Einflüsse der Flüchtlingsbewegung auf die hiesige Klassenlage
Zwischen »Willkommenskultur« und Hassparolen

»Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger werden zumgegenwärtigen Zeitpunkt von uns weitestgehend faktisch nicht weiter verfolgt«, ließ das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ( BAMF ) am 25. August 2015 in den Medien verbreiten, natürlich auf Veranlassung der Bundesregierung. Im Klartext hieß das: Alle Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg dürfen ohne die übliche, durch EU-Verordnung vorgeschriebene Registrierung im ersten »Aufnahmeland« nach Deutschland einreisen. Damit war das so genannte Dublin-II-Abkommen, in dem die Verfahrensweise verbindlich vorgeschrieben wird, in einem wesentlichen Punkt suspendiert. Am 12. September kam bereits die Kehrtwende: Die Kontrollen im Grenzverkehr zu Österreich wurden – entgegen der Regelungen des Schengen-Vertrages – wieder aufgenommen, auch dies die vorübergehende Aufhebung eines europäischen Abkommens, die zuletzt im Juni 2015 im Zusammenhang mit dem G-7-Gipfel auf Schloss Elmau geschehen war. Was treibt die Bundesregierung innerhalb weniger Wochen zu derartig drastischen Maßnahmen, wie schwerwiegend ist ihre Bedeutung und was folgt daraus für die Innen- und die Europapolitik?

Der Anlass ist zunächst eindeutig ein außenpolitischer. Die Fluchtbewegungen über das Mittelmeer sowie über den Balkan hatten sich in den letzten Jahren verstärkt. Die Lebenslagen im syrischen Bürgerkrieg und auch in den Durchgangsländern Türkei und Griechenland wurden so unerträglich, dass immer mehr Menschen sich auf den Weg nach Europa, speziell Österreich, Deutschland und Schweden, machten. Im Sommer 2015 standen so viele vor der Außengrenze der EU in der westlichen Balkanregion, dass sie mit den bisherigen Methoden (Dublin II) nicht mehr reguliert werden konnten (s.w.u.). Diese Situation war nicht mehr beherrschbar, eine unmittelbare Verschärfung repressiver Maßnahmen (Grenzschließung, schärfere Polizeikontrollen bis hin zu Militäreinsatz, Errichtung von Lagern an den Außengrenzen) erschien der Bundesregierung nicht opportun. Deshalb war taktischer Rückzug angesagt, um später aus verbesserter Position wieder in die Offensive zu kommen (dazu mehr in den nachfolgenden Artikeln).

Bis in den Sommer 2015 jedenfalls erschien die innenpolitische Lage in der BRD stabil, besonders wenn man sie mit dem Umfeld in der EU und außerhalb deren Grenzen vergleicht. Die Wirtschaftsdaten in Deutschland sind, oberflächlich betrachtet, in Ordnung, die Arbeitslosenzahlen vergleichsweise niedrig, die Mehrheit der Bevölkerung mit der Regierung und ihrer Politik zufrieden. Doch andererseits gibt es den stabil hohen Anteil (ca. ein Fünftel) der Menschen, die mit Niedriglöhnen, prekären Arbeitsverhältnissen oder Kürzungen in den Sozialeinkommen zurecht kommen müssen, die Sparpolitik der öffentlichen Haushalte, die Ansprüche des deutschen Kapitals, das seine Positionen im Weltmarkt wahren und ausbauen will, und die Krisen in der EU und der weiteren Welt, die politisch und ökonomisch bedrohlich erscheinen. In diese Situation einer oberflächlichen Ruhe, in der sich unterschwellig die nächsten Krisen vorbereiten, trifft die Verschärfung der Flüchtlingskrise und bedroht die scheinbare Stabilität der bürgerlichen Ordnung, die bisherige Verteilung des Wohlstands in der BRD und die sozialpartnerschaftliche Regulierung der Arbeits- und Lebensbedingungen.

Stimmungen in der Bevölkerung

Schlug man im August/September in Deutschland die bürgerliche Presse auf, hatte man den Eindruck, als stehe die deutsche Gesellschaft vor einer tiefgreifenden politischen Spaltung: auf der einen Seite die aus den frühen neunziger Jahren noch bekannten Hassparolen, Proteste, Anschläge etc., auf der anderen Seite eine neue »Willkommenskultur«. Zu der ersteren äußerte sich ein Kommentator in der FR vom 29.8. wie folgt: »Warum jetzt Heidenau? Warum dort Krawall, Geschrei und Wut? Warum denn nicht! Was in Heidenau passiert, hätte überall in Sachsen passieren können. Es ist immer dasselbe Muster: Die NPD zündelt, es gibt Wutbürgerinitiativen gegen Flüchtlingsheime, die Stimmung machen, Angst verbreiten und hetzen, es gibt personelle Überschneidungen zwischen den Gruppen, und koordiniert wird die entstehende Hassbewegung über soziale Netzwerke – schon bricht es los. … Was heute in Heidenau geschieht, hat ein deutlich breiteres Fundament (als Anfang der neunziger Jahre, Anm. der Red.). Und das hat mit PEGIDA zu tun. Der Hass, der sich lange Zeit fast nur im Internet austobte, ist von dort durch PEGIDA in die wirkliche Welt eingetreten. … Eine Tür ist geöffnet worden, die nicht mehr zu schließen ist. PEGIDA hat in Sachsen einen gesellschaftlichen Bruch herbeigeführt, hat dem ›Pack‹ Bewusstsein gegeben und Pöbeleien und Hetze die nötige Legitimation verschafft.« Die Wut der Abgehängten zeigt sich insbesondere in Ostdeutschland, aber auch in strukturell geschädigten Teilen des Westens (Ruhrgebiet, besonders Dortmund).

Je mehr Flüchtlinge ankommen, desto nervöser und aktiver werden die Nazis. Hier zeigt sich, dass es nicht darauf ankommt, ob Nazis in Parlamenten sitzen (wie in Mecklenburg-Vorpommern) oder dort ’rausfliegen (wie zuletzt in Sachsen). Erfahrungsgemäß bleibt ein brauner Bodensatz, der immer dann an die Oberfläche drängt, wenn der materielle Wohlstand und die politische Stabilität gefährdet sind oder scheinen. Die angebliche Bedrohungssituation scheint mit den Zuwanderungen nun wieder präsent zu sein. Die Stimmung greift auf die sogenannten »besorgten Bürger« über: »Ich bin nicht gegen Flüchtlinge, aber … «. Es geht um diejenigen, die angeblich nur in unsere Sozialsysteme einwandern wollen. Die Überlegung, warum jemand eine lange, teure und gefährliche Reise auf sich nehmen soll, um Sozialleistungen für Flüchtlinge (143 EUR plus Sachleistungen) oder Hartz IV (Regelsatz: 399 EUR) zu nehmen, wird nicht angestellt. Arbeitsmarktkonkurrenz und Verdrängungseffekte sind auch unter Flüchtlingen Realität, das Kapital wäre nicht Kapital, wenn es dies nicht nutzen würde. Die Rechten haben solchen Zulauf, weil es diese Ängste und auch die Gründe dafür tatsächlich gibt. Eine gewerkschaftliche Tarif- und Arbeitsmarktpolitik, die sich an den Interessen des Kapitals orientiert, kann dem nicht genügend gegensteuern. Hier muss es eindeutige Stellungnahmen und Aktivitäten der Solidarität geben.

Auf der anderen Seite stehen in der bürgerlichen medialen Öffentlichkeit zentral die Berichte von »Willkommenskultur«, Hilfsbereitschaft, Sachspenden. Dieses Spektrum reicht von karitativen Initiativen und Organisationen bis zu politischen Gruppen. Die in dieser Breite neue Haltung (verglichen mit Anfang der 90er, in denen der Stammtisch zu dominieren schien), ist zwar aus unserer Sicht nicht tragfähig, weist aber auf Veränderungen in der deutschen Gesellschaft bzgl. des Verständnisses von Wirtschaft, Staat, Nation in bürgerlichen Grenzen hin. In Politik und Medien hören wir – im Vergleich zu Anfang der neunziger Jahre – neuartige Töne: Welcome to Refugees, Appelle an den bürgerlichen Anstand, moralisierend angereichert mit Erinnerungen an Flucht, Vertreibung, Migration im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg oder die Arbeitsmigration in den wirtschaftlichen Aufstiegsjahren der BRD. Das soll ein Bild von einem Deutschland vermitteln, das geschichtliche Lehren gezogen hat und ein verlässlicher Partner der »internationalen Gemeinschaft« ist.

Die Zuwanderungsdebatte wird heute gesamtgesellschaftlich entspannter geführt als in den neunziger Jahren (Asylrechtsverschärfung) und zu Anfang der 2000er Jahre (Süßmuth-Kommission). Dazu mögen beigetragen haben die Diskussionen der vergangenen Jahrzehnte, dass wegen des vermeintlichen »demographischen Faktors« (mit dem Sozialabbau, z.B. bei den Renten, begründet wird) und des Fachkräftemangels (wann gab es den eigentlich nicht?) ein Zuzug von Arbeitskräften aus dem Ausland prinzipiell notwendig sei. Der traditionelle Blut- und Abstammungsnationalismus ist in der deutschen Gesellschaft auf dem Rückzug und wird durch einen Wohlstands- und Verfassungspatriotismus abgelöst. Kulturelle »Abweichungen« werden toleriert, »der Islam gehört zu Deutschland« (ehem. Bundespräsident Wulff).

Wirtschaftsfunktionäre äußern sich positiv, es kommen aber auch die vorsichtigeren und sachbezogenen Kommentare, die sich auf Datenerhebungen beziehen, in denen die vorhandenen Qualifikationen der Flüchtlinge und ihre Übertragbarkeit in hiesige Arbeitsverhältnisse genauer aufgeschlüsselt werden. So etwa verläuft die Nützlichkeitsdebatte, d.h. die Scheidung derjenigen, die wir brauchen können, von denen, die angeblich nur in unsere Sozialsysteme einwandern wollen.

Die Kombination von »Willkommenskultur« und Nützlichkeitsdebatte, die wir aktuell feststellen, ist die Widerspiegelung davon, dass unter den kapitalistischen Bedingungen, in denen wir leben, neu hinzukommende Menschen als Arbeitskräfte angesehen und bewertet werden. Für das Kapital sind es verfügbare Produktionsmittel, die entsprechend zugerichtet werden müssen (z.B. Forderung von Kapitalvertretern, diese Arbeitskräfte zu qualifizieren, gleichzeitig aber auch, für sie den Mindestlohn auszusetzen). Die Masse von ihnen, soweit sie hier bleiben, wird proletarisiert werden. Welche Aufnahme sie dann in Betrieben und Gewerkschaften finden, ob sie als Kollegen und potenzielle Mitstreiter in Arbeitskämpfen willkommen sind oder als Konkurrenz um Arbeitsplätze gelten, hängt von ökonomischen Rahmenbedingungen, vor allem aber vom Stand des Klassenbewusstseins auf beiden Seiten und den konkreten Bemühungen um gewerkschaftliche Organisierung und politische Orientierung ab.

Die gesellschaftliche Stimmung kann durch das Schüren von Ängsten, erst recht bei Verschlechterung der konjunkturellen Rahmenbedingungen, reaktionär umschlagen. Sieht man sich die Veränderungen in den Umfragen an, dazu die politischen Vorgänge auf Berliner Regierungs- und Brüsseler EU-Ebene und die um sich greifenden Grenzschließungen nicht nur in Südosteuropa, so scheint dieser Umschlagpunkt nicht mehr fern zu liegen, oder wir befinden uns bereits darin.

Die Interessen der Unternehmer

Die Interessen der Unternehmer finden sich repräsentativ ausgedrückt im Herbstgutachten von vier führenden Wirtschaftsinstituten (DIW Berlin, ifo München, IWH Halle, RWI Essen), das im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums erstellt wird. Ihre vorangestellte Zusammenfassung lautet: »Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einem verhaltenen Aufschwung; das Bruttoinlandsprodukt wird in diesem und im kommenden Jahr um jeweils 1,8 Prozent steigen. Getragen wird die Expansion vom privaten Konsum. Die Investitionen beleben sich allmählich. Angesichts der mäßigen Expansion der Weltwirtschaft dürften die Exporte hingegen nur leicht steigen, zumal die belebende Wirkung der Euro-Abwertung allmählich nachlässt. Die Beschäftigung wird wieder rascher ausgeweitet. Dennoch dürfte die Arbeitslosigkeit im Verlauf des kommenden Jahres leicht steigen, weil die derzeit große Zahl von Asylsuchenden nach und nach am Arbeitsmarkt ankommt. Für die öffentlichen Haushalte in Deutschland zeichnet sich für das kommende Jahr ein Überschuss von 13 Milliarden Euro ab. Dieser dürfte damit deutlich geringer sein als der für 2015 erwartete Überschuss in Höhe von rund 23 Milliarden Euro – nicht zuletzt aufgrund zusätzlicher Ausgaben für die Bewältigung der Flüchtlingsmigration.«

Doch die Zuwanderung der Flüchtlinge könnte einiges verändern. Die Institute schreiben: »In der politischen Diskussion in Deutschland steht derzeit die Bewältigung der Flüchtlingsmigration im Vordergrund. Wie bereits die europäische Schulden- und Vertrauenskrise zeigt auch die aktuelle Flüchtlingskrise, dass auf europäischer Ebene in Krisensituationen die nationale Lastenverteilung im Vordergrund steht und nicht die sachorientierte Problemlösung. Auf Dauer ist die derzeitige Konzentration der Flüchtlinge auf wenige EU-Mitgliedsländer nicht durchzuhalten. Daher sind europäische Standards bezüglich der Asylgewährung und der Leistungen an Asylsuchende erforderlich. Für die lange Frist sollte erwogen werden, die Kompetenz für die Durchführung von Asylverfahren auf die europäische Ebene zu übertragen.

In der öffentlichen Diskussion verschwimmt mitunter die Unterscheidung zwischen der Reaktion auf die Fluchtmigration und einer langfristig orientierten Einwanderungspolitik, die primär an wirtschaftlichen Interessen der Zielländer ausgerichtet ist. Die fluchtbedingte Migration ist kein Ersatz für eine vernünftige Zuwanderungspolitik. Sie ist allerdings durchaus mit Chancen für die Zielländer verbunden. Um diese zu nutzen, ist auch im Interesse der Flüchtlinge die Integration in den deutschen Arbeitsmarkt der wichtigste Hebel.«

Die zentralen Forderungen sind also: Europäisierung der Asylpolitik, Integration des als Arbeitskräfte nutzbaren Teils der Flüchtlinge und Beendigung des planlosen Zustandes durch Etablierung einer »vernünftigen Zuwanderungspolitik«, am besten durch ein umfassendes Einwanderungsgesetz. Auf den Seiten 60 bis 62 des Herbstgutachtens folgen detaillierte Vorschläge, wie diese Vorgaben umzusetzen seien. Das fängt natürlich bei Sprachkursen an. Dringend erforderlich sei aber auch Weiterbildung, »da die im Heimatland erworbenen Kenntnisse vielfach den in Deutschland gestellten Anforderungen nicht genügen dürften«. Ein Schritt in die richtige Richtung sei, dass das früher neunmonatige Arbeitsverbot für Asylsuchende inzwischen auf drei Monate verkürzt sei. Es solle ganz abgeschafft werden, ebenso die vorgeschriebene »Vorrangprüfung«, bei der der Arbeitgeber nachzuweisen habe, »dass für den Arbeitsplatz kein Einwohner Deutschlands oder ein anderer EU-Bürger in Frage« komme.

Diesen nach Gleichstellung klingenden Forderungen können wir natürlich grundsätzlich zustimmen. Für uns verlaufen die Grenzen nicht zwischen Nationen, sondern zwischen den Klassen der Kapitalisten und der Arbeitenden, Ausgebeuteten und Ausgegrenzten. Aber das Angebot ist vergiftet. Die Kapitalisten wollen die Lohnabhängigen, gleich welcher Nationalität, in die Konkurrenz untereinander treiben. Ziel ist die Unterbietung von Standards bei Tariflöhnen und Arbeitsbedingungen. Ganz klar wird das in der »Empfehlung«, den Mindestlohn für Flüchtlinge auszusetzen, weil dieser »Flüchtlingen wie anderen gering qualifizierten Arbeitnehmern den Einstieg in den Arbeitsmarkt zusätzlich erschwere«. Unsere Antwort darauf kann nur die grundsätzliche und konkrete Solidarität im Kampf um gemeinsame bessere Standards sein. Der Mindestlohn, die Tariflöhne und die gesetzlichen und tariflichen Arbeitsbedingungen gelten für alle, und nur in diese Richtung kann Solidarität gehen.

Wer trägt die Kosten der Integration?

Im Übrigen sind die Institute im Gutachten der Meinung, dass Deutschland die Aufgabe leisten kann: »Aus gesamtstaatlicher Sicht sind derzeit strukturelle Überschüsse vorhanden, um die finanziellen Lasten der Flüchtlingsmigration zu stemmen; ein niedrigerer Finanzierungssaldo der öffentlichen Hand ist aus Sicht der Institute zu akzeptieren. Es ist vor diesem Hintergrund nicht erforderlich – wenngleich zu befürchten –, dass die jetzt notwendig werdenden Ausgaben zulasten anderer Elemente einer wachstumsorientierten Politik gehen.« Für diejenigen Branchen und Unternehmen, die an der Bereitstellung von Infrastruktur und Sozialeinrichtungen beteiligt sind, ist dies schon ein kleines Konjunkturprogramm. Es seien überdies »Wachstumspotenziale zu heben«.

Für uns gibt es genügend Gründe, diesen Worten nicht zu trauen. Zwar scheint die Bundesregierung derzeit die Erhöhung der Mehrwertsteuer noch abzulehnen, aber nichts garantiert, dass das so bleibt. Für uns ist umgekehrt zu fordern, dass Unternehmen und große Vermögen durch eine entsprechend ausgestaltete Steuergesetzgebung für die Finanzierung der Integrationskosten (und selbstverständlich andere gesellschaftlich wichtige Ziele) herangezogen werden (z.B. Wiedereinführung der Vermögensteuer, echte Besteuerung großer Erbschaften, Besteuerung des Handels mit so genannten Finanzprodukten, Wiederanhebung des Spitzensteuersatzes von derzeit 42 Prozent auf den bis 1989 geltenden Satz von 56 Prozent, ebenso des Satzes der Körperschaftssteuer von gegenwärtig 15 Prozent auf 56 Prozent etc.). Dies entspräche immerhin einem Niveau der Lastenverteilung bei der Besteuerung in der Bundesrepublik vor der so genannten Wiedervereinigung. Diese Entwicklung (der man noch die periodischen Erhöhungen der Mehrwertsteuer und die Sozialabbaumaßnahmen bei den gesetzlichen Sozialversicherungen u.v.m. anfügen könnte) macht beispielhaft deutlich, was der Imperialismus der herrschenden Klasse auch in den großen westlichen Industrieländern selbst die Arbeiterklasse kostet.

Probleme der Flüchtlinge in der Integration

Die grundlegenden ökonomischen Bedingungen sind gegenwärtig ganz andere als zum Beispiel Anfang der 90er Jahre. Damals herrschte Krise, es galten so genannte »Vermittlungshemmnisse« auf dem Arbeitsmarkt (noch vor den Hartz-Gesetzen der späteren Schröder-Zeit), während zugleich viele Menschen aus den neuen Bundesländern, sogenannte Spätaussiedler aus Osteuropa und Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem vormaligen Jugoslawien Arbeit suchten. In einem aufgeheizten Klima wurde das Asylrecht durch Installierung entscheidender Ausnahmeregelungen (Drittstaatenregel, sichere Herkunftsländer) nahezu abgeschafft.

Heutzutage scheint hingegen überhaupt kein Weg daran vorbei zu gehen, dass Deutschland endlich auch offiziell zum Einwandererland erklärt wird. Die demografische Entwicklung lässt angeblich den Stamm der Beschäftigten zu klein werden, um einen Produktionsapparat am Leben zu erhalten, der dieses Land zu einem der wohlhabendsten in der Welt gemacht hat. Dass diese Schrumpfung, wenn sie denn so käme, von der Produktivkraftentwicklung der Arbeit zumindest teilweise ausgeglichen wird, interessiert die Propagandisten des »Demografischen Faktors« freilich nicht (mit diesem Konstrukt wurde ja Sozialabbau vor allem in der Rentenversicherung begründet). Schon in 15 Jahren soll es etwa sechs Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter zu wenig geben. Vor diesem Hintergrund erklärt BDI-Chef Ulrich Grillo: »Wir sind bereit, allen Asylsuchenden mit berechtigten Chancen auf ein Bleiberecht den raschen und zeitlich gesicherten Zugang zu Bildung und Arbeitsplätzen zu ermöglichen«. Und der Boss von Daimler, Jürgen Zetsche, sieht im Flüchtlings-Zustrom sogar die »Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder«.

Aber es kommen auch die vorsichtigeren Kommentare, die sich auf Datenerhebungen beziehen, in denen die vorhandenen Qualifikationen der Flüchtlinge und ihre Übertragbarkeit in hiesige Arbeitsverhältnisse genauer aufgeschlüsselt werden. Nicht einmal jeder zehnte, so eine Zusammenfassung von Arbeitsministerin Nahles, verfüge über die nötigen Sprachkenntnisse und beruflichen Qualifikationen, um »sofort« einen Arbeitsplatz zu finden. Mehr als die Hälfte habe keinen Berufsabschluss, nur 15 bis 25 Prozent einen Hochschulabschluss.

Bei den Syrern speziell soll ein Viertel studiert haben. Noch mal etwa 25 Prozent besuchten ein Gymnasium. Nur 17 Prozent der Neuankömmlinge sollen demnach nicht mehr als eine Grundschulbildung haben. Wesentliche Teile des hiesigen Unternehmer-Lagers schienen anfangs überzeugt zu sein, dass aus Syrien vergleichsweise viele qualifizierte Flüchtlinge kämen. Wenn sie nicht von vornherein gut ausgebildet seien, dann seien sie doch zumindest jung, also formbar. Tatsächlich sind rund drei Viertel der syrischen Flüchtlinge unter 35 Jahre alt. Sie scheinen also tatkräftiger und besser qualifizierbar zu sein als beispielsweise ein hiesiger 50-jähriger, der schon die Rente im Auge hat.

Auch wenn Flüchtlinge mit guten Qualifikationen aus ihren Herkunftsländern hierher kommen, heißt das natürlich nicht, dass sie auf diesem Niveau auch Arbeit bekommen. Sie müssen viele bürokratische und kulturelle (Sprache!) Hürden überwinden und sind dann auch noch mit der Vorrangprüfung konfrontiert. So muss ein Arzt/eine Ärztin also häufig mit der Tätigkeit als Krankenpfleger/-schwester vorlieb nehmen. Wie viele neu ankommende ArbeitsmigrantInnen vergangener Jahrzehnte kommen sie häufig nur an die Jobs, die sowieso kein Deutscher mehr haben will: Erntehelfer, Angelernter in der Gastronomie, Hilfsarbeiter bei der Müllabfuhr. Und wenn es sich doch um qualifizierte Jobs handelt, werden sie nicht selten zumindest auf einem Tarifniveau unter dem eines vergleichbaren deutschen Kollegen eingeordnet. Flüchtlinge sind daher erpressbar und eher bereit, sich mit schlechter Entlohnung abzufinden. Auch weil sie sich eine neue Existenz aufbauen müssen, akzeptieren sie fast jeden Job. Schließlich können sie auch das Lohnniveau hierzulande nicht korrekt einschätzen –dafür freilich gibt es Gewerkschaften, die hier weiterhelfen müssen.

Für denjenigen Teil der hiesigen Arbeiterschaft, der auf Jobs in einfachen Tätigkeiten absolut angewiesen ist, dürfte es dementsprechend problematisch werden, wenn neue Kräfte ankommen. Wenn inzwischen das Risiko von Erwerbslosigkeit, Niedriglohn und Armut nicht mehr allein ab Hauptschul-, sondern schon ab Realschulabschluss beginnt, könnte es in diesem Bereich düster aussehen.
Für alle aber, egal ob höher qualifiziert oder nicht, droht eine Konkurrenzsituation mit den Neuankömmlingen, die nur zu verstehen und bekämpfen ist, wenn beide Seiten – Flüchtlinge und bereits hier arbeitende Lohnabhängige – diese Probleme als Konsequenz ihrer Klassenlage im Kapitalismus erkennen. Daran müssen wir arbeiten, nicht zuletzt, um zu verhindern, dass Rechtspopulisten aus PEGIDA, AfD, Naziorganisationen usw. die Sumpfblüten ihrer Agitation daraus ziehen.

Wie ist die Fluchtbewegung politisch einzuschätzen?

Flüchtlinge wie andere Migranten kommen aus fast allen Schichten ihrer Herkunftsländer und mit fast allen beruflichen Qualifikationen von dort. Sie kommen aus vielfältigen Motiven: Flucht vor politischer und/oder rassistischer Verfolgung, vor Bürgerkrieg, wegen Suche nach besseren Verdienstmöglichkeiten, oder es sind schlicht und einfach Armutsflüchtlinge (letztere dürften allerdings in der Regel wegen der hohen Kosten gar nicht in der Lage sein, weit zu reisen). Politisch dürfte alles dabei sein: von Linken über bürgerliche Regimegegner bis hin zu Antikommunisten, was konkrete Solidaritäts- und Unterstützungsarbeit im nicht rein humanitären, sondern im politischen Sinne nicht einfach macht. Dennoch müssen wir uns dazu verhalten und eine Einschätzung gewinnen, die uns in konkreten Fällen hilft.

Die Vorstellung von nur passiv flüchtenden Massen ist realitätsfern. Um es konkret verständlich machen zu können, konzentrieren wir uns hier auf den syrischen Teil der Bewegung. Sieht man die Bilder von teilweise planvollem Vorgehen in Auseinandersetzungen an den Grenzposten (in Mazedonien, Ungarn oder Kroatien), so kann man den Eindruck gewinnen, dass viele Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg ihre Erfahrungen aus der syrischen »Arabellion« des Jahres 2011 quasi im Gepäck haben und politische Kampfformen wie Demonstrationen, Überwindung von Grenzzäunen, Täuschung von gegen sie eingesetzten Polizeikräften etc. anzuwenden wissen.

Eine Analyse aus dem syrischen Bürgerkrieg macht das deutlich: »Die zumeist jungen Menschen, die im Jahr 2011 die Demonstrationen gegen das Regime anführten, hatten mit der alten Opposition kaum etwas zu tun, weder mit der linken noch mit den Islamisten. Von der öffentlichen Wahrnehmung fast unbemerkt, war seit Beginn des Jahrtausends in der arabischen Welt eine neue Generation erwachsen geworden, die die Welt mit anderen Augen sah als ihre Eltern. Diese Generation war nicht mehr bereit, sich für eine dysfunktionale Entwicklungsdiktatur und einen verlogenen Nationalismus bzw. Antiimperialismus heuchlerischen Regimen unterzuordnen. … Sie waren viele und gut ausgebildet. Die heute 15- bis 35-jährigen sind besonders geburtenstarke Jahrgänge (70 Prozent der Syrer sind unter 35). Analphabetismus gibt es in dieser Generation zumindest in den Städten kaum noch, der Anteil der Hochschulabsolventen und -absolventinnen ist hoch. Das hat ökonomische Auswirkungen. Es gibt nicht genug qualifizierte Arbeitsplätze. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2000 hatte Baschar al-Assad zudem neoliberale Reformen in Angriff genommen. … Aber den Demonstrantinnen und Demonstranten ging es nur am Rande um soziale Themen. Ihre Hauptforderungen waren Meinungsfreiheit, Würde und Demokratie. … Sie wollen wie Menschen behandelt und nicht von Polizisten geschlagen oder ins Gesicht gespuckt werden.«

Wir müssen davon ausgehen, dass ein Teil der Flüchtlinge diese Erfahrungen mitnimmt. Die Fluchtbewegung als vereinheitlichendes politisches Subjekt gibt es nicht, aber sie enthält Potenziale. Diese werden sich in dem Maße zeigen, in dem Konflikte bei der Integration ausgetragen werden, und dann, wenn die nun hier angekommenen und proletarisierten Flüchtlinge als Teile der Klasse der Lohnabhängigen ihre Forderungen stellen und an den hiesigen Auseinandersetzungen teilnehmen.

Die soziale Frage in neuem Licht

Pläne, Verabredungen auf Regierungsebene und bereits beschlossene Gesetze halten düstere Aussichten für die Flüchtlinge und für die Mehrheit der Lohnabhängigen bereit. Sie führen zu den beschriebenen gespaltenen Stimmungslagen: Die einen erkennen die Not der Menschen und wollen helfen; andere dagegen fürchten, dass die bereitzustellenden Mittel nicht ausreichen und am Ende der ansässigen Wohnbevölkerung vieles gekürzt wird, was Arbeitsplätze, Erwerbseinkommen, Sozialleistungen und kommunale Dienstleistungen wie Schulen, Kitas, Schwimmbäder, Bibliotheken etc. angeht. Angst, Vorurteile und Konkurrenzneid kommen hoch. Dem muss gegengehalten werden: Der Kampf ist ein gemeinsamer. Die Integration der Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen, ist in einem reichen Land wie Deutschland selbst nach Ansicht bürgerlicher Ökonomen (s. Herbstgutachten) leistbar; sie ist eine Frage des gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisses. Deshalb schließen wir uns Forderungen an, wie sie z.B. zum Ausdruck kommen in einem Papier der Bremer Gewerkschaften vom 23. September 2015, aus dem wir Auszüge bringen:

  1. »Legale und sichere Fluchtwege schaffen: Oberstes Gebot muss sein, dass Schutzsuchende nicht mehr auf ihrem Weg nach Europa ihr Leben riskieren müssen. Es führt daher kein Weg daran vorbei, legale Zugänge nach Europa zu schaffen. Hierfür müssen die Flüchtlinge ab sofort die Möglichkeit erhalten, die übers Mittelmeer pendelnden Fähren zu nutzen …
  2. Freizügigkeit statt starrer Quoten: … Flüchtlinge (sollten) dorthin gehen können, wo sie sich sicher fühlen oder wo bereits Verwandte oder Freunde leben. Länder, die hierdurch weniger Flüchtlinge aufnehmen, als es ihrer Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft entsprechen würde, sollten deshalb für die zusätzlichen Kosten jener Länder aufkommen, die überproportional viele Flüchtlinge aufnehmen…
  3. Gleiche Rechte für Geflüchtete: Menschenrechte sind nicht teilbar! In diesem Sinne stehen Schutzsuchenden die gleichen Rechte zu wie der bereits ansässigen Wohnbevölkerung. Die jüngst durch die große Koalition in Berlin beschlossenen Gesetzesverschärfungen wie eine auf 6 Monate verlängerte Verweildauer in den Erstunterkünften oder die Wiedereinführung der Residenzpflicht (Verpflichtung der noch nicht anerkannten Asylbewerber, sich in dem ihnen zugewiesenen Landkreis aufzuhalten, Anm. der Red.) bzw. des Sachleistungsprinzips sind daher als menschenrechtswidrig abzulehnen…
  4. Zugänge zu Ausbildung und Arbeit schaffen: Flüchtlinge brauchen Ausbildung und Arbeit. … Zudem bedarf es eines Zugangs zu arbeitsmarktpolitischen Förderinstrumenten sowie zu berufsbezogenem Sprachunterricht. Flüchtlinge brauchen bei der Anerkennung ihrer Berufs- und Bildungsabschlüsse Unterstützung. Bei der Ausbildung sollte von Anfang an ein gesicherter Aufenthalt für die gesamte Ausbildungszeit gewährleistet sein…
  5. Sozialen Wohnungsbau und Recht auf Bildung umsetzen: Der Bedarf an bezahlbarem Wohnraum für alle, die darauf angewiesen sind, erfordert ein Sofortprogramm. Der bevorstehende Winter erfordert ein schnelles und unbürokratisches Handeln. … Die Aussetzung der Schulpflicht ist keine Lösung! Stattdessen brauchen Schulen und Kitas sofort verfügbare zusätzliche Mittel, damit sie diese Aufgabe bewältigen können.«

Jegliche Diskriminierung am Arbeitsplatz ist abzulehnen und zu bekämpfen, z.B. Arbeitsverbot für Asylsuchende, Vorrangprüfung bei der Einstellung von Arbeitskräften, Eingruppierung unter dem tatsächlichen Wert der Ausbildung, untertarifliche Bezahlung, Verweigerung des Mindestlohns. Das alles gehört abgeschafft bzw. verhindert.

Hinzu kommt die Forderung nach Finanzierung der Integrationskosten durch eine angemessene Besteuerung der Unternehmen und großen Vermögen, wie wir sie in dem Abschnitt »Wer trägt die Kosten der Integration?« angedeutet haben. Ansonsten droht etwa die Erhöhung der Mehrwertsteuer, also die Abwälzung der Lasten auf die Mehrheit der Lohnabhängigen.

Für die Gewerkschaften stellt sich die Aufgabe der Organisierung der Ankommenden. Egal, welchen Status die Flüchtlinge in ihren Herkunftsländern hatten: Arbeiter, Angestellte oder aber Freiberufler, kleine Selbständige oder größere Unternehmer – wenn sie hierherkommen, um Arbeit zu suchen, sind sie Lohnabhängige. Ihnen stehen die gleichen Rechte zu. Die Flüchtlinge, soweit sie als Lohnabhängige hierher kommen und hier leben und arbeiten werden, dürfen nicht als Opfer kapitalistischer Lohndumpingstrategien allein gelassen werden. Die Folgen wären für uns alle spürbar, nicht zuletzt in neuen Angriffen auf unsere Arbeits- und Sozialrechte und im Auftrieb rechtspopulistischer Tendenzen. Unsere Aufgabe ist es, auf diese Zusammenhänge hinzuweisen und, wo immer möglich, auf praktische Konsequenzen zu drängen.

Hierbei wird in Unterstützerkreisen, Gewerkschaften und Initiativen der sozialen Bewegungen zu Recht betont, dass soziale Forderungen wie diese auch für die hiesige Bevölkerung gelten, soweit sie auf öffentliche Daseinsvorsorge angewiesen ist, und dass sie selbstverständlich schon lange vor der jetzigen Steigerung der Zuwanderung durch Flüchtlinge erhoben wurden. Jetzt kommt eben eine quantitative Ausweitung hinzu. Es kann nicht hingenommen werden, dass durch bewusste oder fahrlässige Denunzierung dieser Forderungen versucht wird, »zur Stimmungsmache gegen die aus Kriegsgebieten zuwandernden Menschen beizutragen« (aus einer Presseerklärung des »Runden Tisches für menschenwürdiges und bezahlbares Wohnen« in Hanau vom 16. Oktober). Dies würde eben uns selbst auf die Füße fallen durch Stärkung rechtspopulistischer Tendenzen. Unsere Aufgabe dagegen ist der gemeinsame Kampf um soziale Fragen. So gesehen, hat die Integration der Flüchtlinge auch das Potenzial, zu einem Aufschwung von Klassenkämpfen und sozialen Auseinandersetzungen beizutragen, wenn es gelingt, die Frage der Solidarität richtig zu lösen.

18.10.2015


aus Arbeiterpolitik Nr. 5/6 2015

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