das Judentum – kulturell wie sozial – eine Blütezeit unter der arabischen Herrschaft. Die Wiedereroberung der Halbinsel durch die christlich-klerikalen Feudalherren Spaniens vertrieb auch die Juden aus ihrer privilegierten gesellschaftlichen Stellung (als Kaufleute und Gelehrte). Viele jüdische Familien verließen Portugal und Spanien.
Ein Teil fand in den Niederlanden Zuflucht (und kam dort in der Blütezeit des Handelskapitalismus wieder in ökonomisch einflußreiche Positionen). Andere gingen nach Palästina und bauten dort den ,,Jischuw“ (die jüdische Gemeinschaft) auf. Sie waren nicht sehr zahlreich (vor Beginn der Einwanderungswellen im Jahrhundert waren es etwa 20.000), aber sie konnten sich – wenn auch als getrennt lebende religiöse und soziale Gruppe – in die arabische Gesellschaft integrieren (als Kaufleute und „Notablen“). Ihrer Herkunft nach wurden sie „Sephardims“ (hebräisch: Spanier) genannt – im Gegensatz zu den Juden in Mitteleuropa, den „Ashkenasim“ (hebräisch: Deutsche).
In den Ländern des europäischen Feudalismus waren die meisten Juden Zwischenhändler und Geldverleiher („Wucherer“). Sie übten diese gesellschaftliche Funktion nicht freiwillig aus. Die spätmittelalterliche Ideologie, das Christentum, verbot den Christen Zinsgeschäfte und zwang den Juden diese Rolle auf. Der vielfach gehaßte ,,Wucherer“ und Zwischenhändler wurde so mit dem Judentum identifiziert. Klerikale Ideologen schürten den Haß breiter Volksschichten auf diese gesellschaftliche Schicht. Verstärkt wurde das durch die Absonderung der Juden in eigene Viertel und „Ghettos“, die mehrfach Opfer von Pogromen wurden.
Mit dem Übergang vom Feudalismus zur kapitalistischen Produktionsweise wurde den Juden ihre ökonomische Funktion als Zwischenhändler entzogen, denn nun traten die Produzenten bzw. Eigentümer der Produktionsmittel selbst als Händler auf. Entscheidend wurde die Durchsetzung industriekapitalistischer Verhältnisse im 19. Jahrhundert. Die kapitalistische Entwicklung vollzog sich aber nicht gleichmäßig in allen Ländern Europas. Insbesondere in Osteuropa fand der Prozeß der „ursprünglichen Akkumulation“ des Kapitals später, aber dafür auch um so heftiger statt. Die bürgerliche Revolution in Westeuropa brachte die politische „Emanzipation“ der Juden. In den preußischen Reformen zu Anfang des 19. Jahrhunderts (die eine Reaktion auf die französische Revolution und die napoleonische Politik waren) erhielten die Juden in einem vorher nie dagewesenen Ausmaß staatsbürgerliche Rechte. Die kapitalistische Entwicklung ermöglichte hier eine Integration der zuvor gesellschaftlich abgetrennten jüdischen Schichten. Ein großer Teil ging im Kleinbürgertum auf, ein anderer Teil wandelte seine frühere Funktion als „Geldleiher“ im Feudalismus in die neue Position des Geldkapitals (Banken usw.) um.
Diese Assimilation der westeuropäischen Juden brachte tendenziell auch die Auflösung der alten jüdischen Kultur mit sich. Die überwiegende Mehrheit der Juden in Westeuropa wurden zu überzeugten Anhängern der bürgerlichen Weltanschauung, sowohl des Liberalismus wie des ,,aufgeklärten“ Kaisertums (in Deutschland). Die alten jüdischen Anschauungen, die stark von der religiösen Orthodoxie geprägt waren, wurden ersetzt durch die Ideen der bürgerlichen Aufklärung – selbst jüdische Gelehrte bemühten sich um eine Synthese ihres Glaubens mit der rationalistischen Philosophie.
Aber in den „assimilierten“ jüdischen Kreisen lebte weiterhin die Furcht vor einem Wiederaufleben des Antisemitismus. Immerhin entfachten reaktionäre Kreise in der französischen Republik noch um die Jahrhundertwende eine antisemitische Kampagne (die „Dreyfus-Affäre“) und hier zeigte sich, daß das antisemitische Denken zwar zurückgedrängt, aber keineswegs verschwunden war. Insbesondere im Kleinbürgertum fand es in dem Maße immer wieder Anklang, wie die eigene soziale Stellung durch die kapitalistische Konkurrenz bedroht schien.
Die Furcht vor dem Wiederaufleben des Antisemitismus zwang die „assimilierten“ Juden dazu, sich allen Bestrebungen (auch von jüdischer Seite) zu widersetzen, die Juden oder das „Jüdische“ als etwas Besonderes darzustellen.
In Osteuropa, vor allem in Rußland-Polen, stellten sich die Verhältnisse völlig anders dar. Aufgrund der besonderen ökonomischen Entwicklung behielten die Juden wesentlich länger ihre traditionelle Funktion innerhalb der feudalen Verhältnisse. Kulturell und gesellschaftlich lebten die Juden „abgeschottet“. Ihr Alltag, ihre Lebensweise und Religion, ihre ganze Weltanschauung war stark vom Ghetto-Leben geprägt. Der „Chassidismus“, eine mystisch und ,,ekstatische“ Interpretation der jüdischen Religion, ist hier (im 18. Jahrhundert) entstanden und stand in krassem Gegensatz zur jüdischen „Aufklärung“ im Westen.
Der Beginn der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zerstörte auch in Osteuropa die Lebensgrundlagen der Juden. Aber anders als in Westeuropa waren sie nicht in der Lage, innerhalb der neuen kapitalistischen Verhältnisse Fuß zu fassen. Das Kleinbürgertum wurde in eine tiefe Krise hineingerissen und die Juden als bedrohliche Konkurrenz empfunden. Unter den Bauern, die durch den Einbruch des Kapitalismus mit am stärksten litten, gärte der Haß gegen die ,,Wucherer“ – die jüdischen Geldleiher. In Wellen schäumte der Antisemitismus auf und entlud sich in grausamen Pogromen gegen die Juden und ihre Wohnstätten.
Die zaristische Politik hat dies geschickt durch staatliche Maßnahmen ausgenutzt und gefördert. Im Jahre 1881 wurde per Gesetz den Juden die Ansiedlung auf dem Lande verboten (sie durften nur in Städten, und zwar nur innerhalb bestimmter „Rayons“, Verwaltungsbezirke, leben). Verboten wurde den Juden ebenfalls der Kauf von Land, untersagt wurde die Verlängerung laufender Pachtverträge mit Juden. Die Juden wurden damit zum Opfer einer weitreichenden staatlichen Politik, in der Landvertreibung (-enteignung) und staatliches Vorantreiben der kapitalistischen Entwicklung zusammenfielen.
Unter den Ostjuden führte das zu sozialen Verschiebungen: ein großer Teil wanderte in den folgenden Jahrzehnten in großen Wellen nach Westeuropa und (von dort weiter) in die USA aus. Von 1881 bis zur Jahrhundertwende schätzt man ihre Zahl auf mehr als 50.000. Der kleinste Teil von ihnen (geschätzt 2 %) ging nach Palästina. Jene, die in Rußland und Polen blieben, wurden nur halb von der Proletarisierung erfaßt. Das „jüdische Proletariat“, das nun entstand, setzte sich hauptsächlich aus Handwerkern und Arbeitern in kleineren Fabriken (manufakturartige ,,Werkstätten“) zusammen.
In diesem Milieu sind die ersten jüdisch-nationalen Organisationen entstanden – fast zeitgleich mit der revolutionären Sozialdemokratie Rußlands. Hier liegen die Wurzeln sowohl der späteren zionistischen Arbeiterorganisationen (der „Poale Zion“) als auch des „Bundes“, der sich – im Gegensatz zum Zionismus – als Teil der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung verstand und die Lösung der ,,jüdischen Frage“ mit der sozialistischen Revolution in Rußland und Polen verband.
Die große Wanderungsbewegung von Ostjuden nach Westeuropa stellte die westeuropäischen Juden vor große Schwierigkeiten. Denn hier kamen in großen Massen Menschen, die das sorgfältig gehütete Gerüst der „Assimilation“ erschütterten. In ihrer Lebensweise unterschieden sich die Ostjuden kraß von den „Assimilierten“. Und sie unterschieden sich in der sozialen Stellung – gegenüber den relativ gut gestellten Kleinbürgern Westeuropas zählten sie zu den Armsten der Armen, waren „Habenichtse“. Im bürgerlichen Lager (Juden wie Nicht-Juden), aber auch von revisionistischer sozialdemokratischer Seite aus, wurden Überlegungen darüber angestellt, wie man diesen aufkeimenden Widersprüchen begegnen könne. Zwischen assimilierten Westjuden und bürgerlich-reaktionären Kreisen tat sich eine Allianz auf: ,,Gewähren wir deshalb den armen, bedrängten Ostjuden jeden möglichen Schutz und Förderung ihrer Siedlungsbestrebungen, dem deutschen Volk aber Schutz gegen die Ostjuden!“ So der nationalistische „Alldeutsche“ Georg Fritz im Jahre 1915.
Der Zionismus: imperialistische Antwort auf die ,, Judenfrage“
Der Grundgedanke des Zionismus, einen „Judenstaat“ zu schaffen, ist älter als der Zionismus. Er hat viele Vorläufer, die im Gefolge der bürgerlichen Nationalstaatsidee den Begriff der „jüdischen Nation“ zu entwickeln versuchten. Aber es war gerade die Entwicklung der bürgerlichen Nationalstaaten in Europa (und der Assimilation der West-Juden),die dieser „nationaljüdischen“ Ideologie den Boden entzog.
Der Zionismus als politische und organisierte Richtung entstand erst in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts. Das Buch Theodor Herzls „Der Judenstaat“ wurde zur programmatischen Grundlage der zionistischen Weltorganisation, die kurze Zeit nach dem Erscheinen der Schrift Herzls gegründet wurde. Hervorzuheben ist, daß der Zionismus von vorneherein nicht religiös gebunden war. Im Gegenteil, mit dem politischen Ziel, einen „Judenstaat“ zu schaffen, setzte sich der Zionismus in Widerspruch zur jüdisch-religiösen Orthodoxie. Diese sieht (noch heute) in dem Versuch, den von Gott versprochenen jüdischen Staat aus eigener Kraft zu schaffen, einen Akt der Ketzerei. (Deshalb nannte Herz1 sein Buch auch nicht „jüdischer Staat“, sondern „Judenstaat“.) Hervorzuheben ist außerdem, daß der zionistische Plan einer Staatsgründung anfangs nicht auf eine Siedlungspolitik in Palästina zielte. Uber mehrere Jahre wurden verschiedene Projekte geprüft (unter anderem eine Siedlung in Uganda) und verschiedene Regierungen in Europa daraufhin angesprochen, ob sie bereit seien, die ,,Schutzmacht“ für den geplanten „Judenstaat“ zu übernehmen.
Entstanden ist der Zionismus in Westeuropa, also unter jenen Juden, die keinerlei Interesse daran hatten, die Vorzüge der Assimilation zugunsten eines ungewissen Siedlerlebens aufzugeben. Die Unterstützung, die der Zionismus bei den bürgerlich-jüdischen Kreisen fand, erklärt sich über das Auswanderungsproblem, die soziale Bedrohung, die man in Gestalt der einwandernden Ostjuden sah. Eine wirklich soziale Basis fand der Zionismus dagegen in Osteuropa, weil sich die Juden dort Hilfestellung und Unterstützung bei der Auswanderung erhofften. Das ist auch der Grund dafür, daß sich nach 1900 innerhalb der zionistischen Weltorganisation Palästina als Siedlungsland durchsetzte. Es waren die osteuropäischen Zionisten, die dies forderten. Denn schließlich war in Palästina schon eine jüdische Siedlung vorhanden – die seit 1881 anwuchs.
Aber bei dieser Entscheidung handelte es sich nicht nur um das Ende der innerzionistischen Diskussion um den Ort des „Judenstaates“. Mit Palästina wurde zugleich eine Region gewählt, die schon seit Jahrzehnten im Visier der europäischen Großmächte war, wo sich deren Interessen durchkreuzten und wo dementsprechend eine „Schutzmacht“ für das zionistische Projekt leichter zu finden war. Die erste „Alija“ (Einwanderungswelle) 1881 brachte nicht die ersten Siedler nach Palästina. Siedlungsprojekte, umfangreiche Landkäufe usw. gab es schon vorher, nicht nur von Juden. Insbesondere christliche Institutionen machten sich in Palästina breit, und das hing mit der Politik der europäischen Großmächte zusammen: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Palästina von den Großmächten „entdeckt“. Ihnen ging es nicht um eine unmittelbare (koloniale) Intervention, sondern um die Kontrolle der Region (des osmanischen Reiches), sowie um ökonomische Einflußnahme. Die Besonderheit Palästinas und des angrenzenden Libanon, daß hier nämlich verschiedene Volks- und Religionsgruppen lebten, gab dieser Interessenpolitik die Form: Jede Großmacht suchte sich eine Religions- und Volksgruppe, um als deren „Schutzmacht“ die eigenen Interessen geltend zu machen. Rußland nahm sich der orthodoxen Christen an, konkurrierte dabei mit Frankreich, das daneben noch die Katholiken und Maroniten „schützte“ (Frankreich konzentrierte sich mehr auf das Gebiet des Libanon und Syriens). England und Preußen wollten über die Protestanten Fuß fassen. (Ein anglo-preußisches Bistum wurde in Jerusalem gegründet.)
In England wurde gleichzeitig eine ideologische Richtung entfacht („Restoration of the jews“), die das Hauptinteresse auf die Juden legte. Diese Kampagne, die in den 40er Jahren entstand und vom anglikanischen Milieu getragen wurde, schaffte den ideologischen Überbau für das weitergehende politische Interesse Großbritanniens. Schon 1847 spekulierte der britische Ministerpräsident Disraeli über die Möglichkeit, mit einem zukünftigen ,,Judenstaat“ eine Brücke zwischen „Europa und Asien“ zu schlagen.
Die erste große Einwanderungswelle nach 1881 traf also zusammen mit dem Kräftespiel der europäischen Großmächte. Zunächst erfolgte die Unterstützung von außen durch den französischen Bankier Rothschild, der hierfür eine eigene Stiftung gründete und deren Bestimmungen sich die jüdischen Siedler unterwerfen mußten. Rothschild baute einen Verwaltungsapprat auf, und schon wenige Jahre nach Beginn der ersten „Alija“ kam es zu Unruhen unter den Siedlern, die sich gegen die Rothschild’sche Verwaltung zur Wehr setzten. Von Anfang an aber konnten die Siedlungsprojekte ohne äußere finanzielle Unterstützung nicht existieren. Den jüdischen Einwanderern fehlte es sowohl an Geld, um das nötige Land zu kaufen, es fehlte ihnen aber auch die Qualifikation, um Landwirtschaft (zudem unter den besonderen geographischen und klimatischen Bedinungen) zu betreiben. Geldmäßig waren sie von ausländischen Kräften abhängig, die Landwirtschaft hingegen konnte nur durch das Anheuern ara bischer Arbeitskräfte aufgebaut werden.
Die jüdische Siedlungspolitik unter Rothschild setzte die ersten Siedlungsprojekte europäischer Institutionen fort. Wirtschaftlich bedeutete dies die schrittweise Durchdringung des palästinensischen Raums im Interesse des entstehenden europäischen Imperialismus. Neben Bereichen wie der Entwicklung der Infrastruktur (Schiffahrtsgesellschaften) wurde nun die Landwirtschaft zum Objekt der kapitalistischen Intervention. Die traf zusammen mit einer tiefen und langanhaltenden Krise der feudalen arabischen Landwirtschaft. Im Gegensatz zu der späteren zionistischen Ideologie, wonach Palästina vor der zionistischen Besiedlung Wüstenland gewesen sei, war Palästina seit vielen Jahrhunderten der Ort einer relativ hochentwickelten Agrarkultur. Ihr drohte aber aufgrund der nicht entwicklungsfähigen feudalen Verhältnisse der Niedergang und die Verödung.
Die Landkaufpolitik ausländischer Kräfte kam den Feudalherren (den „Efendis“) entgegen, brachte aber der größten Klasse in Palästina, den Fellachen (Pächter), den Ruin. Die zunehmende Enteignungspolitik warf die Fellachen in die Stellung eines Landproletariats.
Nach den geschilderten Versuchen Großbritanniens, in Palästina Fuß zu fassen, ist es nicht erstaunlich, daß der Zionismus mit seinen Zielen in England auf offene Ohren stieß. Bis zum ersten Weltkrieg jedoch gab es keine eindeutigen Verlautbarungen von britischer Seite. Großbritannien war zunächst noch daran interessiert, das osmanische Reich durch die Unterstützung des arabischen Widerstandes gegen das Istanbuler Regime zu unterstützen. Der erste Weltkrieg brachte dann die Entscheidung über die Machtverhältnisse in Palästina. Deutschland, das mit dem osmanischen Reich verbunden war, und Rußland (nun unter bolschewistischer Führung) gingen als Verlierer hervor. Im Nahen Osten verblieben nur noch Großbritannien und Frankreich als einflußreiche Großmächte. Das osmanische Reich war zerfallen, und auch die „Jungtürken-Bewegung“ unter Kemal Attatürk hatte das nicht aufhalten können.
Was folgte, war die Aufteilung der Region unter den beiden Großmächten: Frankreich bekam Libanon und Syrien unter seine Kontrolle, Großbritannien erhielt Palästina als „Mandat“. Noch vor der endgültigen Entscheidung verkündete Großbritannien das Recht der Juden auf eine „Heimat“ in Palästina und erklärte sich zu deren Schutzmacht. Die Erklärung von Balfour 1917 drückte bereits den ganzen Inhalt der späteren Politik Großbritanniens aus: Sie spricht sich für ein eigenständiges jüdisches Gemeinwesen aus, aber nur insofern, wie dies nicht die Interessen der Araber berührt. Die Zionisten konnten die Balfour-Erklärung zwar gut als ,,Geburtsurkunde“ des zionistischen Staates benutzen, aber mit dieser Erklärung begann auch die britische Schaukelpolitik in Palästina (zwischen Arabern und Juden), in der es den Zionisten überlassen blieb, wirkliche Machtverhältnisse im Innern Palästinas zu schaffen, um sich letztlich gegen die arabischen Massen durchzusetzen.
Die Durchsetzung des Zionismus in Palästina
Mit der zweiten ,,Alija“[1], die nach 1905 einsetzte, veränderte sich der Charakter der Siedlungspolitik in Palästina grundlegend. Ursache der neuen Einwanderungswelle war die russisch-polnische Konterrevolution, der vor allem Juden zum Opfer fielen. Massaker und Pogrome, die nun auch organisiert von reaktionären Gruppen (den ,,Schwarzhundertschaften“) durchgeführt wurden, trieben wieder Juden massenhaft nach Westen.
Die Interessenkoalition von Zionisten, jüdischem Bürgertum und imperialistischer Großmachtpolitik leitete einen Teil des Flüchtlingsstroms nach Palästina weiter. Die osteuropäischen Juden, die nun in Palästina ankamen, waren ihrer Herkunft nach aber schon ,,Proletarisierte“, zumeist Handwerker. Und die zweite ,,Alija“ wurde zur Geburtsstunde der zionistischen Arbeiterbewegung, die diese proletarisierten Einwanderer organisierte. Sie gerieten in Gegensatz zu den schon vorhandenen jüdischen Siedlern. Diese lehnten nämlich die Beschäftigung von jüdischen Landarbeitern ab, weil sie zu teuer und zu wenig qualifiziert waren.
Nun entbrannte über mehrere Jahre ein heftiger Kampf zwischen den Siedlern und den Einwanderern. Die zionistischen Arbeiterorganisationen gaben die Losung von der ,,Eroberung der Arbeit“ aus. Sie besagte: Auf ,,jüdischem Boden“ dürfen nur jüdische Arbeitskräfte beschäftigt werden. Neben dem erbitterten Kampf gegen die Siedler entstanden die ersten Kibbuzim, und die zionistische Politik in Palästina geriet fast vollständig unter die Führung der zionistischen Arbeiterbewegung. Es war ein Klassenkampf nach mehreren Seiten: gegen die jüdischen Grundbesitzer und gegen die arabischen Landarbeiter.
Diese politische Praxis war von den Begründern der zionistischen Arbeiterbewegung schon vorher programmatisch festgelegt worden. Bochorow, der Theoretiker und Gründer der ,,Poale Zion“, hatte in seinen Schriften die Vertreibung aller nicht-jüdischen Elemente zum Programm erhoben. Bochorow und die ,,Poale Zion“ bedienten sich zur Rechtfertigung ihrer Politik in ,,scharfsinniger“ Weise des Marxismus (und sie verstanden sich selber auch als revolutionäre Marxisten): Sie sahen die Ursachen der Judenverfolgung in der ökonomischen Sonderstellung der Juden. Um sich als Juden emanzipieren zu können, so Bochorow, müssten die Juden erst zum ,,Proletariat“ werden im Rahmen einer eigenen Nation. Bochorow und seine Anhänger haben in klaren Worten ausgesprochen, was dafür zu tun war – die Vertreibung der Araber von Land und auch von Arbeit.
David Hacohen, ein Führer der zionistischen Arbeiterbewegung, erklärte später: ,,Ich mußte mit meinen Freunden viel über den jüdischen Sozialismus streiten; mußte die Tatsache verteidigen, dass ich keine Araber in meiner Gewerkschaft akzeptierte; dass wir Hausfrauen predigten, nicht in arabischen Geschäften zu kaufen; dass wir an Obstplantagen Wache hielten, um arabische Arbeiter daran zu hindern, dort Arbeit zu finden; dass wir Benzin auf arabische Tomaten schütteten; daß wir jüdische Frauen attackierten und die arabischen Eier, die sie gekauft hatten, vernichteten; dass wir den Jüdischen Nationalfonds hochpriesen, der Hankin nach Beirut schickte, um Land von abwesenden Großgrundbesitzern zu kaufen und die arabischen Fellachen vertrieb; dass es verboten ist, einen einzigen jüdischen Dunam an einen Araber zu verkaufen. … All das zu erklären war nicht leicht.“ (Ha’aretz, 15.11.1968)
Die führende Partei der zionistischen Arbeiterbewegung war die Achdut Avodah (,,Einheit der Arbeit“), aus der später (1930) die Mapai (Arbeiterpartei) hervorging. Ihr Führer war Ben Gurion. 1920 wurde der Gewerkschaftsverband Histadrut gegründet, insbesondere mit der Zielsetzung, die ,,Proletarisierung“ – und das hieß konkret: die ,,Eroberung der Arbeit“ – zu fordern.
Die führende Partei der zionistischen Arbeiterbewegung war die Achdut Avodah (,,Einheit der Arbeit“), aus der später (1930) die Mapai (Arbeiterpartei) hervorging. Ihr Führer war Ben Gurion. 1920 wurde der Gewerkschaftsverband Histadrut gegründet, insbesondere mit der Zielsetzung, die ,,Proletarisierung“ – und das hieß konkret: die ,,Eroberung der Arbeit“ – zu fordern. Innerhalb der Achdut Avodah und teilweise außerhalb gab es zwar auch kleinere Strömungen der zionistischen Arbeiterbewegung, die eine ,,binationale“ Lösung anstrebten; aber auch diese Gruppen und Richtungen erkannten zunächst den Vorrang des zionistischen Zusammenschlusses und der ,,Eroberung der Arbeit“ an. So beteiligte sich auch die ,,linkssozialistische“ Hashomer Hazair (Junge Garde), aus der später die Mapam (linker Flügel der heutigen Arbeiterpartei) hervorging, an Kampf- und Boykottaktionen gegen arabische Arbeiter und jene Juden, die sich nicht der ,,Eroberung der Arbeit“ beugen wollten
Die militante Siedlungs- und Arbeitspolitik der Zionisten verschärfte den Gegensatz zu den Arabern. Mehrfach kam es zu schweren Auseinandersetzungen und Unruhen. Ein Höhepunkt waren die Kämpfe am Ende der 20er Jahre, in denen Araber bewaffnet jüdische Siedlungen überfielen. Diese spontanen und gewaltsamen Ausbrüche des Protestes dienten den Zionisten wiederum als Legitimation für die Härte ihrer Politik. Der Tod von jüdischen Kindern und Frauen bei diesen Auseinandersetzungen wurde als neuerliches Pogrom angeklagt und vor allem gegen jene Juden angewandt, die weiterhin an einer (auch klassenmäßigen) Zusammenarbeit mit den Arabern festhielten.
Die zionistische Siedlungspolitik war ein Motor für die Herausbildung der arabischen Nationalbewegung. Diese hatte in Ägypten ihren Ausgang genommen (nach dem ,,Verrat“ Großbritanniens an dem arabischen Aufstand gegen das osmanische Regime), aber in Palästina nahm sie durch die unmittelbare Konfrontation mit dem Zionismus deutlichere Formen an. Klassenmäßig blieb sie allerdings beschränkt auf arabische Intellektuelle einerseits, die auf eine Renaissance der verschütteten arabischen Kultur und Sprache hinwirkten, und auf die Schicht der Großgrundbesitzer andererseits. Diese hatten lange von den zionistischen Landkäufen profitiert, sahen aber ihren Einfluss durch das weitere Vordringen der Zionisten bedroht. Sie stellten bis zur Gründung des Staates Israel hauptsächlich die Führung des arabischen Widerstandes. Die breiten Volksschichten, Landarbeiter und von der Enteignung bedrohte Fellachen, konnten sich als ,,Entwurzelte“ oder Bauern kaum organisieren. Dieser fehlende klassenmäßige Zusammenhang überließ den feudalen Schichten die Führung und war auch der wesentliche Grund dafür, dass die mehrfachen Aufstandsversuche, zuletzt 1936, letztlich scheiterten.
Die zionistische Gemeinschaft, die durch ihre Interessenlage und die Festigung ihrer ökonomischen Basis einen hohen Grad an Einheitlichkeit und Geschlossenheit hatte, konnte sich so Stück für Stück durchsetzen.
Die ,,Wagenburg“ wird zum Staat
Bis in den zweiten Weltkrieg hinein war – sowohl für die zionistische Politik wie den arabischen Widerstand – die Politik der britischen Großmacht entscheidend. Großbritannien, das seine Kolonialpolitik nie auf nur eine Volksgruppe gestützt hatte, sondern jeweils die ,,Schwächeren“ gegen die ,,Stärkeren“ hetzte, benutzte wechselweise die zionistische Politik als Gegengewicht zu der wachsenden arabischen Nationalbewegung und die Proteste der Araber gegen das drohende zionistische Übergewicht. Als Mittel diente ihr dazu die Einwanderungspolitik, die ,,Quotierung“ der Einwanderungszahlen.
Sowohl unter den Führern des arabischen Lagers wie innerhalb des Zionismus war das Verhältnis zur britischen Mandatsmacht gespalten. Diese Widersprüche spitzten sich mit dem deutschen Faschismus zu. Die veränderten europäischen Machtkonstellationen wirkten auch nach Palästina hinein, wo zur gleichen Zeit die Auseinandersetzungen zwischen Zionisten und Arabern auf die Spitze trieben. Ein Teil der feudalen Führung des arabischen Widerstandes suchte den Kontakt zu den faschistischen Achsenmächten, so bei dem spektakulären Besuch des Großmufti von Jerusalem in Berlin. Umgekehrt gab es in der zionistischen Führung Widersprüche über die weitere weltpolitische Orientierung.
Ein Flügel, um Weizmann, setzte auf eine festere Bindung an Großbritannien, ein anderer – um Ben Gurion – auf die USA; teils wegen deren stärker gewordenen Rolle im kapitalistischen Lager, teils wegen der engen Verbindung mit der zionistischen Lobby in den USA.
Mit der Judenverfolgung im faschistischen Deutschland setzte eine neue – und bis dahin größte – Einwanderungswelle in Palästina ein. Die britische Mandatsmacht war kaum in der Lage, diese Flüchtlingsströme aufzuhalten. Nach den vorangegangen Kämpfen im Innern Palästinas bedeutete dieses Anwachsen des jüdischen Gemeinwesens die Erfüllung der zionistischen Hoffnung. Von Anbeginn hatten die Zionisten nicht nur auf die militante Verdrängung der Araber durch den organisierten Zionismus gesetzt, sondern auch auf das zahlenmäßige Wachstum der Juden in Palästina. Dies sollte die Berechtigung für einen nur-jüdischen Staat schaffen.
Noch vor dem Krieg war Großbritannien kaum noch in der Lage, die Situation in Palästina zu beherrschen. Ein entscheidender Durchbruch – zugunsten des Zionismus – war der arabische Aufstand 1936. Großbritannien mußte nun auch im Eigeninteresse (entsprechend der Logik seiner ,,Schaukelpolitik“) die Schleusen für den Zustrom der Einwanderer wieder offen halten.
Umgekehrt bedeutete die Niederlage im Aufstand eine langandauernde Schwächung des arabischen Widerstandes. Der Zweite Weltkrieg brachte nun – nicht nur in Palästina – das Ende des britischen ,,Empire“, das weder finanziell noch politisch (angesichts der erstarkenden Nationalbewegungen) aufrechtzuerhalten war. Zwar kämpften sowohl Araber wie Zionisten auf Seiten der Briten, aber im zionistischen Lager entschied sich im Krieg die Bündnisfrage. Der Flügel um Ben Gurion setzte sich mit seiner amerikanischen Orientierung durch, was 1942 mit dem ,,Biltmore-Abkommen“ besiegelt wurde. Die britische Mandatszeit lief offiziell 1948 ab, bis dahin mussten – in der neu entstandenen weltpolitischen und regionalen Situation -,,vollendete Verhältnisse“ geschaffen werden. Als am Ende des Krieges wieder Massen von Juden auf dem Weg nach Palästina waren, war der bewaffnete Kampf schon im Gange. Die zionistischen Militär- und Terrororganisationen ,,Haganah“ (aus der die israelische Armee entstand) und ,,Irgun“ (unter Führung von Menachem Begin) nahmen den Kampf gegen die britische Mandatsmacht auf. Während der Agonie des britischen Mandats wurden von der neu entstandenen Institution der ,,Vereinten Nationen“ verschiedene Teilungspläne für Palästina verhandelt. Keiner, auch nicht der letztlich verabschiedete, entsprach den Zielen der Zionisten. Noch in der Nacht, in der die offizielle Mandatszeit der Briten auslief, proklamierte Ben Gurion den neuen Staat Israel, und es begann der erste Nah-Ost-Krieg, in dem durch militärische Expansion und Besetzung das heutige Kerngebiet Israels durchgesetzt wurde. Die Durchsetzung des israelischen Staatsgebiets war verbunden mit der massenhaften Vertreibung der Araber von Grund und Boden, aus ihren Häusern und Städten. Die Geburtsstunde des Staates Israel ist auch die Geburtsstunde der palästinensischen Flüchtlingslager in den arabischen Ländern.
II. Zionismus und Faschismus in Deutschland
In der politischen Auseinandersetzung mit der israelischen Politik und dem Zionismus hat man es immer wieder mit falschen oder oberflächlichen Gleichsetzungen zu tun, zum Beispiel: Antizionismus ist Antisemtismus, oder auch: Zionismus ist Faschismus. Einerseits: die zionistischen Organisationen und deren Vertreter sind heute schnell bei der Hand, politische Gegnerschaft gegen den Zionismus und Kritik am Staat Israel als Antisemitismus abzutun. Sie finden dabei Unterstützung in sämtlichen bürgerlichen Medien. Aber was beweist das anderes, als daß sie zu einer sachlichen Auseinandersetzung nicht fähig sind, weil ihre politische Positionen schwach sind. Andererseits: auch wenn angesichts der barbarischen Methoden, die in den von Israel besetzten Gebieten und Israel selbst gegen Palästinenser angewandt werden, jetzt oft zu hören ist, daß es die Zionisten (oder Juden) ja fast so schlimm treiben wie die Nazis, und wenn auch manche Maßnahmen der israelischen Regierung und Armee in den besetzten Gebieten an die der deutschen Besatzungsarmeen im zweiten Weltkrieg erinnern, wäre es falsch, Zionismus und Nationalsozialismus gleichzusetzen.
Das Besondere des Faschismus als kapitalistische Herrschaftsform
Der Nationalsozialismus ist eine Form der bürgerlichen Klassenherrschaft, die Diktatur, die (bürgerlich-) parlamentarische Demokratie ist eine andere Form bürgerlicher Herrschaft. Der Zionismus ist seinem Wesen nach eine bürgerliche Bewegung, aber in der Form keine faschistische. Verwechslungen der kapitalistischen Herrschaftsformen – oder auch das Verwischen der Grenzen zwischen ihnen – kommt immer wieder zustande, wenn man ihre Erscheinungen für ihr Wesen hält. So ist im allgemeinen Verständnis in der BRD Faschismus identisch mit Anwendung äußerster Gewalt und staatlichem Terror. Das Besondere der nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland war aber nicht die Anwendung von Gewalt und Terror, die finden wir in allen Klassengesellschaften in dieser oder jener Form, heutzutage zum Beispiel bei Militärdiktaturen in Lateinamerika. Was den Faschismus wesentlich ausmacht (und nicht nur in Deutschland), ist die Tatsache, daß er eine Massenbewegung war, die vor allem kleinbürgerliche und lumpenproletarische Massen organisierte, den Terror gegen die Klassenorganisationen der Arbeiter auf die Spitze trieb und dabei von den herrschenden Finanz- und Industriekreisen ausgerüstet und finanziert wurde. Die herrschende Klasse war 1933 nicht mehr in der Lage, ihre Herrschaft mit demokratisch-parlamentarischen Mitteln, aber auch nicht mithilfe der staatlichen Unterdrückungsapparate (Militär und Polizei, also mit einer Militärdiktatur) aufrechtzuerhalten. Die Bourgeoisie mußte der NSDAP und deren SA und SS die politische Macht überlasssen, um die eigene wirtschaftliche Macht zu retten, um insgesamt die bürgerliche Ordnung vor dem Untergang (der proletarischen Revolution) zu bewahren.
Juden, Bürgertum und Zionisten 1933
Die jüdischen Gemeinden und die deutschen Zionisten standen am Ende der Weimarer Republik genauso wie alle anderen bürgerlichen Organisationen vor der Frage: Unterwerfung unter den Nationalsozialismus oder Aufnahme des Kampfes gegen die faschisiische Bewegung. Der Kampf gegen den Faschismus bedeutete aber: Bürgerkrieg und die Gefahr der sozialen Revolution. Die deutschen Zionistenverbände schreckten vor der drohenden sozialen Revolution genauso zurück wie die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften. Peter Glotz hat es im vergangenen Jahr in der ,,Welt“ als den besonderen Verdienst der Führung der SPD – Ebert, Scheidemann und Noske – ausgegeben, daß sie das deutsche Bürgertum 1919 vor dem Ansturm der revolutionären Arbeiter gerettet hat. Es ist auch der Verdienst der Sozialdemokratie, die Machtergreifung der Nazis ohne ernsthaften Widerstand hingenommen zu haben, und es bleibt der ,,Verdienst“ der Gewerkschaften, vor den Nazis kampflos kapituliert zu haben. Alle bürgerlichen Parteien haben den ersten Schlag der Nationalsozialisten nach ihrer Regierungsübernahme gegen die Kommunisten begrüßt oder stillschweigend hingenommen. Die Furcht vor der sozialen Revolution machte sie zu Wegbereitern der nationalsozialistischen Machtergreifung. Davon haben sich auch die meisten Repräsentanten der jüdischen Gemeinden und die deutschen Zionisten nicht unterschieden. Gemeinsam mit den bürgerlichen Parteien hegten sie die Hoffnung, die Nazis würden es bei der Verfolgung der Kommunisten belassen, und ebenso wie die bürgerlichen Liberalen glaubten sie, daß Anbiederung Schonung gewährleisten würde.
Zwischen den jüdischen Gemeinden und den Zionisten gab es aber auch große Unterschiede. Im Deutschen Reich waren bürgerlich-jüdischen Organisationen (mit Ausnahme der „Zionistischen Vereinigung für Deutschland“) und die große Mehrheit des jüdischen Bevölkerungsteils Gegner des Zionismus: Der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, der „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“. Die „nationaldeutschen Juden“ – sie alle betrachteten das Deutsche Reich als ihr Vaterland. Die zionistische Bewegung hatte daher bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre in der jüdischen Bevölkerung nur eine untergeordnete Rolle (Wohlfahrt mit den armen Ostjuden) gespielt. Die „Zionistische Vereinigung für Deutschland“ (ZVfD) setzte sich selber aus verschiedenen politischen Gruppierungen zusammen, die sich oft heftig bekämpften von rechtsradikalen Zionisten (die mit der nationalistischen deutschen Ideologie sympathisierten) bis zu sozialistisch-zionistischen Gruppen, die besonders bei den aus Rußland und Polen kommenden Ostjuden Einfluß besaßen. Unter diesen war die sozialistisch-zionistische Orientierung am weitesten verbreitet. Ein Teil von ihnen wandte sich auch vom Zionismus ab – hin zur kommunistischen Bewegung, die einen Bruch mit dem Zionismus bedeutete. Für die kommunistische Bewegung stand der Klassengegensatz an erster Stelle. Die Aufsplitterung unter den Zionisten entsprach der Aufsplitterung in der bürgerlichen Gesellschaft im allgemeinen. So wie die jüdische Bevölkerung verschiedenen deutschen Parteien angehörte, aktiv in ihnen wirkte oder sie wählte, so war auch die politische Aufsplitterung der Zionisten. Waren die nicht-zionistischen Juden in erster Linie loyale Staatsbürger und erst in zweiter Linie Anhänger des jüdischen Glaubens oder Traditionen, mußte bei den Zionisten die jüdische Volksgemeinschaft an erster Stelle stehen. Wer sich zur jüdischen Volksgemeinschaft bekannte, durfte dann auch faschistischer oder sozialistischer Ideologie anhängen. Nur eines galt als absolute und unverzeihliche Sünde: aus der jüdischen Volksgemeinschaft auszubrechen und sich der kommunistischen Bewegung anzuschließen. Wer das tat, wurde als Abtrünniger angesehen und verfolgt, was sich nach 1933 unter den Bedingungen der Naziherrschaft als schwerwiegend auswirkte, einer Denunziation gleichkommen konnte. Denn Kommunist zu sein und aus der jüdischen Bevölkerung zu kommen, war für die Nazis doppelt verabscheuungswürdig.
Nationalsozialismus und Zionismus
Von einer Übereinstimmung der ZVfD bzw. des Zionismus mit den Zielen des Nationalsozialismus kann nur in der Hinsicht gesprochen werden, daß der Nationalsozialismus an der Macht und der Zionismus in Deutschland in den Zielen ihrer Politik auf einigen Gebieten einander sehr nahe kamen. Die Nazis wollten Deutschland ,,judenrein“ machen, die Zionisten waren für die Auswanderung der Juden nach Palästina. Beide vertraten rassistische Theorien: „Das zionistische Programm begreift die Auffassung eines einheitlichen ungeteilten Judentums auf nationaler Grundlage in sich. Kriterium des Judentums ist hiernach nicht ein religiöses Bekenntnis, sondern das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Volksgemeinschaft, die, durch Gemeinsamkeit des Blutes und der Geschichte verbunden, gewillt ist, ihre nationale Identität zu erhalten.“ (Gerhard Hold- heim, zionistischer Funktionär, 1930 in den ,,Süddeutschen Monatsheften“) Daher schien die zionistische Bewegung in Deutschland von allen bürgerlichen jüdischen Organisationen oder Parteien für die nationalsozialistische Zielsetzung 1933 die geeignetste zu sein; jedenfalls geeigneter als diejenigen, die für die Assimilation waren und Deutschland als ihr Vaterland betrachteten: „Der Zionismus muß tatkräftig unterstützt werden, um jährlich eine zu bestimmende Zahl deutscher Juden nach Palästina oder überhaupt über die Grenze zu befördern.“ (Alfred Rosenberg, NSDAP-Ideologe, in: „Die Spur des Juden“, München 1937) Eine gefährliche Nähe ergab sich beispielsweise in der Frage der Rassengesetze. So heißt es in der Beilage zur Zeitschrift ,,Parlament“ (April 1988): „Daß das Nürnberger Verbot der Mischehen auch jüdischen /Interessen entgegenkam, war nur der Zionist Georg Kareski auszuplaudern unvorsichtig genug. Er war in der Zeit der Weimarer Republik einer der prominentesten nationaljüdischen Gemeindepolitiker und zeitweise Vorsteher der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gewesen. Immer noch waren die Zionisten überzeugt, daß nicht die Assimilation, sondern nur die stolze Behauptung eines nationalen Judentums dem Antisemitismus entgegenwirken könnte.“ Die Nürnberger Gesetze waren eine der barbarischsten Maßnahmen der Nazis vor der Judenvernichtung in den vierziger Jahren. Sie verboten gesellschaftliche und individuelle Verbindung von Juden und „Ariern“. Solche Verbindungen galten als Verbrechen gegen das ,,deutsche Blut“. KZ, Gefängnis und sogar Todesstrafen gegen solch illegalen Verbindungen waren an der Tagesordnung, sofern sie durch Denunziation den Nazi-Institutionen bekannt wurden. Die Verfolgung von Juden und Nicht-Juden, die miteinander verkehrten, war eines der Hauptanliegen von Hetzblättern wie dem „Stürmer“, der das Spießrutenlaufen von Menschen, die gegen die „Nürnberger Gesetze“ verstießen, durch Städte und Dörfer organisierte. In der Beilage zum „Parlament“ heißt es, Georg Kareski glaubte die Nationalsozialisten „für eine – wie er sich ausdrückte – geordnete Liquidation, einen Zwangsvergleich anstelle eines Konkurses des deutschen Judentums, d. h. eine organisierte Massenauswanderung auch dadurch gewinnen zu können, daß er die anderen deutschen Zionisten als marxistisch denunzierte“. Wenn er seine engeren ideologischen Freunde schon so behandelte, wie berechtigt war es, daß jüdische Kommunisten sich vor seinen „guten“ Beziehungen zu den Nazis hüten mußten.
Zionisten waren auch für jüdische Schulen, bevor die Nationalsozialisten jüdische Kinder vom Besuch allgemeiner Schulen ausschlossen und zum Besuch jüdischer Schulen zwangen. Bevor die Nationalsozialisten die Kennzeichnung der Juden im öffentlichen Leben anordneten, erklärte das Organ der ,,Zionistischen Vereinigung für Deutschland“ (ZVfD), die ,,Jüdische Rundschau“ 1933: „Tragt ihn mit Stolz – den gelben Fleck! “ Die „Jüdische Rundschau“ war die von den Nazis zugelassene jüdische Zeitung. Während alle anderen jüdischen Zeitungen sehr bald nach der nationalsozialistischen Machtergreifung ihr Erscheinen einstellen mußten, erschien die „Jüdische Rundschau“ bis 1938! Lediglich ihr Verkauf an Nichtjuden war seit Ende 1933 verboten. Der Chefredakteur der „Jüdischen Rundschau“, Robert Weltsch, erklärte wenige Tage vor dem Regierungsantritt Hitlers, Januar 1933, bei einer Vorstandssitzung der ZVfD: „Die antiliberale Welt im Deutschtum begegnet sich mit der antiliberalen Stellungnahme des Zionismus, und wir stehen hier vor der Chance, zwar nicht die Basis der Verständigung, aber die Basis einer Auseinandersetzung gefunden zu haben.“ (Nach: K. Polkehn, Der Zionismus im Komplott mit dem Nationalsozialismus, Klartexte 9, Freiburg 1983)
Die Frage der Kollaboration mit Nazi-Deutschland entstand sogar in Palästina selber. Israel wird bis heute nicht müde, die Tatsache auszuschlachten, daß Teile der feudalen arabischen Opposition Unterstützung bei den Nazis suchten (siehe dazu auch den Artikel über die Geschichte des Zionismus in diesem Heft). Unter den Zionisten gab es aber ebenso Gruppen, die bereit waren, mit Nazi-Deutschland und Italien gegen Großbritannien zu kämpfen, das sie – neben den arabischen Massen – als ihren Hauptfeind betrachteten. Dieser militärischen Organisation („Lechi“), die auch durch Abgesandte mit den Nazis während des Krieges verhandelte, ihnen Vorschläge machte für die Zusammenarbeit nach einem deutschen Sieg, gehörte auch der heutige israelische Ministerpräsident Schamir an.
Zionismus und Arbeiterbewegung in Deutschland
Die zionistischen Organisationen sind bereits in der Weimarer Republik der politischen Auseinandersetzung oft mit dem Argument ausgewichen, Kommunisten und Sozialisten, die gegen den Zionismus seien, seien antisemitisch und antijüdisch. Dieser Vorwurf traf auch Karl Marx, Rosa Luxemburg und andere Revolutionäre jüdischer Herkunft. Die Weltwirtschaftskrise hatte die Polarisierung der deutschen Bevölkerung vorangetrieben, das „Volk“ in der Hauptsache in zwei Lager geteilt, die Arbeiterklasse hier und die herrschende Klasse dort. Das hatte auch auf die jüdische Bevölkerung Auswirkungen. In der Arbeiterklasse drückte sich das in dem scharfen Gegensatz der organisierten Arbeiter gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft und deren Organisationen aus. So gab es eine starke Arbeitersportbewegung, die nichts mit den bürgerlichen Sportvereinen zu tun hatte, es gab Jugendorganisationen, Wandervereine, die allesamt in politischem Gegensatz zu den bürgerlichen Organisationen aktiv waren.
Auf der anderen Seite gab es bürgerliche Sportvereine, die Juden zum Teil nicht aufnahmen (Deutscher Sportclub, Deutsch-Österreichischer Alpenverein u.a.); vor allem Organisationen, die unter ideologischem Einfluß nationalistischer deutscher Kreise standen, hatten starke antisemtische Tendenzen (wie der ,,Verein für das Deutschtum im Ausland“). Solche Beschränkungen und Tendenzen hat es in den Arbeiterorganisationen nie gegeben. Viele junge Juden aus kleinbürgerlichen und bürgerlichen Schichten fühlten sich daher zur Arbeiterbewegung hingezogen. Dagegen waren nun Zionisten die treibende Kraft, jüdische Sportorganisationen, Schüler- und Stundentenbünde usw. zu gründen, um junge Juden von der Arbeiterbewegung fernzuhalten.
Der zionistische Nationalismus heute
Nach dem Krieg forderten die israelischen und zionistischen Institutionen alle Juden, insbesondere jene, die in den Ländern überlebten, die am stärksten unter der Naziherrschaft gelitten hatten, zur Einwanderung nach Israel auf. Israel lag daran, als Sprecher der Juden in der Welt auftreten zu können. Für das eigene Staatsgefüge propagierte und propagiert Israel das ,,jüdische Nationalbewußtsein“. So wenig wie die Flüchtlinge der 30er und 40er Jahre „nationalbewußte“ Juden waren, sondern lediglich auf der Suche nach Schutz nach Palästina kamen, so wenig Resonanz hat das ,,jüdische Nationalbewußtsein“ seither gehabt. Die meisten Juden, die aus Rußland auswandern wollen, wollen in die USA, die Auswanderung der israelischen Juden übersteigt schon lange die Einwanderungszahlen. Welche national-jüdische Überzeugung müssen die aus dem Ostblock und der Sowjetunion auswandernden Juden haben, wenn die israelische Regierung nach Mitteln und Wegen sucht, ihnen nach dem Verlassen der SU alle Emigrations-Wege zu versperren – außer dem nach Israel. In diesem Zusammenhang stehen ihre Verhandlungen über eine direkte Flugverbindung Moskau-Tel Aviv: Kanonenfutter für die kommenden Auseinandersetzungen mit der arabischen Bevölkerung! Nachdem der Zionismus in Deutschland mit allen Mitteln versucht hat, der Klassenfrage auszuweichen, indem die Fiktion einer ,,jüdischen Volksgemeinschaft“ aufgebaut wurde, holt ihn nun der Klassengegensatz zuerst in Gestalt des palästinensischen Widerstandes wieder ein. Die Zersetzung des „nationalen Konsenses“ in Israel wird mittlerweile am klarsten von israelischen und proisraelischen Kräften festgestellt. Zu Beginn dieses Jahrhunderts stellte sich der Zionismus in Osteuropa der beginnenden revolutionären Bewegung mit der Forderung entgegen, die Juden sollten nach Palästina gebracht werden, um dort einen jüdisch-nationalen Sozialismus aufzubauen. Der Versuch, Zionismus und Sozialismus mit einer nationalen Wiedergeburt des jüdischen Volkes zu verbinden, ist gescheitert. Die Nachfolger der Gründergeneration befinden sich mit Partei und Gewerkschaften in heilloser Verwirrung, es fehlt ihnen jede Perspektive. Die gewerkschaftlich-gemeinwirtschaftlichen Unternehmen, die einen großen Anteil an der israelischen Wirtschaft haben, die Krankenversicherung, ein besonderes Vorzeigeobjekt, die landwirtschaftlichen Genossenschaften und Kibbuzim stecken in tiefen wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten. Nur mit staatlichen Krediten und Finanzhilfen aus dem Ausland, vor allem den USA, können sie am Leben erhalten werden. Die zum Ausbruch aus den Ghettos Polens und Rußlands durch Einwanderung nach Palästina riefen, haben in Israel ein noch größeres Ghetto inmitten der arabischen Welt geschaffen. Der Staat Israel hat eine der technisch hochqualifiziertesten Armeen und eine leistungsfähige Infrastruktur im Lande geschaffen. Aber die hochqualifizierte Technik kann keine politische und gesellschaftliche Perspektive ersetzen. Der Staat Israel kann in den besetzten Gebieten nur noch um sich schlagen, um zu versuchen, die eigene Existenz zu sichern. Unter diesen Bedingungen zersetzt sich auch das parlamentarische System des Interessenausgleichs,und der Ruf nach der„starken Hand“ wird lauter. Dahinein paßt die reaktionäre Ideologie, die die Bibeltexte des Alten Testaments zur Legitimation der Vertreibungs- und Unterdrückungspolitik in den besetzten Gebieten benutzt. Frühere humanistische Vorstellungen aufgeklärter jüdischer Bürger sind schon längst unter den Militärstiefeln zertreten. Die unterschiedlichen religiösen und ethnischen Gruppen aus den verschiedensten Teilen der Welt, die in Palästina eine „nationale Heimstätte“ finden wollten, konnten nicht zu einer Nation geformt werden. Die westeuropäisch-liberalen Vorstellungen (wie etwa Trennung von Staat und Religion, Geistlichkeit), die früher noch von der israelischen Sozialdemokratie vertreten wurden, sind ohne Grundlage. Die Tatsache, daß Nationalsozialismus und Zionismus nicht gleichzusetzen sind, heißt keineswegs, daß eine faschistische Entwicklung in Zukunft in Israel unmöglich wäre. Jede bürgerlich-kapitalistische Ordnung kann ihren Ausweg in einer faschistischen Diktatur nehmen.
III. Judenfrage und Judenvernichtung im deutschen Faschismus
Versuche von bürgerlicher Seite, das ,,Trauma der deutschen Geschichte abzuschütteln“, haben sich in den letzten Jahren verstärkt. Auf der einen Seite will Bundeskanzler Kohl für sich die ,,Gnade der späten Geburt“ in Anspruch nehmen und über den Soldatengräbern von Bitburg demonstrieren, daß das Vergangene auch vergessen werden müsse. Auf der anderen Seite veröffentlicht die ,,Frankfurter Allgemeine Zeitung“ 1986 und 1987 eine Vielzahl von Beiträgen ,,namhafter“ bundesdeutscher Historiker, die sich bemühen, die faschistische Vergangenheit nicht zu vergessen, sondern ,,neu zu interpretieren“. Hier wird der deutsche Faschismus als Reaktion auf die ,,bolschewistische Gefahr“ und der Krieg gegen die Sowjetunion als Verteidigungskrieg dargestellt. Das wird mit der Schlußfolgerung verbunden, das faschistische Deutschland habe bereits vor 1945 den richtigen Gegner im Visier gehabt: dieselbe Sowjetunion, zu deren Niederringung sich das kapitalistische Lager nach dem 2. Weltkrieg zusammenschloß. Die Massenvernichtung der europäischen Juden erscheint – insbesondere bei Ernst Nolte – als Angstreaktion auf den ,,bolschewistischen Terror“ und die “kommunistische Gefahr“ oder gar als normale Kriegshandlung, da der Präsident des Jüdischen Weltkongreß 1939 dem Deutschen Reich den Krieg erklärt habe. Dieser Vorstoß steht in engem Zusammenhang mit tiefgreifenden Veränderungen, auf die sich ein Teil der herrschenden Klasse einstellt. Die Ausgrenzung von Millionen aus dem Produktionsprozeß und der wachsende Druck auf die Beschäftigten haben bereits die Klassenpolarisierung in der BRD vorangetrieben. Das Vertrauen in die Einrichtungen des bundesdeutschen Staates bröckelt in weiten Teilen der Bevölkerung.
Für die Zukunft sehen Teile der Herrschenden im Inneren massive Angriffe auf Kernbereiche der Arbeiterschaft und auf Kranken- Arbeitslosen- und Rentenversicherung als unvermeidlich an. Nach außen wird eine stärkere Einbindung in internationale militärische Konflikte von ihnen angestrebt oder von den ,,Bündnispartnern“ erwartet. Darauf beginnen sich diese Teile der Bourgeoisie auch ideologisch einzustellen. Um die anstehenden Konflikte durchzustehen, müssen Teile der kleinbürgerlichen Schichten in der BRD-Bevölkerung in eine agressive Kapitalpolitik nach innen und außen eingebunden werden. Dazu reicht die bisherige Grundlage von ,,demokratischer Volksgemeinschaft“ nicht aus.
Der Versuch, vom Standpunkt der herrschenden Klasse aus ein positives Verhältnis zu den Zielen, Maßnahmen und Ergebnissen der faschistischen Klassenherrschaft zu gewinnen, ist ein Teil der Anstrengungen, neue ideologische Grundlagen zu schaffen. Damit sollen vor allem die ideologischen Schranken, die der BRD-Bourgeoisie nach 1945 durch die Besatzungspolitik gesetzt worden sind, beseitigt werden.
Abgesehen von wenigen marxistischen Stellungnahmen in der ,,Historikerdebatte“, waren die Antworten auf diese Vorstöße durch das Bemühen geprägt, einen reaktionären Einbruch zu verhindern. Die Mittel dazu waren die Betonung der Einzigartigkeit des deutschen Faschismus, seiner Barbarei und Verbrechen, insbesondere der Judenvernichtung, also das Festhalten am bisherigen, durch die Kollektivschuldthese geprägten Faschismusbild. Damit beziehen sich diese Antworten auf einen (scheinbar gemeinsamen) ideologischen Boden, den die Nolte und Stürmer bereits verlassen. Gegenüber dem Bemühen von Teilen der BRD-Bourgeoisie, sich den Faschismus wieder als Teil ihrer Herrschaftsgeschichte anzueignen, das sich in der ,,Historikerdebatte“ ausdrückt, müssen solche Versuche, den Faschismus als nationale Katastrophe darzustellen, hilflos bleiben.
Für diejenigen, die in der beginnenden Klassenpolarisierung in der BRD im Gegensatz zur Bourgeoisie stehen, kann eine Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus nur darin bestehen, in seinem Wesen und in seinen Erscheinungen seinen Klassencharakter zu begreifen und herauszuarbeiten. Das setzt auch von dieser Seite die Ablehnung und Bekämpfung der Kollektivschuldideologie voraus. Für die Aneignung der eigenen Geschichte, also der Geschichte der revolutionären Bewegung in Deutschland, ist das von entscheidender Bedeutung.
Die Massenvernichtung von sechs Millionen europäischen Juden, ihre mit technisch-bürokratischer Perfektion gepaarte Brutalität und Perversion, ihr menschenverachtender Zynismus ist wegen ihrer Dimension unter allen Folgen der faschistischen Herrschaft am schwersten auf die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Klassenverhältnisse in Deutschland zurückzuführen. Jeder Versuch setzt sich dem Vorwurf der Verharmlosung der Judenvernichtung aus. Diesen Versuch aber nicht zu unternehmen, die Judenvernichtung als Folge der faschistischen Ideologie, als Verwirklichung von Hitlers ,,Mein Kampf“ oder gar Tat eines ,,geisteskranken Führers, dessen Befehlen andere nur gefolgt sind“, zu erklären, heißt jedoch, die Judenvernichtung als im Grunde unbegreifliches Unglück und damit als historischen Zufall darzustellen. Der Klassencharkter des Faschismus bleibt bei dieser Erklärung entweder völlig im Dunkeln oder wird zu einer Nebenerklärung, die ,,auch noch wichtig ist“. Das bedeutet nicht nur Verharmlosung des Faschismus, sondern vor allem Freisprechen der gesellschaftlichen Kräfte, die den Faschismus getragen haben.
Faschismus in Deutschland
Die Errichtung der Weimarer Republik war zugleich die Niederlage der proletarischen Revolution in Deutschland. Die materiellen Zugeständnisse, wie den 8-Stunden-Tag, die erforderlich gewesen waren, um – zusammen mit der Führung der SPD und der Gewerkschaften – die bürgerliche Herrschaft nach dem Krieg zu sichern, konnte das deutsche Kapital in den Jahren nach der Novemberrevolution weitgehend wieder zurücknehmen.
Daß die Weimarer Republik – trotz der Zurückschlagung des revolutionären Ansturms und der politischen Spaltung der Arbeiterbewegung – jedoch den Boden für die organisatorische und politische Entfaltung der Arbeiterorganisationen im allgemeinen und ihres revolutionären kommunistischen Teils im besonderen bot, war auf dem Boden von Weimar nicht rückgängig zu machen.
Als mit der Weltwirtschaftskrise ab 1928 mit dem wirtschaftlichen Zerfall auch die politischen Institutionen der bürgerlichen Demokratie in Deutschland sich zunehmend zersetzten, waren diese Arbeiterorganisationen nicht nur ein Hemmnis für den ökonomischen Angriff des Kapitals. Sie waren vor allem – trotz der sich in der Krise noch vertiefenden Kluft zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeitern – die Punkte, von denen eine erneute revolutionäre Bedrohung ausgehen konnte, wenn es dem Kapital nicht gelang, die Krise der bürgerlichen Herrschaft in seinem Sinne zu lösen.
Eine Lösung im bürgerlichen Sinne war im Rahmen der Weimarer Republik – also durch Ausnutzen der wirtschaftlichen Schwächung der Gewerkschaften in der Krise, Beschneiden der politischen Rechte der Arbeiterorganisationen usw. – nicht möglich. Sie setzte die Zerschlagung der Arbeiterorganisationen und damit die Sprengung der bürgerlichen Demokratie voraus. Nur dadurch konnten die Voraussetzungen für eine neue Offensive des deutschen Imperialismus an der inneren Klassenfront und in seinem Verhältnis zur Sowjetunion und zu den Siegermächten des 1. Weltkriegs geschaffen werden.
Proletarische Revolution oder Faschismus, das ist die Alternative, auf die sich der Klassengegensatz in Deutschland seit 1928 zuspitzt. Die Verantwortung der deutschen Arbeiterbewegung im allgemeinen für den deutschen Faschismus besteht in nichts anderem als in ihrem Versagen, die bürgerliche Herrschaft durch die sozialistische Revolution zu beseitigen. Zur Zerschlagung und vor allem zur dauerhaften Niederhaltung der Arbeiterorganisationen reichten die Polizei und die (nach Versailles noch schwachen) Kräfte der Reichswehr nicht aus. Es sind die – weitgehend von den Unternehmern finanzierten – faschistischen Massenorganisation, die diese Aufgabe erfüllen können und sie nach der Machtübernahme des Faschismus 1933 erfüllen. Und es ist die kleinbürgerliche und lumpenproletarische Massenbasis des Faschismus, die der reaktionären Lösung der Krise der bürgerlichen Herrschaft in Deutschland die erforderliche politische Unterstützung sichert. Die Massengrundlage des Faschismus ist keineswegs nur Beiwerk, sondern in diesem doppelten Sinne entscheidend für die faschistische Machtergreifung und die faschistische Herrschaft.
Die deutsche Bourgeoisie mußte – ohne daß ihr das 1933 besonders schwer gefallen wäre – die Aufgabe der politischen Macht und die Zerschlagung (oder Gleichschaltung) auch ihrer politischen Organisationen und Einrichtungen (Parteien, Presse, Kultur …), die politische Diktatur des Faschismus in Kauf nehmen, um ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Herrschaft erhalten zu können und die soziale Revolution zu verhindern.
Der kleinbürgerliche Charakter der faschistischen Bewegung
Die faschistische Bewegung drückte (wie die faschistische Ideologie) die widersprüchlichen Interessen eines wichtigen Teils des deutschen Kleinbürgertums (selbstständige Kaufleute und Handwerker, Kleingewerbetreibende, Freiberufler, Teile der Staatsangestellten und der Intelligenz) unter den wirtschaftlichen und politischen Bedingungen des Klassenkampfs in der Weimarer Republik aus. Dieser kleinbürgerliche Charakter der Bewegung änderte sich auch nicht, als es der NSDAP in den letzten Jahren der Weimarer Republik und dann während ihrer Herrschaft gelang, Teile der Bauernschaft und politisch unbewußte oder ins Lumpenproletariat abgesunkene Teile der Arbeiterschaft an sich zu binden. In den Kern der (ehemals) organisierten Arbeiterschaft ist sie auch bis zum Ende ihrer Herrschaft nicht eingedrungen.
Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung des Kleinbürgertums war in Deutschland durch den fortschreitenden (und nach 1924 noch beschleunigten) Konzentrationsprozeß in der Wirtschaft, durch die Schwierigkeit, nach dem Krieg in alten Stellungen wieder Fuß zu fassen, durch die Entwertung von Sparguthaben und Rententiteln in der Inflation 1923 bereits vor der Weltwirtschaftkrise ständig bedroht. Deklassierung und Proletarisierung, der Verlust der selbständigen Stellung und des kleinen Eigentums, der Zwang, die eigene Arbeitskraft verkaufen zu müssen, anstatt ,,eigener Herr“ sein zu können, nehmen unter den Schlägen der Wirtschaftskrise sprunghaft zu.
Der Wunsch, die eigene Stellung zu erhalten, nicht aufgefressen zu werden durch die stärkere kapitalistische Konkurrenz, nicht hinabgeschleudert zu werden ins Proletariat, prägt das politische Denken der kleinbürgerlichen Massen. Sie sehen ihre Stellung bedroht sowohl durch den ,,großen“ Kapitalismus wie durch die Ziele der Arbeiterbewegung. Ideologisch in der Vorstellung befangen, einen Kapitalismus ohne die für sie zerstörerischen Auswirkungen, die Aufhebung der Klassen ohne die Zerstörung des Privateigentums an den Produktionsmitteln erreichen zu können, kann das Kleinbürgertum praktisch keine Perspektive für die Gesellschaft entwicklen, weil es aus seiner Klassenlage heraus an einem Zustand festhalten muß, der durch die tatsächliche Entwicklung immer wieder überholt wird.
Seine Rolle in den politischen Klassenauseinandersetzungen ist die eines schwankenden Elements zwischen den grundlegenden Klassenpolen von Proletariat und Bourgeoisie. Es ist nicht von vornherein politische Hilftruppe der Herrschenden. Doch nur wenn es der Arbeiterklasse in ihrer Bewegung gelingt, ihrerseits eine praktische Perspektive für die Gesellschaft aufzuzeigen, kann auch das Kleinbürgertum auf die Seite der proletarischen Revolution gezogen werden.
Daß die Arbeiterbewegung eine solche Perspektive in der Endphase der Weimarer Republik nicht aufzeigte, war die Voraussetzung für die Entfaltung einer konterrevolutionären kleinbürgerlichen Massenbewegung, auf die gestützt der Faschismus an der Macht nicht etwa die Herrschaft des Kleinbürgertums errichtete, sondern die der Bourgeoisie befestigte.
Dafür, daß eine solche Perspektive nicht entstand, tragen beide Hauptströmungen der Arbeiterbewegung, SPD und KPD, historische Verantwortung. Die Art der Verantwortung ist jedoch unterschiedlich, ja gegensätzlich.
Die besondere Verantwortung von SPD und ADGB besteht darin, daß sie einen gemeinsamen Kampf der Arbeiterschaft gegen den Faschismus aus Angst vor einer revolutionären Weiterentwicklung antifaschistischer Aktionen ablehnten. Mit der prinzipiellen Ablehnung der proletarischen Revolution als der einzig möglichen Alternative zum Faschismus ist das Versagen gegenüber der faschistischen Bewegung Folge des politischen Charakters der Sozialdemokratie.
Demgegenüber hat die KPD am Ziel der proletarischen Revolution festgehalten. Ihre besondere Verantwortung besteht darin, daß sie sich durch ihre Politik den Zugang zu den sozialdemokratischen Massen verbaute und dazu beitrug, daß diese Massen noch enger an die reformistischen Führungen gebunden wurden. Durch die Bildung eigener Gewerkschaftsorganisationen (Revolutionäre Gewerkschaftsopposition RGO) wurde der kommunistische Einfluß im ADGB aufgegeben und die Trennung zwischen kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeitern vertieft. Dieselbe Wirkung hatte die Bezeichnung der Sozialdemokratie als linker Flügel des Faschismus (Sozialfaschismus-Theorie) und die Gleichsetzung von SPD-Führung und SPD-Mitgliedern bis hin zur Beschimpfung von sozialdemokratischen Arbeitern als ,,kleine Zörgiebels“. Die Entwicklung einer proletarischen Einheitsfront gegen den Faschismus wurde durch diese falsche Taktik entscheidend gelähmt.
Die Judenfrage in der faschistischen Massenbewegung
Den Kern der faschistischen Ideologie bildet – in Widerspiegelung der schwankenden Stellung des Kleinbürgertums – die scharfe Ablehnung der Bestrebungen der Arbeiterbewegung und des Bolschewismus einerseits und die Anprangerung der ,,Auswüchse des Kapitalismus“ andererseits. Weil der Faschismus, wie das Kleinbürgertum aus seiner eigenen Bewegung heraus, die ,,Auswüchse“ nicht als notwendigen Ausdruck der kapitalistischen Gesellschaft,sondern als korrigierbaren Fehler ansehen muß, kann die ,,antikapitalistische Spitze“ sich nicht gegen die Bourgeoisie insgesamt richten. Sie muß mit der Unterscheidung von ,,gutem“ und ,,bösem“ Kapital auch Träger des ,,bösen Kapitals“ behaupten und sie von der herrschenden Klasse insgesamt trennen.
Die Unterscheidung von ,,raffendem (jüdischem)“‘ und “schaffendem (arischen)“ Kapital löst diese ideologische Aufgabe. In diesem Sinne ist Bebels Kennzeichnung des Antisemitismus als ,,Sozialismus der dummen Kerls“ zu verstehen.
Durch die Behauptung eines Weltjudentums, das verantwortlich sei
- in Gestalt des Bank- und Börsenkapitals für die ,,negativen Seiten des Kapitalismus“,
- in Gestalt des Bolschewismus und der Sozialdemokratie für die ,,kommunistische Bedrohung“ wie für die ,,Weimarer Verzichts-Demokratie“ und
- in Gestalt des konkurrierenden jüdischen Händlers, Handwerkers und Rechtsanwalts für den wachsenden Druck auf die eigene Lebenssituation werden die einander entgegengesetzten Klassenbestrebungen, die das Kleinbürgertum gleichermaßen abwehren will, ideologisch zu einem einheitlichen Feind, dem Juden, verschmolzen.
In der Ideologie der faschistischen Volksgemeinschaft sind die Gegensätze der Klassen ausgelöscht durch die Gemeinschaft der Rasse. Die Aufhebung der Klassenwidersprüche, die die kleinbürgerliche Massenbasis des Faschismus bedrohen, ist scheinbar geglückt. Widerstand gegen die faschistische Bewegung oder später gegen den ,,Staat der Volksgemeinschaft“ kann in dieser Gedankenwelt nur von ,,rassefremden Elementen“ ausgehen. Damit erscheint nicht nur der wirkliche Klassenkampf als Rassenkampf – die Bekämpfung des inneren Widerstands als ,,Ausmerzen von Volksschädlingen“, die imperialistische Expansion als ,,Kampf um Lebensraum für die arische Rasse“. Die rassistische Politik gegen die Juden, auch wenn sie selbst keinen Widerstand leisten, wird zu einem Bestandteil der faschistischen Klassenpolitik. Sie wird zu einem Teil des Versuchs, das offene Ausbrechen von Klassenwidersprüchen in der ,,Volksgemeinschaft“ zu verhindern,und verschmilzt damit mit dem Klassenterror gegen aktive Feinde des Faschismus. Damit wird auch der Terror gegen die jüdische Minderheit zur Warnung an alle, die Widerstand leisten wollen.
Daß der Antisemitismus in Deutschland diese zentrale Bedeutung für die faschistische Ideologie erlangen konnte, hat mit dem ,,Wahrheitsgehalt“ der Ideologie nichts zu tun. Im italienischen Faschismus spielte der Antisemitismus keine Rolle. Die italienischen Juden waren eine sehr kleine, zudem vollständig assimilierte Minderheit. Eine Tradition des Antisemitismus gab es in Italien nicht. In den ersten Jahren nach der faschistischen Machtergreifung in Deutschland war das faschistische Italien eines der Länder, in das deutsche Juden auswanderten. Erst unter dem Druck des deutschen Verbündeten wurden auch in Italien ab November 1938 antisemitische Gesetzte erlassen.
In Deutschland dagegen waren bereits die reaktionär-nationalistischen bürgerlichen Sammlungsbewegungen vor dem 1. Weltkrieg scharf antisemitisch gewesen. Zwar war auch die Assimilation der deutschen Juden im Verlaufe des 19. Jahrhunderts weit fortgeschritten. Dieser Prozeß wurde aber erschwert durch die Niederlage der deutschen bürgerlichen Revolution, durch die reaktionäre Ideologien und Sammlungen im Gegensatz zur Verwirklichung der bürgerlichen Gleichheitsbestrebungen größeren politischen Entfaltungsspielraum gewannen. Hinzu kam das lange Fortbestehen der Kleinstaaterei.
Entscheidend für das Wachhalten des Antisemitismus war jedoch, daß der Assimilation der traditionell in Deutschland lebenden Juden eine umfangreiche und wachsende Einwanderung von Juden aus Osteuropa gegenüberstand. Der Zerfall des Feudalismus in Osteuropa hatte zahlreiche Juden aus ihren traditionellen Stellungen als Zwischenhändler verdrängt und dazu gezwungen, in den Städten Beschäftigung zu suchen, wo sie mit einem wachsenden Antisemitismus konfrontiert waren. Wegen der schwachen Entwicklung der kapitalistischen Produktion in Osteuropa konnten nur wenige dort ein Auskommen als Handwerker oder Lohnarbeiter finden. Zwischen 1881 und 1914 wanderten über drei Millionen Juden aus Osteuropa aus, zwei Millionen allein zwischen 1900 und 1914. Damit waren die Juden die stärkste Gruppe der osteuropäischen Auswanderer. In den Ländern, in die sie gingen – USA, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Österreich, ein geringer Teil nach Palästina – siedelten sie sich in den großen Städten an. So stieg die Zahl der jüdischen Einwohner Wiens von 100 zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf 176.000 zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In den Metropolen versuchten sie in ihren traditionellen Berufen, insbesondere im Handel, Fuß zu fassen.
In Deutschland waren noch 1932 45 % der jüdischen Arbeiter und Geschäftsinhaber im Handel tätig. 26% des Einzelhandelsumsatzes entfiel auf jüdische Geschäfte. Es sind diese meist mittelständischen Fachgeschäfte, gegen die sich die Boykottaktionen faschistischer Organisationen bereits vor 1933 richteten. Daneben hatten in Deutschland Juden vor allem als Rechtsanwälte (16%) und Arzte (11%) einen bedeutenden Anteil an der Gesamtzahl der in diesen Berufen Tätigen.
Besonders im Einzelhandel gerieten die einwandernden Juden in Konkurrenz zu den Teilen des Kleinbürgertums, deren Stellung durch Wirtschaftskrise und Konzentration am stärksten bedroht war. Das bildete die Basis für die Herausbildung eines antijüdischen Rassismus bereits vor 1914 und die Grundlage für den zentralen Stellenwert des Antisemitismus in der Ideologie der faschistischen Bewegung in Deutschland.
Die Ideologie des Faschismus ist Ausdruck der widersprüchlichen Klassenlage seiner kleinbürgerlichen Massenbasis. Sie ist deshalb nicht nur Verkleisterung der tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse, sondern – weil und solange Massen sie als wirklichen Ausdruck ihrer Interessen ansehen – materieller Faktor für die Mobilisierung und das Handeln dieser Massen und für die Ansprüche, die sie stellen.
Für den Faschismus an der Macht ist der Erhalt und die Festigung seiner Massenbasis von entscheidender Bedeutung. Nicht nur, weil er aus dieser Massenbasis das Personal für seine Terrororganisationen rekrutieren muß. Ohne diese Basis kann die Kontrolle über alle Verästelungen des gesellschaftlichen Lebens nicht ausgeübt werden, die erforderlich ist, um die extremste Form der Klassenspaltung, die Atomisierung der Arbeiterklasse durch die Erstickung jedes selbständigen Organisationsansatzes, als Grundlage der ,,Volksgemeinschaft“ aufrechtzuerhalten.
Während die faschistische Führung also einerseits den materiellen und politischen Interessen ihrer Basis nachkommen muß, hat sie gleichzeitig die Interessen des Kapitals zu beachten, dessen ökonomische gesellschaftliche Herrschaft die Grundlage der politischen Macht der Faschisten ist. Sie kann den Klassenkonflikt auch zwischen Bourgeoisie und Kleinbürgertum nicht beseitigen, sondern ihn nur zu mildern und sein offenes Aufbrechen hinauszuschieben suchen.
Aus dem Widerspruch, gleichzeitig die soziale Revolution niederhalten, die Desillusionierung der faschisierten Kleinbürgermassen verhindern und die Ansprüche des Kapitals befriedigen zu müssen, entsteht der Zwang zur Expansion. Mit dem Krieg, der Ausdehnung der faschistischen Herrschaft, wird dieser Widerspruch jedoch nur ,,gelöst“, um in größerer Dimension und verschärft wieder zu entstehen. Es ist diese tödliche Dynamik der faschistischen Klassenpolitik, mit der sich die faschistische Barbarei steigert – bis zur Raserei.
Politik gegen die deutschen Juden vor dem Krieg
Nach der Machtergreifung begannen mit der Zerschlagung der politischen, gewerkschaftlichen und kulturellen Organisationen der Arbeiterbewegung und der Gleichschaltung der politischen Organisationen des Bürgertums auch schärfere Übergriffe gegen die in Deutschland lebenden Juden. Diese Übergriffe sind Teil des allgemeinen Terrors, den der Faschismus zur Errichtung und Konsolidierung seiner Herrschaft entfaltet und in dem der Kampf gegen die politischen Gegner des Faschismus mit dem Kampf gegen die Juden verschmilzt.
Das ,,Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 richtete sich nicht nur gegen ,,Marxisten“, also gegen Anhänger der Arbeiterbewegung, sondern auch gegen die Juden im Staatsdienst. In den folgenden Wochen und Monaten wurden Verordnungen gegen jüdische Anwälte und Ärzte erlassen.
Parallel dazu organisierten faschistische Massenorganisationen Boykottaktionen, Angriffe und Krawalle gegen jüdische Betriebe, insbesondere Warenhäuser und Einzelhandelsgeschäfte. Damit beginnt der Druck auf jüdische Geschäftsinhaber, ihre Geschäfte aufzugeben und (zu lächerlichen Preisen) an Gefolgsleute des Faschismus zu verkaufen. Dieser Druck führt bereits vor der gesetzlichen Ausschaltung jüdischer Gewerbetreibender aus dem allgemeinen Wirtschaftsverkehr (ab 1938) zur Aufgabe von 60-70% der jüdischen Betriebe.
Die Maßnahmen richten sich in erster Linie gegen die Sektoren der jüdischen Bevölkerung, deren unmittelbare Konkurrenz als Staatsdiener, Freiberufler oder (Einzel-)Händler einen materiellen Ansatzpunkt für den Antisemitismus der kleinbürgerlichen Massenbasis des Faschismus dargestellt hatte. Die Ausschaltung der jüdischen Konkurrenz und die Möglichkeit, als ,,alter Kämpfer“ sich an jüdischem Besitz gesundzustoßen, stellt für die Massenbasis des Faschismus die Verwirklichung von Teilen des faschistischen Programms dar und befriedigt – neben der Eroberung von Positionen im Staatsapparat, in der Deutschen Arbeitsfront und in den Unterdrückungsapparaten – ihr Verlangen nach Aufstieg und materiellem Gewinn.
Dieser Möglichkeit, durch Politik gegen die deutschen Juden zumindest Teile der eigenen Massenbasis zu mobilisieren und enger an den faschistischen Staat anzubinden, kommt für die faschistische Führung deshalb Bedeutung zu, weil sie andere Teile ihres ,,Programms“ – nämlich die Teile, die eine Spitze gegen das Großkapital enthielten – in der Zusammenarbeit mit dem Kapital, auf der ihre Herrschaft fußt, aufzugeben hat. Damit entstand aus ihrer Sicht die Notwendigkeit, einerseits die Strömungen in den faschistischen Organisationen, die mit dieser Entwicklung unzufrieden waren und ein ,,Weitertreiben der faschistischen Revolution“ forderten, auszuschalten und zu unterwerfen. Die Ermordung des SA-Chefs Röhm und seiner unmittelbaren Gefolgsleute Ende Juni 1934 diente diesem Ziel. Andererseits mußte der Unzufriedenheit – neben der Befriedigung materieller Interessen – ein Ventil geboten werden, um das Vertrauen zu erhalten oder wiederherzustellen, daß die NSDAP-Führung keinen ,,Verrat an den Zielen der nationalen Revolution“ begehe.
Die Politik gegen die Juden konnte diesem zweiten Ziel gerade deshalb dienen, weil der Stellenwert des antijüdischen Rassismus in der Nazi-Ideologie in keinem Verhältnis zur relativ geringen tatsächlichen wirtschaftlichen Bedeutung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland für den kapitalistischen Wirtschaftsprozeß stand. Den politischen Erwartungen in den faschistischen Massenorganisationen konnte ein Teil des deutschen (Klein)Bürgertums geopfert werden, um die deutsche Bourgeoisie insgesamt ungeschoren zu lassen.
Gesetzesverschärfungen, ,,Arisierung“ jüdischer Vermögen und Übergriffe auf jüdische Geschäfte setzten sich bis 1938 fort. Allerdings nicht in Form einer extremen Verschärfung der Politik, sondern als schleichende Verdrängung aus dem Wirtschafts- und Gesellschaftsleben. Nachdem die machtpolitische Konsolidierung gelungen und die Arbeitslosigkeit im Zuge der Aufrüstung in schnellem Tempo gesenkt werden konnte, gewannen in der Politik gegen die Juden innen- und außenpolitische Rücksichten an Bedeutung.
Besonders in den ersten Jahren war die faschistische Herrschaft auf politische Zusammenarbeit mit den und auf Einbindung der antidemokratischen deutschnationalen Teile der herrschenden Klasse angewiesen. Diese Kräfte unterstützten den Faschismus zwar vorbehaltslos in der Ausschaltung und Unterdrückung der Arbeiterbewegung, hatten aber zum Teil wenig Verständnis für die rein rassistische Politik gegen die Juden. Ausdruck dieser Haltung ist bereits die Intervention Hindenburgs gegen das ,,Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, mit dem Ziel, jüdische Frontkämpfer von den Regelungen auszunehmen. Hindenburgs Vorstellungen wurden in das Gesetz und die Regelungen der Folgezeit eingearbeitet. Die Einschränkung galt weitgehend bis 1938.
Außenpolitisch warb der deutsche Faschismus um seine Anerkennung als Gesprächs- und Verhandlungspartner; unnötige Angriffsflächen sollten vermieden werden. Diese Rücksicht auf die ausländische bürgerliche Öffentlichkeit setzte den Übergriffen Grenzen. So wurde eine Welle antijüdischer Krawalle im Sommer 1935 gestoppt, um die Selbstdarstellung des Faschismus durch die Olympiade 1936 nicht zu stören.
In den Jahren 1936/1937 stieß der Aufrüstungskurs des 3. Reichs an seine inneren Grenzen. Die 1933 brachliegenden Kapazitäten waren insbesondere durch die Rüstungsproduktion voll beschäftigt. Immer drängender machte sich ein Mangel an Arbeitskräften bemerkbar. Vor dem Hintergrund der Vollbeschäftigung wuchs die Unzufriedenheit in der Bevölkerung, besonders in der Arbeiterschaft, über die gedrückte Lebenshaltung. Selbst über die Deutsche Arbeitsfront wurden Forderungen nach höheren Löhnen und Verbesserung der Versorgung gestellt. Nachdem die inneren Hilfsquellen erschöpft waren, hätte eine innere Lösung dieser Probleme nur durch eine Abkehr von der Rüstungswirtschaft und eine scharfe wirtschaftliche Krise erfolgen können. Damit wäre aber der Klassenkampf wieder offen zutage getreten, mit der Gefahr, mit der faschistischen Herrschaft auch die Herrschaft des Kapitals wegzufegen.
Der Aufbau ,,besonderer Handelsbeziehungen“ zu den Staaten Osteuropas, d.h. die Ausplünderung dieser Länder auf dem Weg der Handelsverschuldung und für Deutschland vorteilhafter Kompensationsgeschäfte, konnte die nun erforderlichen äußeren Hilfsquellen nur für eine begrenzte Zeit bereitstellen. Der Druck wuchs, sich diese Quellen direkt zu sichern, sollten nicht scharfe Konflikte im Inneren aufbrechen. Im Krieg und durch den Krieg mußte die kapitalistische Klassenherrschaft in Deutschland gesichert werden.
Die innere politische Vorbereitung auf den Krieg hatte zwei Seiten: auf der einen die Unterdrückung der besonders in der Arbeiterschaft aufkeimenden Unzufriedenheit, verbunden mit der Ausschaltung von Ansatzpunkten für die Organisierung von Widerstand; auf der anderen die Mobilisierung der faschistischen Massenbasis für diesen Zweck und für ihre Rolle als politisch stabiles und verläßliches Rückgrat des Krieges. Ein Element des Terrors und ein Ansatzpunkt der Mobilisierung ist wiederum die Politik gegen die Juden.
Mit dem sprunghaften Anwachsen der Aktivitäten zur Aufspürung, Aushebung und Vernichtung von Widerstandsstrukturen wurden auch die Angriffe auf die jüdische Bevölkerung verschärft. 1938 wird eine Batterie von Gesetzen verabschiedet, die die völlige Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschafts- und Gesellschaftsleben in Deutschland, ihre Isolierung als Bevölkerungsgruppe einleiten. Jüdische Vermögen werden konfisziert, zum Teil zugunsten der Staatskasse, zum Teil zugunsten einzelner Faschisten. Die Übergriffe auf jüdische Einrichtungen und Geschäfte nehmen sprunghaft zu, gipfeln in den Novemberpogromen des Jahres 1938.
Die Politik der Nazis seit 1933 richtete sich zum Teil gegen Personen, die vor 1933 von ihrer Umgebung nicht als Juden angesehen wurden und sich auch selbst nicht als Juden begriffen. Sie wurden erst durch die Rassenideologie und deren Umsetzung in Rassengesetze und Ariernachweise ,,als Juden identifiziert“, d.h. zu Juden gemacht. ,,Wer Jude ist, bestimme ich“, sagte Göring.
Damit wird in einer Situation, in der versucht wird, jede Regung von Widerstand durch Bespitzelung und Terror im Keime zu ersticken, eine Gruppe zum Teil erst geschaffen und als Gruppe isoliert, die den inneren Feind sichtbar zu repräsentieren verspricht. Die Mobilisierung zu Übergriffen gegen die Juden und die antijüdische Hetze verschmelzen auch aus dieser Sicht mit dem Kampf gegen die Gegner des Systems.
Politik gegen die Juden in den besetzten und annektierten Gebieten
Die faschistische Politik gegenüber den eroberten Ländern beschränkt sich nicht auf die Beseitigung von Widerstand gegen die deutsche Besatzung und die militärische Sicherung des Gewonnenen. Sie ist von Anfang an auf die ökonomische Einbindung dieser Länder in die Kriegswirtschaft und auf die Aneignung der für die Aufrechterhaltung und den Ausbau der Kriegsproduktion erforderlichen Rohstoffe gerichtet. Diese Ziele werden auf unterschiedliche Art und Weise erreicht. Während in Westeuropa Teile der nationalen herrschenden Klassen in die Besatzungspolitik eingebunden werden und nationale Entscheidungsgremien ein gewisses Maß an Einfluß behalten und in Ungarn und Rumänien ,,befreundete Bewegungen“ an der Macht beteiligt werden, werden die osteuropäischen Eroberungen, insbesondere Polen, vollständig der deutschen Verwaltung unterworfen.
Die Bedeutung, die die Politik gegen die Juden im Rahmen der Besatzungspolitik hatte, unterschied sich von Land zu Land stark nach dem direkten Einfluß deutscher Verwaltung, nach der Bedeutung des jüdischen Bevölkerungsteils und nach der Tradition des Antisemitismus in den politischen Klassenauseinandersetzungen des betreffenden Landes.
So ließen z.B. die faschistischen Machthaber bis Mitte 1943 in Dänemark Parlament und König im Amt. Die dänische Armee, Marine und Polizei bestanden weiter. Bis auf kleine Gruppen hatte es in Dänemark keine antisemitische Tradition und Sammlung gegeben. Auch nach dem deutschen Überfall wurden keine antisemitischen Gesetze erlassen. Erst als Dänemark – im Rahmen des ,,totalen Kriegs“ – 1943 besetzt wurde, versuchten die faschistischen Machthaber, die sich in den vorangegangenen Jahren auf ,,Ermahnungen“ beschränkt hatten, die dänischen Juden in die Konzentrationslager zu deportieren. Die meisten dänischen Juden konnten jedoch nach Schweden entkommen.
,,Anschluß“ und ,,Gleichschaltung“ Österreichs 1938 hatten wie in Deutschland die Zerschlagung der Arbeiterorganisationen (die bereits unter Dollfuß begonnen worden war) und eine scharfe Politik gegen die Juden zur Folge, die allerdings von den innen- und außenpolitischen Rücksichten, die in Deutschland während der vorangegangenen Jahre noch gegolten hatten, frei war. Von der Verbannung der Juden aus dem Wirtschaftsleben konnten, ähnlich wie in Deutschland, die Gefolgsleute der österreichischen NSDAP profitieren. Stärker als in Deutschland bemühte sich die faschistische Führung jedoch in Österreich bereits, die Vermögensgewinne aus der ,,Arisierung“ in die Tasche des deutschen Staates statt in die einzelner Nazis fließen zu lassen. Hier wird ein Widerspruch zwischen den ökonomischen Ansprüchen der Kriegsführung und der ideologischen, politischen und materiellen Sicherung der eigenen Massenbasis deutlich.
In Polen lebten fast 40% der jüdischen Bevölkerung Europas. Sowohl im Handel als auch im Handwerk nahmen die polnischen Juden eine zentrale Rolle ein. Die Zersetzung der feudalen Gesellschaft, ohne daß eine industrielle Entwicklung einen Ausgleich geschaffen hätte, hatte zu einer sprunghaften Verarmung weiter Teile der jüdischen Bevölkerung geführt. Zusammen mit scharfen antisemitischen Übergriffen hatte dies zur Folge, daß Hunderttausende polnischer Juden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ausgewandert waren.
Die Unterordnung Polens unter die faschistische Herrschaft ging, wie in Deutschland und Österreich, mit der Zerschlagung politischer Organisationen einher, die Ansatzpunkte für Widerstand hätten sein können. Die Politik gegen die Juden (wie auch gegen die dort lebenden Polen) im annektierten Teil Polens, dessen gesamte Wirtschaft, Landwirtschaft, Handel und Industrie in die Hände Deutscher (Siedler) gebracht werden sollte, zielte auf ihre wirtschaftliche Ausschaltung und Deportation in das nicht annektierte Generalgouvernement.
Im Generalgouvernement versuchte die deutsche Besatzungsmacht durch die Politik gegen die Juden, insbesondere durch die Vergabe jüdischer Geschäfte an ,,verläßliche“ Polen, an der antisemitischen Tradition in Polen anzusetzen. Auf diese Weise sollte eine Basis für die deutsche Besatzung in Teilen der polnischen Bevölkerung geschaffen werden, ein polnischer ,,Mittelstand“ als verläßliche politische Stütze entstehen. Diese Versuche sind weitgehend gescheitert. Das Ausmaß und Tempo der Ausplünderung des gesamten Generalgouvernements für die Zwecke der deutschen Rüstung lief der Zufriedenstellung eines Teils der polnischen Bevölkerung entgegen.
Die Zersplitterung des Handels im Generalgouvernement setzte dem Zugriff der Besatzungsmacht auf die Reichtümer des Landes Grenzen. Die weitgehende Beseitigung des meist jüdischen Kleinhandels durch Ausschaltung und Gettoisierung der Juden sollte die Voraussetzungen für einen konzentrierteren Zugriff schaffen.
Für die polnischen Juden war die Vertreibung aus den annektierten Gebieten und die Ausschaltung aus ihren bisherigen wirtschaftlichen Funktionen mit der fast vollständigen Konzentration in Gettos verbunden und mit der Ausbeutung eines Teils in Betrieben der Rüstungswirtschaft, die die deutschen Besatzungsbehörden oder deutsche Firmen betrieben. In noch extremerer Weise als in Deutschland waren für die polnischen Juden mit ihrer Isolierung auch die Möglichkeiten der Reproduktion abgeschnitten. Hunger, Krankheiten, Elend prägten das Leben in den Gettos.
Träger der Besatzungspolitik in Polen – wie in den von Deutschland eroberten Gebieten überhaupt – sind auf der einen Seite diverse Wirtschafts- und Verwaltungsinstanzen, die sich nicht nur aus der NSDAP sondern auch aus ,,unpolitischen“ Fachleuten aus Bürokratie und Wirtschaft rekrutieren. Die Politik des politischen und rassistischen Terrors jedoch wurde in aller Regel von Organisationen wie Gestapo und Waffen-SS umgesetzt, deren Mitglieder aus der Massenbasis des Faschismus ausgewählt und für ihre Aufgaben auf diese Weise praktisch und ideologisch vorbereitet waren. Diese Teile der faschistischen Kriegsmaschine hatten sich fest mit den Raubzielen des Faschismus verbunden und fanden in der faschistischen Herren- und Rassenideologie eine Rechtfertigung für ihren Terror gegen die Zivilbevölkerung und besonders gegen die Juden. In den Wehrmachttruppen, die sich insbesondere in der Sowjetunion und auf dem Balkan am Terror gegen die Zivilbevölkerung beteiligten, waren diese Voraussetzungen in geringerem Maße vorhanden. So waren der Massencharakter der faschistischen Bewegung vor 1933 und der Erhalt und zum Teil auch Ausbau dieser Massenbasis während und durch die faschistische Herrschaft selbst wichtige Voraussetzungen für die faschistische Barbarei während des Krieges.
Die Vernichtung der europäischen Juden
In den ersten Kriegsjahren rollte die deutsche Kriegsmaschine von Erfolg zu Erfolg. Die erfolgreichen Blitzkriege drücken auf der einen Seite aus, wie weitgehend es dem deutschen Faschismus gelungen war, durch eine Mischung von Terror gegen jeden Widerstand, sorgfältige Befriedigung der grundlegenden Lebensbedürfnisse der deutschen Bevölkerung und Mobilisierung seiner Massenbasis alle Energien der Gesellschaft auf den Krieg auszurichten.
Auf der anderen Seite weisen sie auf die grundlegende Schwäche des deutschen Imperialismus im 2. Weltkrieg hin: auf seine – im Vergleich zu seinen Gegnern – schmale materielle Basis. Bereits vor dem Krieg war die Weiterentwicklung der Kriegsproduktion nur durch die verschärfte Ausbeutung Südosteuropas möglich gewesen. Die ersten Eroberungen dienten bereits dazu, der Kriegsmaschine die benötigten Ressourcen und der deutschen Bevölkerung Nahrungsmittel zuführen zu können. Bereits mit der Entwicklung des Zwei-Fronten-Kriegs nach dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, vor allem aber mit dem Scheitern der Blitzkriegsstrategie im Krieg gegen die SU, wurde das Verhältnis der Rüstungsanforderungen zu den materiellen Möglichkeiten immer kritischer. Die erforderliche Ausdehnung des Militärpotentials, ab 1944 seine bloße Aufrechterhaltung, erforderten die Heranführung zusätzlicher Rohstoffe, Lebensmittel und Arbeitskraft, die mit den bisherigen Mitteln der Besatzungspolitik nicht mehr abzupressen waren.
Das deutsche Kapital und der Faschismus sahen sich damit nicht nur mit der Gefahr einer militärischen Niederlage, sondern auch mit der Gefahr des ,,Zusammenbruchs der inneren Front“ konfrontiert. Die Erfahrungen des deutschen Imperialismus im ersten Weltkrieg: die Zersetzung der Armee, die Novemberrevolution, die Gefahr des Zusammenbruchs der kapitalistischen Herrschaft, hatten die Innenpolitik des Faschismus bereits in den vorangegangenen Jahren mitbestimmt. Mit den Problemen des deutschen Vormarsches an der Ostfront bereits 1941, vollends mit der Niederlage vor Stalingrad im Winter 1942/43, wird diese Gefahr akut. Wie wird die Bevölkerung auf Niederlagen, auf einen möglichen Zusammenbruch der Versorgung reagieren? Werden wir zur Rechenschaft gezogen für das, was wir angerichtet haben? Diese Fragen stellte sich nicht nur die faschistische Führung. Auch die Teile der faschistischen Massenbasis, die sich an der Ausplünderung der Bevölkerung, am Terror gegen ,,Volksschädlinge“ und an der Politik gegen die Juden beteiligt und davon profitiert haben, mußten fürchten, zur Verantwortung gezogen zu werden. In dieser Situation entstand in der faschistischen Führung wie in der deutschen Bourgeoisie der Zwang und in der Massenbasis des Faschismus die Bereitschaft zum ,,totalen Krieg“. Damit begann der Faschismus, die kapitalistische Barbarei, um das Überleben zu kämpfen, nach außen gegen die Sowjetunion als ihrem schärfsten Kriegsgegner, nach innen gegen die Gefahr der sozialen Revolution.
Mit der gesteigerten Ausplünderung der besetzten Gebiete und der Ausdehnung des Krieges selbst wird es für die deutsche Besatzung schwerer, die politische Kontrolle über diese Gebiete aufrechtzuerhalten. Nach dem Angriff auf die SU ist das deutsche Heer im Osten mit einem – kommunistisch geführten – Partisanenwiderstand konfrontiert, dem es gelingt, dringend benötigte Kräfte hinter den Fronten zu binden und der – nicht zuletzt wegen der deutschen Besatzungspraxis – von der Bevölkerung unterstützt wird. Zur Bekämpfung dieses Widerstands werden drakonische ,,Vergeltungsmaßnahmen“ wie Massenerschießungen und Vernichtung ganzer Dörfer gegen die Zivilbevölkerung ergriffen.
Die gezielte Aussonderung und Liquidierung kommunistischer Kader war seit dem Angriff auf die SU Teil der deutschen Kriegspolitik. So erging bereits am 6. Juni 1941 der ,,Kommissarbefehl“, der die sofortige Liquidierung ,,im Kampf oder im Widerstand ergriffen(er)“ kommunistischer Funktionäre anordnete. Am 17. Juni 1941 ergeht Weisung, ,,politisch untragbare Elemente“, das heißt sowjetische Staatsbeamte, kommunistische Funktionäre und Juden, aus Kriegsgefangenenlagern in der SU zu entfernen: Selektion für die Konzentrationslager oder die sofortige Erschießung als Mittel des politischen Terrors.
Diese Beispiele weisen darauf hin, daß der Krieg gegen die sozialistische Sowjetunion von vornherein ein Vernichtungskrieg war. Anders als in Westeuropa gab es in der SU keine herrschende Bourgeoisie, von der Teile hätten bereit sein können, mit dem Faschismus zu kooperieren. Der deutsche Imperialismus stand in diesem Krieg einem antagonistischen Gesellschaftssystem gegenüber, dessen völlige Zerstörung die Voraussetzung der Eroberung war. Bereits hieraus ergibt sich eine Grundlage für eine neue Dimension des faschistischen Terrors.
Wirtschaftlich fußt der ,,totale Krieg“ auf einem europaweiten System der Zwangsarbeit, das sich vor allem nach dem Angriff auf die SU herausbildet und in dem für die Reproduktion der Arbeitskraft kein Platz mehr ist und ,,Vernichtung durch Arbeit“ zum Prinzip der Anwendung von Arbeitskraft im Abermillionen-Maßstab wird. Dieses Prinzip war nur durchsetzbar durch eine extreme Steigerung des Terrors. Nicht nur in Deutschland selbst, sondern besonders in den besetzten Ländern, die als Lieferanten der zur Vernichtung preisgegebenen Arbeitskraft ausersehen waren. Die Durchkämmung von Wohngebieten, Erschießungen als Vergeltung für Anschläge und Widerstand, der Entzug von Lebensmitteln reichten nicht aus, um Massen zu zwingen, sich zu Tode zu arbeiten. Erst die Alternative: sofortige Liquidierung oder eine Restspanne des Lebens auch unter elendsten Bedingungen vermochte das für eine Spanne von wenigen Jahren.
Die Vorbereitungen für die ,,Endlösung“ begannen wenige Wochen nach dem Angriff auf die SU, die Vernichtung in Gaswagen im Herbst 1941, die Massenvernichtung in Gaskammern im Sommer 1942. Seit 1942 werden die KZ-Betriebe – oft für den Bedarf der Waffen-SS – ausgebaut. Im Sommer 1942 wird das IG-Farben Werk in Auschwitz fertiggestellt.
Die Selektionsrampen der Konzentrationslager, die ,,Endlösung der Judenfrage“ und die Zwangsarbeit nicht nur bei IG-Farben in Auschwitz, sondern auch in der deutschen Kriegsindustrie sind untrennbar verbunden.
Durch die faschistische Politik seit 1933 und dann in den im Krieg besetzten Ländern waren die Juden wirtschaftlich und gesellschaftlich isoliert, in Osteuropa in Ghettos konzentriert worden. In den Ländern, in denen sie einen erkennbaren Anteil der Bevölkerung darstellten, war der Antisemitismus bereits vor dem Krieg ein Mittel der bürgerlichen Klassenpolitik gewesen. Für die Massenbasis des Faschismus waren Herrenmenschenideologie und antisemitischer Rassismus bereits vor 1933 wesentliche Bestandteile ihres Denkens gewesen. Seine Mobilisierungskraft in der faschistischen Basis hatte der Antisemitismus seit 1933 immer wieder bewiesen.
Der ,,Vernichtung durch Arbeit“ fiel auch ein Großteil der 3,3 Millionen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion, die bis zum Mai 1944 umkamen, zum Opfer. Die Juden standen jedoch im Zentrum dieser Offensive, weil ihre Vernichtung den geringsten Widerstand in den besetzten Gebieten hervorrief, weil die Handlanger des Faschismus in den Verwaltungen und Lagern an ihrer Vernichtung mitzuwirken am ehesten bereit waren, sogar in dem Bewußtsein handeln konnten, trotz aller Niederlagen und Probleme doch noch an der Erreichung eines Ziels der faschistischen Bewegung, der ,,Endlösung der Judenfrage“, mitzuwirken.
Sie betrachteten, vor dem Hintergrund der Entwicklung in Deutschland seit 1933, die Vernichtung der Juden als Kampf gegen einen ,,monströsen inneren Feind“, der schlagbar war. Den nicht-faschistischen Teilen der deutschen Bevölkerung dagegen, insbesondere der Arbeiterschaft, hielten der Abtransport der Juden und die Gerüchte und Nachrichten über die Vernichtungslager vor Augen, was auch ihnen geschehen würde, wenn sie Widerstand leisteten.
Die ideologische Begründung der Judenvernichtung war ein wesentlicher Faktor für die Terrorbereitschaft der an ihr Beteiligten. Ohne diese Begründung wäre es kaum möglich gewesen, ein solch reibungsloses Funktionieren der Selektionsdrohung zu erreichen.
Im Zusammenhang mit der Vernichtung standen auch der unmittelbaren Kriegsführung abträgliche Einzelentwicklungen. So z.B. wenn etwa für Materialtransporte an die Front dringend gebrauchte Transportkapazitäten für Judentransporte bereitgestellt wurden. Das beweist jedoch nicht etwa die rein ideologische Motivation der Judenvernichtung. Es zeigt mit der Notwendigkeit, den Schein einer ideologischen Motivation aufrechtzuerhalten, daß die Politik des Faschismus nicht allein wirtschaftlichen Zielen dient. Sie mußte darüber hinaus das wirtschaftlich aus den Interessen des Kapitals Notwendige politisch durchsetzen: Durch die Niederhaltung von Klassenwiderstand und den Erhalt ihrer Massenbasis.
Planer und Wirtschaftsfachleute des Faschismus in Berlin oder in den Wirtschaftsämtern der besetzten Gebiete hatten Begründungen für die Judenvernichtung, die aus ihrer Sicht nüchterner schienen. Bereits in den dreißiger Jahren hatten wissenschaftliche Untersuchungen hervorgehoben, daß im krisengeschüttelten Osteuropa mehr Menschen lebten, als für eine einträgliche kapitalistische Verwertung angewandt werden konnten. Aus diesen Erwägungen waren zunächst weitreichende ,,Umsiedlungs“pläne entstanden. Die .,überflüssigen Esser“ sollten zu Millionen in Gebiete in der UdSSR geschafft werden, in denen sie nur hätten verhungern können. Der Blick auf dieses ,,Problem“ war durch die negative Wirtschaftsbilanz der Gettos ,,geschärft“ worden. Im Verhältnis zum wirtschaftlichen Ertrag war die Versorgung der Menschen zu teuer. Aus einem solchen Blickwinkel erschien die Judenvernichtung dann als ,,Teillösung des Problems der Überbevölkerung“. Die Barbarei des Überlebenskampfes des Faschismus erschien als positiver Beitrag für die ,,Neuordnung des Wirtschaftsraumes“ in Hinblick auf eine Nachkriegsordnung des Faschismus.
Die Frage der Schuld
Es war der Sieg der alliierten, insbesondere der sowjetischen Truppen, der der faschistischen Herrschaft in Deutschland ein Ende setzte, nicht der innere Widerstand der deutschen Arbeiterklasse.
Die Fähigkeit des Faschismus, bis auf die letzen Kriegsjahre die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, hat – zusammen mit dem Terror – dazu beigetragen, daß breite Ansätze für Widerstand nicht entstanden sind. Durch materielle Vorteile, Eröffnung von Karrieren im faschistischen Staat, Begehrlichkeit auf Beteiligung an den Ergebnissen der Raubkriege, Berauschen an den ,,Erfolgen“ des Regimes, schließlich durch die Beteiligung an den Verbrechen des Faschismus und die Angst, zur Verantwortung gezogen zu werden, konnte die kleinbürgerliche Basis des Faschismus bis zuletzt eingebunden werden.
Als sich die Kriegsniederlage abzeichnete, war, wie im 1. Weltkrieg, der Großteil der deutschen Arbeiter an der Front. Die Entwicklung von Widerstand wurde jedoch dadurch erschwert, daß die Truppen sich nicht wie 1918 relativ stabil im Stellungskampf, sondern – nach dem Zusammenbruch der Ostfront – im raschen Rückzug befanden.
Das Pochen auf bedingungslose Kapitulation (auf das die USA und Großbritannien bestanden hatten) und der gezielte Bombenkrieg gegen Arbeiterwohngebiete signalisierte, daß auch nach einem Sturz Hitlers die Westallierten keine Entwicklung revolutionärer Kräfte in Deutschland zulassen wollten. Dadurch wurden die Perspektiven eines revolutionären Widerstands in Deutschland beschnitten. Diesen Rahmen akzeptierte auch die Sowjetunion, indem sie sich auf Bündnisse mit sozialdemokratischen Exilpolitikern, bürgerlichen Kreisen und Offizieren im Rahmen der Volksfrontpolitik beschränkte, um das Kriegsbündnis mit USA und Großbritannien nicht zu gefährden.
In den Jahren von 1933 bis 1942 konnten die aus den Weimarer Organisationen entstandenen illegalen Widerstandsstrukturen weitgehend zerschlagen und die Neubildung solcher Strukturen weitgehend verhindert werden. Erst nach der bedingungslosen Kapitulation entstand ein (insbesondere in den Westzonen durch die Besatzungspolitik sehr begrenzter) Spielraum, den die geringen Kräfte der Arbeiterbewegung, die den Faschismus physisch und politisch überlebt hatten, zu schwachen Versuchen eigenständiger Organisierung ausnutzen konnten.
Diese Tatsachen beleuchten die Schwere der Niederlage, die die Machtergreifung des Faschismus und 12 Jahre faschistischer Herrschaft für die revolutionäre Bewegung in Deutschland bedeuten. Daß mit der Zerschlagung und Niederhaltung von Klassenorganisierung auch das Klassenbewußsein in der deutschen Arbeiterschaft weitgehend zerstört wurde, die demoralisierenden Wirkungen der Niederlage 1933, dann die Unmöglichkeit, den Faschismus selbst zu stürzen, schließlich das Besatzungsregime (unter anderen Vorzeichen als in den Westzonen auch in der sowjetischen Zone) strahlen in ihren Auswirkungen bis heute aus. Sie sind ,,historisches Erbe“ der Kräfte in der BRD, die heute dazu beitragen wollen, die Voraussetzungen für den Sturz der herrschenden Klasse zu schaffen, weil diese Auswirkungen Grenzen für die Entwicklung von Klassenwiderstand setzen, die überwunden werden müssen. ,,Erbe“ jedoch nicht nur für sie, sondern auch für reformerische und demokratische Bewegungen, die Interessen gegen die Herrschenden durchsetzen wollen.
Mit der Vorstellung einer ,,gemeinsamen Schuld des deutschen Volkes“ für den deutschen Faschismus und seine Verbrechen ist ein solches Verständnis der Verantwortung für die eigene Geschichte unvereinbar.
Die Alternative von 1933 lautete: Faschismus oder Bürgerkrieg, mit der möglichen Folge der sozialen Revolution. Einen dritten Weg, einen auf der Grundlage der Weimarer Verfassung, gab es nicht mehr. Die Beseitigung des Faschismus nach 1933 hätte dem Kriegswüten und der Massenvernichtung Einhalt geboten oder beides verhindert. Damit wäre aber gleichzeitig die Frage nach dem Sturz der kapitalistischen Herrschaft insgesamt und nicht nur ihrer faschistischen Form auf die Tagesordnung gesetzt worden. Denn wäre einmal die Kraft entstanden, den Faschismus wegzufegen, hätte es – nach der Erfahrung von 1918, nach dem Bankrott mit sechs Millionen Arbeitslosen und Massenelend – eine kampflose Einwilligung in eine bürgerliche Demokratie kaum geben können.
Viele auch derer, die den Faschismus wegen seiner Brutalität ablehnten, schreckten vor dieser Aussicht, vor der weiterhin bestehenden Alternative – Faschismus oder Kommunismus – zurück, blieben passiv, weil sie sich ihr nicht stellen wollten. Wenn wir die Haltung zur Frage der Revolution zum Maßstab unserer Auseinandersetzung mit den Klassenkräften in Deutschland während des Faschismus, ihren verschiedenen Sektoren, ihrer politischen Vertreter und Vorstellungen machen, stellen wir Unterschiede und Gegensätze fest. Die unter dem gewaltsam hergestellten Zwangskorsett der ,,Volksgemeinschaft“ wirkenden Klasseninteressen werden sichtbar.
Faschismus oder Bürgerkrieg? Welche Stellung zu dieser Frage nehmen die Vertreter ,,unserer“ von den Westmächten wieder in die während der ,,braunen Zeit“ von ihren faschistischen Klassenbrüdern ausgepolsterten Sessel gesetzten herrschenden Klasse ein, die uns in die Pflicht der Kollektivschuld nehmen wollen, von der sie selbst sich bereits zu verabschieden suchen? In Südafrika und Chile, im Krieg gegen Nicaragua? Mit der Behauptung, Faschismus und Kommunismus seien im Grunde dasselbe, die ihre ideologische Grundlage im Kampf gegen die SU und gegen die Entwicklung von Klassenwiderstand in der BRD ist?
Die Machtergreifung des Faschismus war Ergebnis der Klassenkämpfe in der Endphase der Weimarer Republik, die Politik des Faschismus an der Macht zugespitzter Klassenterror nach innen und außen. Die herrschenden Klassen in Deutschland, die kleinbürgerlichen Massen, die dem Faschismus folgten und die Kräfte der deutschen Arbeiterbewegung waren weder in gemeinsamer Schuld noch in gemeinsamer Verantwortung verbunden. Auch die Klassenkräfte, die sich heute in der BRD mehr verdeckt als offen gegenüberstehen, tragen nicht nur keine gemeinsame Schuld. Sie tragen vielmehr aus der Geschichte heraus eine gegensätzliche Verantwortung, die durch ihr gegensätzliches Klasseninteresse bestimmt wird. Letztlich: Die Verantwortung der Bourgeoisie, die bürgerliche Klassenherrschaft (mit allen jeweils erforderlichen Mitteln) zu erhalten gegen die Verantwortung der revolutionären Bewegung, diese Herrschaft zu stürzen.
IV. Von Roosevelt zur Hafenstraße: Zur Geschichte der Kollektivschuld-Ideologie
Die Frontenbildung im Nahen Osten zieht unweigerlich eine Frontenbildung im Innern der BRD nach sich. Aktionen wie die der Hafenstraße in Hamburg (das Wandgemälde mit den Boykottlosungen gegen Israel) treffen auf eine nach wie vor lebendige Ideologie in der BRD: Die These von der Kollektivschuld der „Deutschen“. Was nun unter diesem Kollektiv der Deutschen zu verstehen ist, bleibt im Dunkeln. Jene, die heute mit diesen Thesen auftreten (auch wenn sie ,,Linke“ sind), erheben zugleich den Anspruch, die faschistische Vergangenheit aufzuarbeiten. Was aber stattdessen geschieht, ist die Übernahme und Fortsetzung einer Politik, die den Klassencharakter der BRD-Gesellschaft seit Kriegsende verschleiert hat. Anders als es heute viele wahrnehmen wollen, ist es gerade die Kollektivschuld-These gewesen, die es der herrschenden Klasse mit ermöglicht hat, nach 1945 wieder in die alten Positionen zu kommen. Und sie war ein wichtiges Mittel, um die Ausschaltung der Kräfte aus dem proletarischen Widerstand nach 1945 zu rechtfertigen. Diese geschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergründe der Schuldfrage wollen wir hier skizzieren.
Kollektivschuld: Ideologie alliierter Klassenpolitik
Noch während des zweiten Weltkrieges begann bei den Alliierten der Anti-Hitler-Koalition eine Diskussion über die Zukunft Deutschlands nach einem Sieg über Hitler-Deutschland. Eine wichtige Frage dabei war, inwieweit man zwischen den Faschisten (und den tragenden Kräften, der herrschenden Klasse) und dem „deutschen Volk“ unterscheiden könne. Ideologischen Ausdruck fand die Diskussion in den Auseinandersetzungen zwischen den deutschen Emigranten, vor allem in den USA. Auf der einen Seite formulierte der Schriftsteller Emil Ludwig 1942:
„Nicht weil Hitler Europa versklavt hat, sondern nur, weil die Deutschen die weltgeschichtliche Möglichkeit einer Demokratie verloren und sich in einen Sklavenstaat zurück verwandelt haben, nicht als Strafe, sondern zum Schutz der Welt müssen sie die Regierung auf einige Zeit abgeben. Dies wird ohne Camps und Hinrichtungen, in einer vollkommen humanen Form möglich sein.“[2]
Auf der anderen Seite hieß es beim Nationalkomitee Freies Deutschland, das selber in den Vorstellungen einer nur bürgerlich-demokratischen Lösung befangen blieb: ,,Auch wir halten es für notwendig, scharf zu unterscheiden zwischen dem Hitlerregime und den ihm verbundenen Schichten einerseits und dem deutschen Volk andererseits.“[3] Der Schriftsteller Thomas Mann, der diesen Aufruf erst unterstützen wollte, zog seine Unterschrift zurück – sie war ihm zu „patriotisch“. Er hielt es für nachvollziehbar, „wenn die Alliierten Deutschland zehn oder zwanzig Jahre lang züchtigen.“[4]
Hinter dieser ideologischen Kontroverse verbargen sich die widersprüchlichen Kriegsziele der Alliierten. Bereits Ende 1942 wurde deutlich, daß die USA die „bedingungslose Kapitulation“ Deutschlands als Kriegsziel verfolgten. Die Sowjetunion zögerte zu diesem Zeitpunkt noch, dieses Ziel zu unterstützen. Mit den Worten: „Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk bleibt bestehen“, hatte Stalin noch zu erkennen gegeben, daß es um die Brechung der faschistischen Herrschaft ging. Auf der Teheraner Konferenz 1943 aber schloß sich auch die Sowjetunion der Forderung nach einer bedingungslosen Kapitulation an. Einer der Gründe für das Einlenken der Sowjetunion war ihre Furcht vor einem möglichen Separatfrieden der Westmächte mit Deutschland.[5] Das Kriegsziel der bedingungslosen Kapitulation war also zwischen den Alliierten auch ein Kompromiß zur Verhinderung von Separatlösungen der verschiedenen Bündnisteile.
Dieses Kriegsziel bedeutete aber auch, daß die imperialistischen Verbündeten, USA und Großbritannien, nicht mehr davon ausgingen, daß die deutsche Bourgeoisie aus eigener Kraft eine kapitalistische Lösung herbeiführen konnte. Noch zu Beginn des Krieges hatten Vertreter jenes Teils der deutschen Bourgeoisie, der das sinkende faschistische Schiff verlassen wollte, die Möglichkeiten eines (separaten) Friedensabschlusses ausgelotet. Als ihre Fürsprecher traten hier der Ex-Kanzler Brüning und Goerdeler auf. Sie wollten, daß die deutsche Bourgeoisie – auch bei einem Sieg der Alliierten – ihre politische Souveränität behalten sollte – so wie am Ende des Ersten Weltkrieges. Aber es wurde bald ersichtlich, daß diesen bürgerlichen Politikern die entscheidenden Kräfte fehlten. Die Hoffnung, die Wehrmacht würde Hitler stürzen und so eine kapitalistische Lösung ermöglichen, blieb trügerisch. Die Generale und der Großteil des Offizierskorps fürchteten (wie schon 1933) den „Sieg des Bolschewismus“ mehr als die Nazis. Eine kapitalistische Lösung konnte danach nur noch in der Besetzung und bedingungslosen Kapitulation bestehen. 1918, nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, war es der deutschen Bourgeoisie noch möglich, die soziale Revolution mit den eigenen Kräften und Mitteln zu ersticken. Dies blieb nun, nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg, den Alliierten überlassen.
Die nackten materiellen und klassenpolitischen Ziele und Interessen der Westmächte versteckten sich hinter Formeln wie ,,Freiheit und Demokratie“. Roosevelt schrieb 1944 an Morgenthau: „Wir müssen hart mit Deutschland umgehen […] und ich meine das deutsche Volk, nicht nur die Nazis. Wir müssen das deutsche Volk entweder kastrieren, oder man muß es so behandeln, daß sie nicht nochmal Leute hervorbringen, die auf dem gleichen Wege wie bisher weitermachen wollen.“[6]
1945 formulierte die Potsdamer Konferenz aller vier Besatzungsmächte die Schuldformel: „Alliierte Armeen führen die Besatzung von ganz Deutschland durch, und das deutsche Volk fängt an, die furchtbaren Verbrechen zu büßen, die unter der Leitung derer, welche es zur Zeit ihrer Erfolge offen gebilligt hat und denen es blind gehorcht hat, begangen wurden.“[7]
In seinem Aufsatz über die Potsdamer Beschlüsse kommentierte August Thalheimer den politischen Sinn der Schuldformel: „Der allgemeine Sinn davon, daß man dem deutschen Volke die Schuld für Nazismus und Krieg gibt, kann wohl nur sein, daß es keine Revolution gegen das nazistische Regime vor und während des Kriegs durchgeführt hat […] während des Kriegs selbst war die politische Kriegsführung der Alliierten auf ein doppeltes Ziel abgestellt: Deutschland außer Spiel zu setzen als den stärksten kapitalistischen Konkurrenten und gleichzeitig die sozialistische Revolution in Deutschland zu verhindern […] Diese Forderung der bedingungslosen Kapitulation erfüllte daher ihren Zweck. Sie verhinderte, daß die große Masse der Arbeiter sich mit der großen Masse gemeinen Soldaten verband zum Sturz des Regimes .“[8]
Freispruch der deutschen Bourgeoisie
Daneben waren aber auch die Konsequenzen für die deutsche Bourgeoisie klar: Sie liefen auf ihre vollständige politische Entmachtung hinaus. Dabei ist es unwesentlich, welche Form eine kapitalistische Lösung für Deutschland damals vorgesehen war: Ob im Morgenthauplan (Vernichtung des deutschen Industriepotentials) oder im Marshallplan (industriekapitalistischer Wiederaufbau) – entscheidend blieb, daß die weitere Entwicklung des kapitalistischen Deutschlands der deutschen Bourgeoisie entzogen und unter die vollständige Kontrolle der imperialistischen Führungsmacht USA gestellt wurde.
Nach der Besetzung ganz Deutschlands, dem Zusammenbruch des faschistischen Regimes, wurde erst in vollem Ausmaß deutlich, wie sehr die deutsche Bourgeoisie politisch und moralisch diskreditiert war. Die Verflechtung des Kapitals mit den faschistischen Herrschafts- und Militärapparaten war handgreiflich. Was Jahrzehnte später Gegenstand angestrengter Forschungen und theoretischer Diskussionen wurde – der Kapitalismus als Grundlage des Krieges – war damals, wenn auch sehr diffuser Form, eine alltägliche Erscheinung. Selbst die bürgerlichen Politiker der Christdemokratie mußten sich auf den Sozialismus (aber als Phrase) berufen.[9] So wie 1918 die Bourgeoisie die rechten Sozialdemokraten mit der Sozialisierungs-Propaganda vorschicken mußten, um die Revolution zu ersticken, so waren auch die Besatzungsmächte (und die Politiker, die sich ihnen zur Verfügung stellten) dazu gezwungen, ihre Besatzungspolitik mit antikapitalistischen Phrasen zu bemänteln.
Um so schwieriger wurde es für die Westmächte, die deutsche Bourgeoisie wieder auf die Kommandohöhen der Gesellschaft zu bringen. Dies war aber notwendig im Rahmen der strategischen Entscheidung, Westdeutschland als politisches Bollwerk gegen das sozialistische Lager einzusetzen. Wie sollten jene diskreditierten Unternehmer, die eben noch im Knast saßen (während die Arbeiter mühevoll am Wiederaufbau der Fabriken arbeiteten), wieder zu einer gesellschaftlich führenden Kraft werden?[10] Die USA brauchten Zeit, um in Westdeutschland diese innenpolitische Kraft zu schaffen, auf die sich stützen konnten. Für diese Übergangszeit brauchten sie einerseits die Arbeiterklasse, andererseits die Kollektivschuld als wieder einigendes Band des „ganzen Volkes“. Um Westdeutschland zum Vorposten gegen den Kommunismus zu machen, mußte ein Bruch mit dem Faschismus, aber auch die Aufhebung der Klassengegensätze vorgetäuscht werden.
Die Kollektivschuld-Ideologie, vorgeschrieben von den Besatzungsmächten, war der politische Preis, den die deutsche Bourgeoisie für ihre Restauration zahlen mußte. Als Gegenleistung erstickten die Besatzungsmächte jede eigenständige Initiative aus der Arbeiterklasse.[11] Die Kollektivschuld-Ideologie war nicht nur reine Propaganda. Ihr entsprach eine massenhaft betriebene Praxis der sogenannten Entnazifizierung: Die Rituale der ,,Spruchkammern“, die Persilscheine für ehemalige Nazis und die massive Unterbindung jedes selbständigen Ansatzes von proletarischer Klassenorganisation – all dies hatte zur Folge, daß die Frage nach den Schuldigen, der politischen Verantwortung, an Einzelpersonen und nicht am gesellschaftlichen System festgemacht wurde. Der Propagandarummel um Mitläufer und die bürokratische Bemäntelung der wirklichen Verhältnisse im Faschismus (die Fragebogen), lenkten ab von den wirklichen Kräften des Antifaschismus. Mit der Schuldformel, die über das „deutsche Volk“ verhängt wurde, ging man mit einem Federstrich über die Existenz des proletarischen Widerstandes und der Konzentrationslager hinweg: ,,Je mehr der Schleier genommen wird von den inneren Ereignissen in Deutschland während des Krieges, desto deutlicher und lebendiger wird das Bild, das sich abhebt und einen niemals abbrechenden Massenwiderstand gegen die Nazis zeigt, einen Widerstand, der die verschiedensten Formen annahm und der in erster Linie von der Arbeiterklasse getragen wurde, der aber auch Teile des Kleinbürgertums und der Intelligenz umfaßte.“[12]
Kontinuität der Volksgemeinschafts-Ideologie in der BRD
Im Kalkül der USA durften gerade diese inneren Widersprüche und Gegensätze im Faschismus nicht zum Gegenstand einer offenen gesellschaftlichen Auseinandersetzung (und das hieß: von Klassenkämpfen) werden. Letzten Endes ging es um einen strategischen Einsatz: die Fortführung der imperialistischen Kriegspolitik mit anderen Mitteln. Und das bedeutete im Kern, das Neuentstehen von Klassenbewußtsein im Keim zu ersticken. Hier erkennt man einen wesentlichen Zug der Kollektivschuld-Ideologie, und das ist die Kontinuität der faschistischen Volksgemeinschafts-Idee in der westdeutschen Ideologie der Nachkriegszeit. In Ländern wie Frankreich oder Italien, wo die Befreiung von der faschistischen Besatzung unter starkem Einsatz der proletarischen Bewegung erfolgte, wurde die Arbeiterbewegung (meist unter Führung der Kommunistischen Parteien) zu einem integrierten Teil der neuen kapitalistischen Demokratien. Im Kräfteverhältnis der Klassen und in zum Teil harten Klassenkämpfen wurde ein nationaler Konsens (Kompromiß) zwischen den Klassen geschaffen. In Westdeutschland hingegen wurde die „bürgerliche Demokratie“ von ihrem ideologischen Konsens her als klassenlos begründet. Und das verband und verbindet sie noch mit dem Nationalsozialismus.
Der Faschismus hat die Klassen und Klassenkämpfe nicht abgeschafft, sondern den Klassenkampf erbittert weitergeführt. Mit dem Einsatz äußersten Terrors wurden die Organisationen der proletarischen Bewegung zerschlagen. In seiner Herrschaftsideologie wurden die Individuen dem ,,Ganzheitlichen“, dem ,,Volk“ untergeordnet, einem abstrakt gehaltenen Kollektiv. Und damit hatte der Faschismus selber die Voraussetzungen, den praktischen Boden für die Errichtung einer neuen bourgeoisen Herrschaft geschaffen – nun im Mantel der „demokratischen“ Volksgemeinschaft. Fruchtbar wurde dies erst durch die alliierte Besatzungspolitik, die mit ihren Mitteln verhinderte, daß sich die Arbeiterklasse politisch und organisatorisch neu formieren konnte – außer in Gestalt der von den Alliierten geschaffenen und kontrollierten Parteien und Gewerkschaften.
Es ist bekannt, daß sich die neuen Staatsapparate Westdeutschlands zu großen Teilen aus jenen Leuten zusammensetzten, die schon vor 1945 Verwalter des „Reiches“ waren. Antifaschisten, die sich 1945 noch hoffnungsvoll den imperialistischen Besatzungsmächten in den Westbezirken zur Verfügung gestellt hatten, wurden in der Mehrzahl hinaus gesäubert (insbesondere Mitglieder der KPD). Die ehemaligen Nazis in den Staatsapparaten, ebenso wie die neu zu altem Eigentum gekommenen Unternehmer, konnten nur geschützt werden, wenn der neue kapitalistische Staat zur Buße bereit war. Dies war die ,,Wiedergutmachung“ gegenüber den ehemals besetzten Ländern. Von besonderer Bedeutung wurde daneben die Politik der BRD gegenüber dem neu entstandenen Israel.
Probleme mit der ,,Wiedergutmachung“
Die Ausgangslage hierfür war ausgesprochen schwierig: Weder in der jungen BRD, noch in Israel existierte eine wirkliche Massenbasis für die ,,Versöhnungspolitik“. Die politischen Vertreter der BRD-Bourgeoisie, versammelt im neuen Parlament, vermochten es nur unter äußersten Anstrengungen, diese Politik durchzuführen. Einerseits war man (gerade als neuer Staat) äußerst unwillig, die frischen Weihen der Macht mit der Erinnerung an den Faschismus zu bekleckern; andererseits hätte die offene Weigerung auch eine offene Auseinandersetzung im Innern der Gesellschaft über die Ursachen und die tragenden Kräfte des Faschismus mit sich gebracht. Die innenpolitische Atmosphäre wurde durch die extremen Pole einerseits der reaktionären Kräfte (die keinerlei Schuld erklären wollten), andererseits durch jene geprägt, die die wirklich Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen wollten. Um diese Polarisierung nicht hochkommen zu lassen, vor allem aber unter dem Druck der US-Führungsmacht, mußte die Wiedergutmachungspolitik durchgeführt werden.
Schon 1949 erklärte Adenauer in einem Interview mit einer jüdischen Zeitung die Absicht, gegenüber dem Staat Israel eine Politik der ,,Wiedergutmachung“ zu betreiben. Zwischenstaatliche Kontakte waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich. Kontaktleute Adenauers verhandelten mit N. Goldmann, dem Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses. 1951 erfolgte dann eine Feierstunde im Bundestag, wo eine allgemeine Absichtserklärung gegenüber dem Staat Israel verabschiedet wurde. Innenpolitisch problematisch blieb die Umsetzung der Erklärung, weil sie verknüpft war mit den allgemeinen Reparationsverhandlungen und -forderungen an die BRD. (Die Verhandlungen wurden für die BRD von dem späteren Ober-Bankier Abs geführt.) Erst 1953 wurde die ,,Wiedergutmachung“ gesetzlich durch den Bundestag abgesegnet, aber nicht konfliktlos. Eine Minderheit aus CDU und CSU stimmte dagegen oder enthielt sich. Die SPD stimmte ohne Ausnahme zu. Neben den Bedenken gegenüber einem allgemeinen Schuldbekenntnis waren noch andere Befürchtungen entscheidend für die Gegenstimmen aus den Reihen von CDU und CSU: Zum einen erschien ihnen die Belastung zu groß, zum anderen fürchteten sie, daß die BRD durch diese Entscheidung den arabischen Markt (insbesondere die Wirtschaftsbeziehungen zu Ägypten) verlieren würde.
Zeigt das Abstimmungsergebnis von 1953 die inneren Widersprüche der Bourgeoisie in der Schuldfrage, so wird aber auch die Haltung und Rolle der Sozialdemokratie deutlich. Ihr gelang es am besten, die alliierte Version der Faschismusfrage mit den neuen Anforderungen der imperialistischen Politik zu verbinden, zumal sie (von allen bürgerlichen Parteien) bei der Mehrheit der Bevölkerung am wenigsten durch den Faschismus diskreditiert war. Die Verbindung zwischen den beiden kapitalistischen Frontstaaten, BRD und Israel, herzustellen, war ein mühsamer Prozeß. (Erst 1960 kam es zu einem Treffen zwischen Adenauer und Ben Gurion.) SPD und DGB waren am besten dafür geeignet, die politisch-ideologischen Stützen für die neue „Achse“ der USA in Westeuropa und im Nahen Osten zu schaffen. Sie verknüpften dies mit einer idealisierenden Propaganda des zionistischen „Sozialismus“ und der Politik der israelischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften. Damit hatten sie – vor allem unter Gewerkschaftern und Jugendlichen (Kibbuzreisen) – auch teilweise Erfolg.
Jugendprotest und westdeutsche Linke: Eine andere Version der Schuldfrage
Das Bürgertum und der Staat wollten die Gewißheit verbreiten, daß mit der Reduzierung der Faschismusfrage auf ,,Wiedergutmachung“ die Dinge geregelt seien. Ausdruck davon ist die häufige Abwesenheit des Themas Faschismus in den Schulen der 50er und 60er Jahre. Aber mit den neu entstehenden Widersprüchen in der Gesellschaft bekam die Schuldfrage eine völlig neue Bedeutung. Die Auseinandersetzung um Schuld und Verantwortung wurde zu einem ideologischen Kristallisationspunkt, an dem neue Widersprüche in der Gesellschaft auftraten. Die Faschismusfrage, und zwar in der moralisch-ethischen Form, hat in der Biographie jener Studenten und Schüler, die 1967 und 1968 auf die Straße gingen, eine wichtige Rolle gespielt. Aus der stereotypen Formel der Kollektivschuld entstand die Frage: ,,Wir sind schuld, aber was hast Du gemacht? “, gerichtet an Leute aus der älteren Generation.
Daß sich der politische Protest in der BRD überhaupt erst einmal nur in dieser moralischen Form ausdrücken konnte, war zwangsläufig. Hier handelte es sich um eine Generation, die in der individualisierten ,,demokratischen Volksgemeinschaft“ groß geworden war und deshalb auch nur in diesen gegebenen Formen ihren Protest ausdrücken konnte. Auch wenn der Jugend-Protest der 60er Jahre bereits Folge und Ausdruck der tiefer liegenden Klassenwidersprüche in der Gesellschaft war, so blieb er dennoch dem kleinbürgerlichen Denken zunächst verhaftet.
Es ist wichtig, sich diesen Zusammenhang klar zu machen, wenn man die heutigen Auseinandersetzungen beurteilen will: Die Schuldfrage und auch das Verhältnis zu Israel ist ein wichtiges Element bei der Entstehung des linken Protestes am Ende der 60er Jahre gewesen. Noch 1967 hatte die überwiegende Mehrheit im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) – der Kernorganisation der Studentenbewegung – den Sieg der israelischen Armee im Sechstage-Krieg begrüßt. Erst die weitere Entwicklung und Erfahrung (insbesondere die Auseinandersetzung mit der imperialistischen Politik der USA und BRD) hat dann die Voraussetzung dafür geschaffen, nicht nur auf Distanz zum Staat Israel zu gehen, sondern auch die palästinensische Bewegung politisch zu unterstützen.
Dies waren und sind aber keine rein ideologischen oder theoretischen Prozesse. Ihnen liegen vielmehr objektive gesellschaftliche Veränderungen zugrunde, eine wachsende gesellschaftliche Polarisierung im Innern der BRD vor dem Hintergrund einer langfristigen kapitalistischen Krisenentwicklung. Die Basis der „demokratischen Volksgemeinschaft“ beginnt durch die sozialen Widersprüche, die an der Oberfläche der Gesellschaft auftauchen, zu schrumpfen. Auch auf der Gegenseite wird an Revisionen des innenpolitischen Konsenses der Nachkriegsgesellschaft gearbeitet.
In diesem Zusammenhang ist jene Debatte von Bedeutung, die anläßlich der Beiträge einiger konservativer Historiker in den bürgerlichen Zeitungen ausgebrochen ist. Diese Historiker versuchen, die Geschichte Deutschlands, insbesondere des Faschismus und des Kriegs, neu zu interpretieren. Sie stellen – von ihrem bürgerlichen Klassenstandpunkt aus – die „Schuld der Deutschen“ in Frage. Die Aussagen sind eindeutig: Gegen die Kollektivschuld- Ideologie wird geltend gemacht, der Faschismus sei nicht „einmalig“ (damit auch die Judenvernichtung und -verfolgung), die deutsche Bourgeoisie trage nicht die politische Verantwortung für die faschistische Politik – noch nicht einmal die Faschisten selber, so jedenfalls die These, wonach der Nazi-Terror wie die Kriegspolitik u.a. durch die Sowjetunion bewirkt worden sei.
Bei diesen Beiträgen handelt es sich um den Versuch, angesichts der Brüchigkeit der westdeutschen Nachkriegsideologie (und angesichts der außenpolitischen Rolle, die sich die deutsche Bourgeoisie wieder zutraut) ideologische Positionen zu besetzen, die in der weiteren gesellschaftlichen Auseinandersetzung wichtig werden. Hier wird der bürgerlich-reaktionäre Klassenstandpunkt formuliert, weil die nur moralischen Formeln der Vergangenheit als ideologischer Kitt der Gesellschaft nicht mehr halten. Angesichts solcher klassenmäßigen Tendenzen wird die Hilflosigkeit des bloß kleinbürgerlich-moralischen Antifaschismus deutlich. Er arbeitet mit den bürgerlichen Vokabeln der „demokratischen Volksgemeinschaft“ in einer Zeit, wo in der herrschenden Klasse bereits härtere Auseinandersetzungen vorbereitet werden.
Die Schuldfrage, wie sie heute noch von Linken ins Feld geführt wird, bewirkt unter den heutigen Verhältnissen das Gegenteil dessen, was diese Linken bewirken wollen: Die Verschiebung der Faschismusfrage auf die jüdische Frage – und, daraus abgeleitet, das besondere Verhältnis zu Israel – verstärkt geradezu den antisemitischen Effekt, gerade jetzt, wo die Politik des israelischen Staates durch sein eigenes Vorgehen immer mehr diskreditiert wird. Zudem entzieht eine solche Haltung jenen Juden die politische Unterstützung, die sich offen vom Staat Israel und seinen zionistischen Grundlagen distanzieren. Und nur diese Kräfte, die sich politisch vom Staat Israel trennen, können auch den Massen der jüdischen Bevölkerung in Israel eine Perspektive bieten.
V. Palästinensischer Befreiungskampf
Die imperialistischen Staaten unter Führung der USA haben ein strategisches Interesse an der Kontrolle über den Nahen Osten. Von hier aus können sie die Sowjetunion bedrohen und die Entwicklung arabischer und afrikanischer Befreiungsbewegungen bekämpfen. Ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen liegen in der Ausbeutung der Reichtümer der Region, der Erzielung von ungeheuren Gewinnen durch die Verarbeitung von billig erworbenen Grundstoffen, vor allem Erdöl. Es soll verhindert werden, daß die Sowjetunion Zugriff zu diesem strategisch wichtigen Rohstoff erhält oder daß er unter die alleinige Kontrolle von befreiten arabischen Völkern kommt.
Die Länder des Nahen Ostens sind ein wichtiger Absatzmarkt für die imperialistische Industrie. In den 30er Jahren wurde durch die Einfuhr von Textilmaschinen die einheimische Textilproduktion von Syrien und Palästina ruiniert, Zehntausende wurden arbeitslos. Westliches Finanzkapital und Industriebetriebe jeder Größe verdienen auch noch am Ausbau der Infrastruktur, die sie im eigenen Interesse schaffen, wie der Bau von Eisenbahnen, Straßen, Pipelines oder Straßenbahnen in den großen Städten. Zur Zeit bauen französische Firmen eine U-Bahn in Kairo. Der Imperialismus ist bereit – zusammen mit seinem Verbündeten und seiner Hauptstütze in der Region, dem israelischen Staat – jede revolutionäre Bewegung zu unterdrücken, die das Ziel hat, die arabische Bevölkerung von diesem Ausbeutungsprozeß zu befreien.
Beginn der zionistischen Einwanderung
Als 1891 die ersten Einwanderungen von Juden begannen, begann auch die Vertreibung der Palästinenserinnen und Palästinenser. Der Bankier Rothschild und später die Zionisten (ab 1897) kauften von reichen Großgrundbesitzern (Effendis) Ländereien. Dieses Land hatten die arabischen und türkischen Feudalherren des Osmanischen Reiches an die Dorfgemeinschaften der arabischen Bauern verpachtet. Diese meist armen Bauern ermöglichten mit ihren Pachtzahlungen den Effendis ein feudales Leben in Beirut oder den europäischen Großstädten wie Paris. Nach dem Verkauf des Bodens an zionistische Einwanderer verloren die betroffenen Bauern ihre Existenzgrundlage. Sie wurden vertrieben und mußten ihre Dörfer verlassen. Schon 1882 kam es zum ersten Bauernaufstand gegen die Vertreibung. Sie konnte aber nicht verhindert werden, so daß es 1920 bereits 20.000 palästinensische Flüchtlingen gab. Bis 1920 hatte sich die jüdische Bevölkerung verdreifacht auf 60.000 in 60 Siedlungen; sie bildete aber noch eine Minderheit gegenüber 700.000 Arabern in Palästina.
Entwicklung nach dem 1. Weltkrieg
Palästina war seit 1517 bis zum Ende des 1. Weltkrieges ein Teil des Osmanischen Reiches (Türkisches Reich). Seit Anfang des 19. Jahrhunderts hatte es immer wieder Widerstand der arabischen Bevölkerung gegen die Unterdrückung durch den türkischen Feudalismus gegeben. Diesen Freiheitswillen nutzten die imperialistischen Mächte aus. Die Regierungen von England und Frankreich versprachen der arabischen Nationalbewegung die Unabhängigkeit für deren Unterstützung im Kampf gegen die Türkei im 1. Weltkrieg, dachten aber nicht daran, dies Verspechen einzulösen. Ein Geheimabkommen von 1915 sah die Aufteilung des Nahen Ostens zwischen den beiden Großmächten vor (Sykes-Picot-Abkommen). Dieses Abkommen wurde nach der Oktoberrevolution von der sowjetischen Regierung veröffentlicht, die an dieses Dokument gelangt war. Die betrogene arabische Bevölkerung und ihre Führer – Emire und geistliche Führer – setzten ihren Widerstand nun gegen die englischen und französischen Truppen fort, wurden aber schnell besiegt. Die Kolonialmächte hatten ihre militärische Ubermacht zum Einsatz gebracht. Der englische und der französische Imperialismus erhielten vom Völkerbund die Mandatsmacht über den Nahen Osten zugesprochen. Frankreich erhielt das Gebiet, das dem heutigen Libanon, Syrien und Nordirak entspricht. England erhielt das Gebiet von Palästina, dem heutigen Jordanien, Südirak und Saudi-Arabien.
Die englische Regierung benutzte die zionistische Einwanderung, um ein Druckmittel gegen die anwachsende arabische Nationalbewegung zu haben. Trotz der zeitweiligen Widersprüche zwischen den Interessen der englischen Imperialisten und der Zionisten zeichnete sich schon die heutige Rolle Israels als Brückenkopf des Imperialismus im Nahen Osten ab. Imperialistische Mächte haben immer versucht, die ethnischen, religiösen und sozialen Widersprüche unter der einheimischen Bevölkerung zu schüren, um sie dann für ihre Kontrolle strategisch wichtiger Regionen zu benutzen.
In den 20er und Anfang der 30er Jahre verstärkte sich die zionistische Einwanderung besonders aus Osteuropa. Land wurde nicht mehr nur gekauft, sondern gewaltsam besetzt und enteignet. In immer wieder aufflammenden kleineren Aufständen und einzelnen Aktionen griffen die palästinensischen Bauern nicht nur zionistische Siedlungen an, sondern ab 1928 in zunehmendem Maße auch englische Militäreinrichtungen und Polizeiposten.
Ein herausragendes Zeichen für den Widerstandswillen des palästinensischen Volkes war der Aufstand von 1936-39. Er begann mit einem Generalstreik. Da die zionistische Wirtschaft von der arabischen weitgehend unabhängig war und die gesamte Infrastruktur (Eisenbahn, Straßen, Schiffssverkehr, Nachrichtenverbindungen) in zionistischem Besitz waren, mußte der Generalstreik nach 6 Monaten ergebnislos abgebrochen werden. Beispielsweise wurde der bedeutende arabische Hafen Jaffa durch den Bau eines neuen Hafens im benachbarten, rein jüdischen Tel Aviv lahmgelegt. Die Zionisten konnten so einen Streik im Hafen von Jaffa unterlaufen. Heute ist der Hafen von Jaffa bedeutungslos. Die militärischen Kampfaktionen der PalästinenserInnen bildeten im weiteren den Schwerpunkt. Die Kämpfe dauerten mit Unterbrechungen bis 1939, und erst durch den massiven Einsatz der englischen Armee und Luftwaffe konnte der palästinensische Widerstand niedergeschlagen werden. In diesem Aufstand wurde bereits die Unfähigkeit der damaligen arabischen Führung – Notabeln, Großbourgeoisie und Großgrundbesitzer – deutlich, eine wirksame Strategie für den Befreiungskampf zu entwickeln. Es gab keine einheitliche palästinensische Führung. Die Kämpfe in den verschiedenen Regionen waren kaum aufeinander abgestimmt. Die jeweiligen Führer kümmerten sich hauptsächlich um den Einfluß in ihrem eigenen Gebiet und waren vielfach nur auf die Wahrung ihrer politischen und wirtschaftlichen Stellung bedacht. Zum Teil ließen sie sich von den Imperialisten kaufen und begingen Verrat. Die palästinensische Arbeiterbewegung war noch unentwickelt und nur in den wenigen Städten handlungsfähig; die Bauern vertrauten noch weitgehend ihrer traditionellen Führung. Es gab kaum politische Verbindungen zwischen der arabischen und jüdischen Bevölkerung. Die einzige Partei, in der Araber und Juden gemeinsam organisiert waren, die Kommunistische Partei Palästinas, hatte nur wenig Einfluß.
Die politische Beschränktheit der arabischen Nationalbewegung wurde auch dadurch deutlich, daß der Großmufti von Jerusalem, ein angesehener religiöser Führer, 1936 nach Berlin gereist war, um die Unterstützung der Nationalsozialisten im Kampf gegen England und die Zionisten zu bekommen, wogegen ein anderer Teil der arabischen Nationalbewegung im 2. Weltkrieg an der Seite der Westalliierten gegen die Nazis kämpfte.
Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg
Bis 1947 war die Zahl der Juden in Palästina auf 600.000 angewachsen, sie waren aber immer noch eine Minderheit gegenüber 1,4 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser. Die Zionisten bekämpften inzwischen auch die englische Besatzungsmacht, wo diese ihnen bei der Einwanderung hinderlich wurde. Die englischen Behörden behinderten zeitweise die Einwanderung mit Rücksicht auf das Wohlwollen der arabischen Notabeln. Sie versuchten, Araber und Juden gegeneinander auszuspielen. Das palästinensische Volk wurde mit Versprechungen auf einen eigenen Staat hingehalten. Die weltpolitische Rolle Englands war allerdings nach dem 2. Weltkrieg erschüttert. Die neue tonangebende Macht – die USA – unterstützte uneingeschränkt die Zionisten. Ende 1947 wurden die letzten englischen Besatzungstruppen aus Palästina abgezogen. Die englische Regierung überließ der UNO die Verantwortung für die weitere politische Entwicklung. Die UNO entwarf mehrere Teilungspläne für einen palästinensischen und einen jüdischen Staat. Diese Pläne entsprachen weder den Interessen des palästinensischen Volkes und der arabischen Staaten, die einen einheitlichen Staat forderten, noch entsprachen sie den Zielen der Zionisten, die einen größeren Staat wollten als vorgesehen. Die Vorstellungen der Zionisten umfaßten im wesentlichen das Gebiet des heutigen Israels einschließlich der besetzten Gebiete Westbank und Ghaza.
Die erstarkten zionistischen Militärorganisationen, die mit den modernsten Waffen ausgerüstet waren, hatten ihren Terror gegen das palästinensische Volk bis zur Massenvertreibung verstärkt. Am 9. April 1948 ermordeten sie in dem arabischen Dorf Deir Yassin 254 Kinder, Frauen und Männer. Das zionistische Radio forderte mit Hinweis auf dieses Massaker und der Androhung von weiteren die palästinensische Bevölkerung zum Verlassen des Landes auf. Zehntausende von PalästinenserInnen flohen daraufhin vor allem nach Jordanien. Am 14. Mai riefen die Zionisten die Gründung des Staates Israel aus und besetzten mit ihren Truppen einen großen Teil Palästinas, die 48er Gebiete. Die Armeen der angrenzenden arabischen Staaten versuchten, das zionistische Militär zurückzuschlagen. Sie erlitten aber eine vernichtende Niederlage. Hunderttausende mußten daraufhin aus dem Land fliehen.
Die Rolle der arabischen herrschenden Klassen
Als Antwort auf den erstarkten Unabhängigkeitswillen der arabischen Völker, der sich in vielerlei Kämpfen gegen die Kolonialmächte ausgedrückt hatte, waren neue arabische Staaten wie z.B. Syrien, Libanon, Jordanien und Saudi-Arabien gebildet worden. Die Kolonialmächte hatten die arabische Region aufgeteilt und schufen Staaten mit künstlichen Grenzen. Sie setzten ihnen ergebene Regierungen ein, die die Interessen der feudalen und bourgeoisen Klassen in Anlehnung an die Kolonialmacht vertraten. Es war im Interesse des französischen und englischen Imperialismus, das Anwachsen einer lokalen Bourgeoisie zu fordern. Wegen der kolonialen Unterdrückungsverhältnisse und der damit im Zusammenhang stehenden Schwäche der arabischen Bourgeoisie gab es in dieser Region keine erfolgreiche bürgerliche Revolution gegen den Feudalismus und den Kolonialismus. Die Bourgeoisieen dieser Länder waren typischer Ausdruck einer Kompradorenbourgeoisie, das heißt, sie bekamen die politische Macht von der Kolonialmacht übertragen und blieben weiterhin von ihr abhängig. Der Imperialismus hatte diese Länder soweit durchdrungen, daß eine eigenständige politische und wirtschaftliche Entwicklung für sie nicht mehr möglich war.
1948 – die Niederlage gegen die Zionisten – war ein Wendepunkt in der Geschichte der arabischen Nationalbewegung. Damals erlebten die arabischen Massen, daß diese feudalen und bourgeoisen Klassen, unter denen sie die formale politische Unabhängigkeit erlangt hatten, nicht in der Lage und Willens waren, die wirklichen Interessen der Völker zu verteidigen. Die Führung der arabischen Nationalbewegung, die in den Händen der Feudalherren und der einheimischen Bourgeoisie lag, hatte versagt und teilweise den Kampf gegen die Zionisten aufgegeben (wie z.B. der jordanische Herrscher, als er an einem ganzen Frontabschnitt grundlos seine Truppen zurückzog und den Zionisten freie Bahn ließ). Die Forderung des palästinensischen Volkes nach der Wiedergewinnung Palästinas verband sich bei einem wesentlichen Teil mit dem Ruf nach der Abschaffung der korrupten, reaktionären arabischen Regime und der Befreiung vom Kolonialismus.
In den folgenden Jahren wurden in wichtigen arabischen Ländern die alten herrschenden Klassen durch die Machtübernahme des Militärs, das sich vorwiegend auf das Kleinbürgertum stützte, abgelöst (Syrien, Agypten). Es kam zu einem neuen Aufschwung der nationalen arabischen Bewegungen, da die neuen, vom Kleinbürgertum beeinflußten Militärregierungen wichtige soziale Forderungen der Massen erfüllten. Das Beispiel Ägyptens ist wichtig, da es die weitaus meisten Einwohner aller arabischen Staaten hat und industriell am weitesten entwickelt ist. In Ägypten wurden unter der Führung von Nasser eine Landreform beschlossen, Kooperativen wurden eingerichtet, die Banken und der Außenhandel nationalisiert und der Suez-Kanal der imperialistischen Kontrolle entrissen. Nassers Kurs war in der Anfangszeit deutlich antiimperialistisch und begeisterte die arabischen Völker auch über Ägyptens Grenzen hinaus. Er suchte und fand Unterstützung bei der Sowjetunion, die u.a. den Bau des Assuanstaudammes finanzierte und Ägypten vor der Erpressung durch die USA bewahrte. Die Klasseninteressen des Kleinbürgertums setzten sich aber immer mehr durch: Es übernahm die Posten der Staatsbürokratie und des Militärs und verschaffte sich viele Privilegien.
Die Verhältnisse in Syrien und Jordanien waren ähnlich wie in Ägypten: die Wirtschaft befand sich in einer schweren Krise, die Armee wurde in erster Linie zur Unterdrückung des Volkes eingesetzt und die Militärführung war korrupt und unfähig.
Im Krieg von 1967 besetzte Israel die Golan-Höhen, die Westbank, den Ghazastreifen und den Sinai. Ahnlich wie 1948 zeigte die Niederlage der arabischen Staaten von 1967 die Unfähigkeit ihrer herrschenden Klassen, eine wirksame Strategie im Kampf gegen den Imperialismus zu entwickeln. Die Regierungen scheuten sich, die Massen zu mobilisieren. Sie hatten Furcht vor dem neu entstandenen und anwachsenden Proletariat in ihren Ländern. Ein entschlossener und erfolgreicher Kampf gegen den Zionismus und damit auch gegen den Imperialismus hätte auch ihre Macht gefährdet.
Der Ausgang des Krieges von 1967 enthüllte den wahren Charakter der verschiedenen Klasseninteressen und trug zur politischen Entwicklung der unterdrückten arabischen Klassen bei. Die revolutionären Bewegungen gewannen an Einfluß, im besonderen in Palästina. Die PLO erhielt in Jordanien großen Zulauf von jungen KämpferInnen. Sie wurde zu einer konkurrierenden Macht gegenüber dem König und den herrschenden Klassen. Ihr Prestige wurde noch dadurch erhöht, daß 1968 eine palästinensische Kampfeinheit in Al Karamah den massiven Angriff eines zahlenmäßig weit überlegenen israelischen Truppenkontingents abwehren konnte. Der Mythos der Unbesiegbarkeit der Zionisten war erschüttert.
In einigen arabischen Ländern gingen die herrschenden Klassen mit finanzieller und militärischer Hilfe des Imperialismus zum Angriff über und konnten die revolutionären Bewegungen zunächst zurückwerfen. In Ägypten kam Sadat an die Macht, König Hussein von Jordanien befahl die Massaker des Schwarzen September und in Syrien putschte der Luftwaffenchef Assad. Die ägyptische Bourgeoisie konnte mit den Camp-David-Verträgen (1977) ein offenes Bündnis mit den USA und Israel eingehen (Israel räumte dafür die Sinai-Halbinsel). Das wurde von den reaktionären arabischen Staaten (z.B. Saudi-Arabien, Marokko, die Emirate) verbal verurteilt, aber insgeheim toleriert,und sie versuchten dem nachzueifern.
Ein revolutionärer Befreiungskampf widerspricht den Klasseninteressen dieser arabischen Regime. Er gefährdet ihre Herrschaft, zumal mehr als die Hälfte des palästinensischen Volkes außerhalb von Palästina lebt, hauptsächlich in den benachbarten arabischen Ländern. Zum Beispiel leben in Jordanien mehr als 1 Million Palästinserinnen, im Libanon über 500 000, in Syrien 300 000, in Ägypten 100 000. In Saudi-Arabien und in den Emiraten sind viele PalästinenserInnen beschäftigt.
Der König von Marokko und der König von Jordanien versprechen sich von der Zusammenarbeit mit Israel Unterstützung bei der Widerstandsbekämpfung im eigenen Herrschaftsbereich. Israel verkauft an Marokko in großem Umfang Waffen und elektronische Uberwachungsausrüstung und liefert Know-How zur Widerstandsbekämpfung, die das Regime für seinen Krieg gegen die Sahaurische Befreiungsfront (Polisario) und zur Unterdrückung der Arbeiterklasse im eigenen Land benötigt. Es ist für diese Regime auf die Dauer unmöglich, einerseits den Kampf des palästinensischen Volkes zu unterstützen und andererseits die unterdrückten Klassen des eigenen Landes niederzuhalten. Aus der beständigen Sorge um die Erhaltung ihrer politischen Macht geben die arabischen Regime zeitweilig dem Druck von unten nach und protestieren formal gegen die Politik Israels und erkennen die PLO an.
Aus dem gleichen Grund läßt die syrische Regierung zwar gelegentlich einzelne militärische Angriffe gegen Israel zu, unterstützt aber den Terror gegen die Palästinenserlager im Libanon und versucht durch eine Vielzahl von weiteren Maßnahmen, ein Erstarken des palästinensischen und libanesischen Widerstands und des Widerstands im eigenen Land zu verhindern. Dem entspricht auch, daß der heutige syrische Staatschef Assad im Schwarzen September 1970 verhinderte, daß die syrische Luftwaffe den PalästinenserInnen gegen die jordanische Panzerarmee zu Hilfe kam; Assad war damals Befehlshaber der syrischen Luftwaffe. Im libanesischen Bürgerkrieg 1976 war er verantwortlich für das Massaker im palästinensischen Flüchtlingslager Te1 Al Zatar.
Der jordanische König Hussein unterdrückt jede politische Aktivität der in Jordanien lebenden PalästinenserInnen. 1970 zeichnete sich für ihn die Gefahr ab, durch die gemeinsame Revolution der jordanischen Bauern und Arbeiter und der PLO in Jordanien hinweggefegt zu werden. Durch den brutalen Einsatz der Beduinenarmee – ausgerüstet mit westlicher Technologie – konnte er sich damals noch retten. Im Schwarzen September vertrieb er die PLO in den Libanon. Auch das Regime des Sadat-Nachfolgers Mubarak in Ägypten unterdrückt konsequent jede Solidarität mit dem palästinensischen Volk. Solidaritätskomitees mit Palästina sind seit 1972 verboten, Demonstrationen werden zerschlagen und zusammengeschossen. Die Linke ist noch zu schwach, um dem wirkungsvoll entgegentreten zu können. Die ägyptische Bourgeoisie sitzt auf einem Pulverfaß. Außer dem Einsatz der Armee gegen das Volk hat sie keinerlei Lösungen für die sozialen und politischen Widersprüche im eigenen Land.
Die Intifada
Der palästinensische Aufstand, die Intifada, dauert seit über einem Jahr an (10. Dezember 1987). Er ist der bisherige Höhepunkt jahrzehntelanger Kämpfe. Wichtige Lehren wurden aus dem Aufstand von 1936-39 gezogen. Damals waren die Kräfte des Widerstandes zersplittert gewesen; die Kämpfe unter feudaler Führung in den verschiedenen Regionen waren unzureichend aufeinander abgestimmt.
Dagegen hat die jetzige Aufstandsführung Handlungsanweisungen herausgegeben, die darauf abzielen, alle Kräfte des Volkes zu vereinigen, um die israelische Besatzung zu bekämpfen. Dafür werden verschiedene Mittel angewandt, die der jeweiligen Entwicklungsstufe und besonderen Situation entsprechen. Das ist möglich, weil sich die Lebensbedingungen der palästinensischen Massen vereinheitlicht haben, Hunderttausende sind in den Flüchtlingslagern des Ghazastreifens und der Westbanks unter unmenschlichen Bedingungen zusammengepfercht.
Als 1982 im Libanonkrieg die starke Basis der PLO im Süden des Landes zerschlagen wurde, zeigte sich bereits die Notwendigkeit, den Kampf in den-besetzten Gebieten zu verstärken. Die Kraft des jetzigen Aufstandes ist auch ein Zeichen für das neue Selbstvertrauen des Volkes. Dazu waren die entschlossene Verteidigung der Palästinenserlager im Libanon, die vermehrten Kämpfe in den besetzten Gebieten während des ganzen Jahres 1987, der Gefangenenaustausch von 1987, die Hungerstreiks in den Gefängnissen, die Aktionen der Fedayyin und die Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation Voraussetzung.
Der Aufstand hat soviel Druck auf die reaktionären arabischen Regime ausgeübt, daß sie gezwungen waren, eine Sonderkonferenz der Arabischen Liga einzuberufen, die sich nur mit dem palästinensischen Befreiungskampf befaßte. Auf der vorhergehenden Konferenz im November 1987 in Amman hatten sie es noch nicht einmal für nötig befunden, den palästinensischen Befreiungskampf überhaupt auf die Tagesordnung zu setzen. Die Vereinigte Nationale Aufstandsführung forderte in einem besonderen Aufruf an die Sonderkonferenz der Arabischen Liga 1988 unter anderem, „ … dem palästinensischenVolk zu erlauben, in allen arabischen Ländern seine Institutionen und Vereinigungen zu bilden, um gegen den zionistischen Feind zu kämpfen“ und „ … die arabischen Grenzen zu öffnen für die palästinensischen revolutionären Kämpfer und Trainingscamps für sie zu errichten.“ Das ist bis heute nicht geschehen.
Die zahlreichen Massenorganisationen, die in den letzten Jahren ihre Tätigkeit verstärkt hatten, sind eine entscheidende Grundlage für die Ausdehnung des Aufstandes. Mit Hilfe dieser Organisationen – Gewerkschaften, Frauenorganisationen, medizinische Hilfsorganisationen, Schüler- und Studentenvereinigungen usw. – können die neu entstandenen Volkskomitees die sozialen und politischen Interessen des palästinensischen Volkes vertreten. Fast jede/r PalästinenserIn ist aktives Mitglied in solch einer 0rganisation. Diese Organisationen gehören zu den Basisstrukturen der PLO in Palästina. Die Vereinigte Aufstandsführung hat engen Kontakt zu den kämpfenden Menschen. Die Volkskomitees als Instrument des Volkes sind weitgehend an die Stelle der alten Verwaltungsorgane getreten. In einer fortgeschrittenen Phase des Volksaufstandes beginnt ein Teil der Organe der Besatzungsmacht zu zerfallen – dies war und ist ein angestrebtes Ziel des Volksaufstandes. Der Rücktritt der palästinensischen Polizisten, der von den Zionisten eingesetzten Rathausräte, der Zoll- und Steuerbeamten, der Beamten in der Zivilverwaltung und nicht zuletzt die Flucht der Kollaborateure und ihre „Reue-Erklärung“ vor den Massen waren eine schwere Niederlage für die israelische Besatzungsmacht. Es gibt noch keine befreiten Gebiete, da die militärische Macht der Besatzungstruppen nicht gebrochen ist. Aber weite Bereiche des öffentlichen Lebens entziehen sich bereits der israelischen Kontrolle. Die zentralen Aufgaben der Volkskomitees sind die Bewachung, der Schutz und die Verteidigung der Bevölkerung, die Aufrechterhaltung des Schul- und Gesundheitswesens, der Aufbau einer eigenen Landwirtschaft, die Nahrungsmittel- und Wasserversorgung und die direkten Kampf- und Verteidigungsaufgaben gegen den zionistischen Feind. Der Aufstand hat die palästinensische Gesellschaft in kürzester Zeit wesentlich verändert. Die Frauen nehmen nicht nur mit gestiegenem Selbstvertrauen am Kampf teil, sondern es zeigt sich auch immer stärker, daß sie die treibende Kraft sind. Das tägliche Leben der Menschen ist von den Erfordernissen des Aufstandes bestimmt. Die vorher teilweise vorhandene gesellschaftliche Isolation voneinander und Entfremdung ist aufgehoben; die Familien kümmern sich um einander und gewährleisten die Versorgung in allen Lebensbereichen durch die gegenseitige Hilfe. Es ist selbstverständlich geworden, daß Löhne und Einnahmen gleichmäßig verteilt werden. Die palästinensischen Jugendlichen und Kinder sind ein entschlossenes Element in diesem Kampf für eine neue Gesellschaft. Durch ihre Autorität brechen sie veraltete Strukturen auf; sie sorgen z.B. für die Beendigung alter Familienfehden, weil der Aufstand das erfordert. Alle Strukturen der palästinensischen Gesellschaft entwickeln sich politisch weiter. Die zukünftige palästinensische Gesellschaft wird schon erkennbar.
Der Kampf der palästinensischen Massen für Selbstbestimmung und Rückkehr ist nicht zu trennen vom Kampf gegen den Imperialismus und gegen bürgerliche Klassenherrschaft. Die paIästinensische Revolution ist die Antwort des Volkes auf die Niederlage von 1967. Damals hatte sich die Notwendigkeit gezeigt, die palästinensischen Arbeiter und Bauern in den bewaffneten Kampf einzubeziehen und diesen nicht den regulären Armeen der benachbarten arabischen Staaten zu überlassen. Die Intifada, der Volksaufstand gegen die Besatzungsmacht, hat die israelische Gesellschaft in ihrer Grundlage erschüttert. Für die israelische Regierung wird es auf die Dauer keine Lösung der politischenFrage mit militärischen Mitteln geben können Ein Zusammenleben der jüdischen und palästinensischen Bevölkerung setzt eine soziale Revolution voraus, und diese bedeutet, daß die Privilegien der jüdischen Bevölkerung beseitigt werden müssen. Die Proklamation des palästinensischen Staates ist ein Schritt auf diesem Weg. Die USA verhandeln mit der PLO über eine palästinensische Staatsgründung. Sie müssen einer sozialen Revolution der arabischen Massen vorbauen. Die arabische Welt ist in sozialer und politischer Gärung gegen die imperialistische Herrschaft. In diesem Befreiungskampf bildet die palästinensische Bewegung die Vorhut. Die Arbeiterbewegung der kapitalistischen Länder muß Stellung beziehen, ob sie auf der Seite ihrer herrschenden Klasse für die Aufrechterhaltung der imperialistischen Herrschaft und den Krieg gegen die unterdrückten Klassen oder auf der Seite des Befreiungskampfes stehen will.
[1] „Seit der Entstehung des politischen Zionismus im 19. Jahrhundert bedeutet der Begriff allgemein ‚jüdische Einwanderung‘ nach Palästina bzw. seit 1948 nach Israel.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Alija; entnommen 9.11.2023)
[2] Aus: „Exil in den USA,“ Frankfurt a.M. 1980, S.17
[3] Aus: „Exil in den USA,“ S. 177
[4] Aus: „Exil in den USA“, S. 177
[5] Im Tagesbefehl vom 23.Februar 1942 erklärte Josef Stalin: „Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Krieg für die Befreiung des Sowjetbodens zur Vertreibung oder zur Vernichtung der Hitler-Clique führen wird. Wir würden einen solchen Ausgang begrüßen. Es wäre aber lächerlich, die Hitler-Clique mit dem deutschen Staate gleichzusetzen. Die Erfahrungen der Geschichte besagen, daß die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt.“ J. Stalin, „Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion“, S.6f.
[6] John M. Blum, „From the Morgenthau Diaries“, Boston 1967, S.342
[7] Amtliche Verlautbarung über die Konferenz von Potsdam, 2.8.1945; in: „Neubeginn und Restauration“, München 1984, S. 113
[8] August Thalheimer, „Die Potsdamer Beschlüsse. Eine marxistische Untersuchung der Deutschlandpolitik der
Großmächte nach dem zweiten Weltkrieg‘; herausgegeben von der Gruppe Arbeiterpolitik, S. 12
[9] So wurde das Programm der nordrhein-westfälischen CDU 1947 eingeleitet: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge der verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen.“ In: „Neubeginn und Restauration“, S.428
[10] Wenn jemals das Wort von der ,,Schutzhaft“ wirklichen Sinn hatte, dann 1945 bei der Inhaftierung von führenden Nazis und Kapitalisten. Der Knast der Alliierten bewahrte diese Leute vor der Abrechnung auf offener Straße.
[11] Bis heute fast unbekannt ist, daß sich 1945 an vielen Orten Arbeiterausschüsse bildeten („Antifa-Komitees“). Arbeiterinitiativen wie die Bremer „Kampfgemeinschaft gegen den Faschismus“ oder die „Sozialistische Freie Gewerkschaft“ in Hamburg wurden sehr schnell von den Besatzungsmächten unterdrückt, aufgelöst oder unter Kontrolle gebracht.
[12] August Thalheimer, „Die Potsdamer Beschlüsse“, S.11
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