Rechter Rollback in Lateinamerika

Die Wahl des rechtsextremistischen Jair Bolsonaro zum brasilianischen Präsidenten und der Putsch(-versuch) gegen Maduro in Venezuela sind Höhepunkte einer Entwicklung, die schon seit mehreren Jahren anhält: Die Krise der linken Regierungen und die Versuche der USA, diese durch Sanktionen und die Androhung militärischer Interventionen zu stürzen.

Natürlich gibt es in den einzelnen Ländern auch sehr spezifische Ursachen für diese Entwicklung und in jedem Land äußern sie sich anders. Im Folgenden sollen aber die Prozesse untersucht werden, die in den betroffenen Ländern vergleichbar sind und vor fünfzehn bis zwanzig Jahren zu einem Erstarken der lateinamerikanischen Linken führte, die jetzt in einer schweren Krise steckt. Lediglich in Bolivien und Uruguay scheint die Regierung noch stabil.

Achtziger und neunziger Jahre:
Aufstieg und Krise neoliberaler Strukturreformen

In den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts versuchten die Eliten lateinamerikanischer Staaten ihre Wirtschaft von der Abhängigkeit von Rohstoffen und Agrarprodukten zu befreien und setzten auf die Industrialisierung ihrer Länder. Dazu wurden Kredite internationaler Gläubiger aufgenommen, die angesichts hervorragender Wachstumsraten und hoher Renditen auch gerne gegeben wurden. Mit dem Anstieg des Ölpreises in den siebziger und achtziger Jahren geriet dieses Modell jedoch in die Krise. Zuvor jedoch überschwemmten die ölexportierenden Staaten die Finanzmärkte mit ihren »Petrodollars« und die Banken investierten weiter in Lateinamerika. Bald wurde jedoch klar, dass diese Staaten nicht in der Lage sein würden, ihre Schulden zurückzuzahlen, und die Banken verweigerten eine Refinanzierung der Kredite. Als im August 1982 Mexiko seine Zahlungsunfähigkeit erklärte, war die Schuldenkrise Lateinamerikas offensichtlich. Häufige Abwertungen der einheimischen Währung und hohe Inflationsraten waren in anderen Ländern die Folge.

Eingedämmt wurde die Finanzkrise durch Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF), der diese jedoch mit harten Auflagen verband: Reduzierung der Staatsausgaben und der Subventionierung auch lebensnotweniger Güter, Abbau von Handelsbeschränkungen, Privatisierung öffentlicher Unternehmen und die Deregulierung der Märkte. Diese Wirtschaftpolitik wurde von Vertretern der US-amerikanischen »neuen Rechten« konzipiert und unter Präsident Reagan und der britischen Ministerpräsidentin Thatcher umgesetzt. Sie sorgten dafür, dass diese Vorstellungen auch im IWF und bei der Weltbank durchgesetzt wurden. Damit wurde auch die Vorherrschaft der USA in Südamerika gefestigt. In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts waren nahezu alle Staaten Lateinamerikas den Diktaten des IWF unterworfen. Mit dem Verfall des Ölpreises unterwarf sich 1989 selbst das ölreiche Venezuela der Politik des IWF.

In der Praxis bedeutete dies in allen betroffenen Ländern eine politisch gewollte Verarmung großer Teile der Bevölkerung. Der Druck der USA auf die Regierungen, den Anbau der Coca-Pflanzen zu verhindern, führte zusätzlich zum Ruin vieler Bauern. Durch die IWF-Programme geforderte Preiserhöhungen für Nahrungsmittel oder öffentliche Dienstleistungen und die Privatisierung staatlicher Betriebe führte immer wieder zu Protesten gegen diese Politik, die teilweise auch Formen eines Aufstands annahmen. Bewegungen, die sich aus unterschiedlichen Motiven speisten, vereinten sich im Kampf gegen die neoliberalen Strukturanpassungsprogramme: Gewerkschaften, Indigene, Stadtteilinitiativen, Arbeitslose, Coca-Bauern und Campesinos. Der Widerstand vernetzte sich über Ländergrenzen hinweg, etwa in der Bewegung des Weltsozialforums oder gegen die von den USA dominierte Freihandelszone ALCA.

Der Aufstieg linker Regierungen

Die Reformprogramme des IWF konnten so immer schwerer durchgesetzt werden und die Hegemonie des Neoliberalismus neigte sich ihrem Ende zu. Etwa ab der Jahrhundertwende gelang es Land für Land die IWF-hörigen Regierungen abzulösen. Den Beginn machte Venezuela, wo Hugo Chavez 1998 zum Präsidenten gewählt wurde. Es folgten Brasilien (2002), Argentinien (2003), Uruguay (2004), Bolivien (2005), Ecuador (2007) und Paraguay im Jahr 2008. Die Bewegungen schufen sich in den meisten Ländern neue Parteien, führten in Argentinien aber auch zu einer Stärkung des linken Flügels der traditionellen peronistischen Partei um Nestor Kirchner. Der Sturz der Regierungen vollzog sich überall durch Wahlen, doch gab es zuvor auch heftige außerparlamentarische Kämpfe, durch die die Kräfteverhältnisse dauerhaft verändert wurden. Für die neu an die Regierung gekommenen Linksparteien gab es daher genügend Spielraum für eine mehr oder weniger radikale Abkehr vom Neoliberalismus.

Diese Parteien waren ideologisch keineswegs einheitlich, doch wurden überall ähnliche Schritte unternommen für eine Reform der Gesellschaft. So wurde die Rolle des Staates in der Wirtschaft gestärkt und ausländische Einmischungen (USA, IWF) wurden mit dem Hinweis auf die Souveränität des Landes zurückgewiesen. Im Zuge der IWF-Programme privatisierte Unternehmen wurden wieder verstaatlicht. Die Rechte der indigenen Einwohner wurden gestärkt, zum Teil auch durch Verfassungsänderungen. Neben dem parlamentarischen System wurden Elemente basisdemokratischer Entscheidungsprozesse auf kommunaler Ebene eingeführt. In der Wirtschaftspolitik gab es eine stärkere Orientierung auf den Binnenmarkt, eine deutliche Erhöhung der Sozialausgaben und die Rechte von Gewerkschaften wurden wieder hergestellt oder auch ausgeweitet.

Einige der neuen Regierungsparteien bezeichneten sich als »sozialistisch« oder hefteten dem Reformprozess in ihrem Land dieses Etikett an. Chavez rief in Venezuela den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« aus. Doch nirgendwo gab es tatsächlich eine Änderung der Produktionsverhältnisse. Die herrschende Klasse behielt ihre ökonomische Macht. Soweit es Verstaatlichungen gab, handelte es sich vor allem um die Rücküberführung zuvor privatisierter Unternehmen in die öffentliche Hand. Darüber hinaus gab es nur punktuell Enteignungen, vor allem wenn die Kapitalisten den Betrieb stilllegten oder den wirtschaftlichen Kurs boykottieren wollten. Landreformen wurden nur ansatzweise realisiert, der Großgrundbesitz blieb weitgehend unangetastet.

Einige Staaten versuchten auch eine stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Ziel, von den USA unabhängiger zu werden. Unter Einschluss Kubas gründeten Venezuela, Bolivien, Ecuador und einige kleinere Staaten Mittelamerikas und der Karibik den Staatenbund ALBA (spanisch: Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América), in dessen Rahmen mehrere Wirtschaftsabkommen geschlossen wurden, die hauptsächlich Gegenleistungen für die Lieferung von Erdöl aus Venezuela zum Gegenstand hatten.

»Neo-Extraktivismus«

Etwa zeitgleich mit der Linksentwicklung in Lateinamerika kam es zu einem Anstieg der Preise für Rohstoffe und Agrarprodukte. Möglich wurde dies durch ein starkes Wirtschaftswachstum vor allem in China und Indien, das eine enorme Nachfrage nach Rohstoffen generierte. Die Preise von Mineralien, Edelmetallen, landwirtschaftlichen Erzeugnissen und fossilen Brennstoffen stiegen bis 2008 auf ein beispiellos hohes Niveau. In den Staaten wurde daraufhin die Rohstoffausbeutung massiv ausgebaut. Dies geschah auch gegen den Widerstand von Teilen der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten und hatte ökologisch teilweise verheerende Auswirkungen. Der Anteil dieser Produkte am Gesamtexport stieg unaufhörlich, sowohl durch Preissteigerungen als auch durch Ausdehnung der Produktion: Von 2000 bis 2011 stieg der Anteil der Primärgüter am Gesamtexport Lateinamerikas von 27% auf über 60%, in Bolivien sogar auf 95%. Aber auch in den Staaten des Mercosur (Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay) erhöhte sich der Anteil auf 67 Prozent.

Rohstoffe und Agrarprodukte hatten für Lateinamerika seit jeher eine große Bedeutung. Nutznießer waren meist ausländische, vor allem US-amerikanische Konzerne und einheimische Großgrundbesitzer. Dieses Wirtschaftsmodell wird auch Extraktivismus genannt. Das neue an dem von den Linksregierungen betriebenen »Neo-Extraktivismus« war die Beteiligung der Bevölkerung, besonders der Armen an den Einnahmen aus dem Rohstoffexport. Die Ausbeutung der Rohstoffe erfolgt zum Teil direkt unter staatlicher Regie oder aber transnationale Konzerne müssen dafür ordentliche Gebühren und Steuern zahlen.

Mit den Einnahmen finanzierten die Regierungen umfangreiche Sozialprogramme und Investitionen in Bildung und Gesundheit. Den neuen linken Regierungen gelang es, die Armut in ihren Ländern stark zu reduzieren. Der Anteil der Menschen, die in Armut leben, ist in Lateinamerika seit den 1990er-Jahren massiv zurückgegangen, von 48 % 1990 auf 28 % im Jahr 2013 (CEPAL, Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik, 2014). Darüber hinaus wurde sehr stark in Bildungs- und Gesundheitswesen investiert. Die Regierungen erwiesen sich als unerwartet stabil und außer in Paraguay wurden sie auch bei Neuwahlen bestätigt.

Die steigenden Exporterlöse bescherten den Ländern einen großen Zahlungsbilanzüberschuss, der zu einer Aufwertung der einheimischen Währungen führte. Dadurch aber wurde der Import von Konsum- und Industriegütern erleichtert. Die Versorgung der Bevölkerung und auch vieler Betriebe konnte durch billige Einfuhren sichergestellt werden. Das führte aber andererseits auch zu einer Schwächung einheimischer Produktionsbetriebe, da sie sich gegen die billigen Importe nur schwer oder auch gar nicht behaupten konnten. Die notwendigen strukturellen Reformen der Ökonomien konnten so zurückgestellt werden, da es ja keine sichtbaren Probleme gab.

Die Krise der linken Regierungen

Die Grenzen eines solchen Entwicklungsmodells wurden aber dann deutlich, als die Preise für Rohstoffe einbrachen. Dies geschah ab 2012. Der Preis für das Barrel Rohöl ging von über 140 Dollar in der Spitze herunter bis auf 30 Dollar. Die Preise für Kupfer, Aluminium und Silber brachen um etwa ein Drittel ein. Damit gingen nicht nur die Exporteinnahmen drastisch zurück, es folgte auch eine Abwertung der Währungen und somit eine Verteuerung der Importe. Es zeigte sich, dass das Entwicklungsmodell des »Neo-Extraktivismus« nicht nachhaltig ist, sondern auf eine dauerhaft hohe Nachfrage nach Rohstoffen und fossilen Energieträgern angewiesen ist. Die ist jedoch nicht zu gewährleisten und die Regierungen mussten mit drastisch reduzierten Exporteinnahmen zurechtkommen. Diese Probleme äußern sich in den betroffenen Ländern verschieden und treffen diese auch unterschiedlich hart. Krisenerscheinungen gibt es jedoch bei allen und die Sozialprogramme – das wichtigste Projekt der Linksregierungen – mussten eingeschränkt werden.

Dies führte zu Unzufriedenheit großer Teile der Bevölkerung, auch bei jenen Schichten, die den Reformprozess am stärksten unterstützten. Diese Unzufriedenheit wurde verstärkt durch länderspezifische Erscheinungen wie Korruption und Vetternwirtschaft bei den politisch Verantwortlichen auf allen Ebenen. Bei regierungsfeindlichen Protesten kam es auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit hunderten von Toten.

USA können die Unzufriedenheit ausnützen

Den USA dürfte die Linksentwicklung von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen sein. Vor allem Venezuela unter Hugo Chavez mit seiner antiimperialistischen Rhetorik wurde als Feindbild aufgebaut. Er schloss ein enges Bündnis mit Kuba, dem Erzfeind der USA, und versuchte auf verschiedenen Wegen der Dominanz der USA in Lateinamerika zu begegnen. Doch waren die USA lange sehr stark im Nahen Osten engagiert und sahen in den Ländern selbst wohl auch nur wenig Anknüpfungspunkte für ein Eingreifen. Als allerdings im April 2002 Präsident Chavez bei einem Putschversuch von aufständischen Militärs verschleppt wurde, erkannte die Bush-Administration die Putschistenregierung sofort an. Doch scheiterte deren Versuch kläglich am Widerstand loyaler Armeeeinheiten und großer Teile der Bevölkerung. Erst mit dem Aufkommen größerer Proteste im Jahr 2014 sah die US-Regierung erneut Möglichkeiten für einen Regime-Change. Sie verhängte Sanktionen gegen Venezuela, die aber zuerst eher symbolisch blieben: So durften Maduro und andere nicht in die USA einreisen und dort keine Geschäfte machen. 2017 wurde in den USA der Handel mit venezolanischen Staatsanleihen verboten. Die USA zögerten sehr lange, wirkungsvollere Sanktionen zu verhängen, da sie selbst sehr abhängig sind von venezolanischem Öl. Im Januar 2019 sahen sie jedoch ihre Zeit gekommen, erklärten Oppositionsführer Guaidó zum Präsidenten und drohten unverhohlen mit militärischer Intervention. Nach einem Bericht der »jungen welt« vom 9.2.2019 geht es dabei auch um das Öl. Hier wird John Bolton, der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump zitiert: »Wir sind im Gespräch mit den wichtigsten amerikanischen Unternehmen, damit sie das Öl in Venezuela produzieren.«

Auf anderer Ebene intervenierten die USA schon vor der Eskalation von Anfang dieses Jahres. Bei Wahlkämpfen unterstützten sie massiv regierungsfeindliche Kräfte und verhalfen ihnen in Argentinien und Brasilien zum Sieg. Auch in Venezuela konnte die Opposition die Parlamentswahlen gewinnen, die Regierung entmachtete jedoch daraufhin das Parlament.

Schwierige Solidarität

Die neuen Rechtsregierungen begannen sofort damit, wesentliche Gesetze zur Sozialpolitik und zu den Rechten der arbeitenden Bevölkerung rückgängig zu machen. Die Rohstoff-Politik fällt weder ökologischer noch sozialer aus. Die Gewinne wandern schlicht wieder mehr in die Taschen der Privatwirtschaft. Die Rechte von Indigenen und Frauen werden bekämpft. Für Linke gibt es also keinen Grund diese reaktionären Kräfte zu unterstützen, auch wenn sie sich noch so demokratisch geben. Trotz aller Mängel der linken Regierungen: Sie verbesserten nicht nur die Lage der unteren Schichten, sondern schufen auch Freiräume für weitergehende politische Bewegungen. Und diese Freiräume gilt es zu verteidigen, wo es noch geht. Daher ist es wichtig, die Einmischungsversuche der USA und auch europäischer Staaten zurückzuweisen, die z.B. in Venezuela den selbst ernannten Präsidenten Guaidó anerkennen.

Doch auch das Entwicklungsmodell, auf dem die Erfolge südamerikanischer Linksregierungen aufbauten, scheint an einem Ende angelangt. Die sozialpolitischen Erfolge haben einmal natürlich mit dem Linksruck zu tun, der Lateinamerika eine ganze Weile geprägt hat, konnten aber in der Form nur durchgesetzt werden, weil ein weltweiter Konjunkturaufschwung dafür die notwendigen Devisen brachte. Mit dessen Ende sind dann auch die verschiedenen Reformprogramme gescheitert.

Unter diesen Voraussetzungen fällt es schwer, bei uns einen Standpunkt zu entwickeln. Eine Rechtsentwicklung, ob mit oder ohne US-Unterstützung, ist natürlich abzulehnen. Der Protest gegen ausländische Interventionsdrohungen ist daher richtig und wichtig. Doch auch eine unkritische Solidarität mit den Linksregierungen ist nicht hilfreich, wenn sie auf ein bloßes »No Pasaran« hinausläuft, die Regierungen selbst aber keine Perspektive mehr bieten können. Positionen, die sich darauf beschränken, die offiziellen Stellungnahmen wiederzugeben, die existierenden Mängel und Probleme aber ignorieren, wirken eher kontraproduktiv.

27.05.2019


aus: Arbeiterpolitik Nr. 2 / 2019

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