China entwickelt sich weiter –
in globaler Konfrontation zu den kapitalistischen Zentren

Zur Diskussion

Dieser Artikel ist unser vierter Beitrag zur (durchaus kontroversen) Diskussion um die gegenwärtige Rolle und Bewertung Chinas.
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Mit den ersten Auswirkungen des 5-Jahresplanes vom März 2021 wird eins deutlich: Zielsetzungen dieses 5-Jahres Planes sind stärkere ökonomische Autonomie, Erhöhung des Lebensstandards für alle, also auch für die Millionen Wanderarbeiter, und Erhöhung der nationalen Sicherheit. Der Präsident der EU-Handelskammer Wuttke sieht deshalb die Rolle der ausländischen Firmen in Chinas Wirtschaft im Abschwung. Einen Punkt hebt er besonders hervor: Der dynamische Privatsektor wird vom Staat unter Kontrolle genommen. Für ihn und die ausländischen Unternehmen besteht die große Frage, inwieweit sie in der Lage sein werden, zum künftigen Wirtschaftswachstum des Landes beizutragen. Doch nicht nur die Produktion so vieler deutscher Industrieller in China ist betroffen. Die weltweite Arbeitsteilung stellt für den Westen ein Hindernis in der Ausschaltung Chinas im weltweiten Handel dar, kann aber auch für China ein wunder Punkt sein.

Mit dem Hereinholen der kapitalistischen Produktionsweise ist die Zahl der chinesischen Millionäre und Milliardäre groß geworden. Dass Chinas große Technologiekonzerne, wie Alibaba, Tencent, der Smartphonehersteller Xiaomi, der Internethändler Pindaodao, an die Leine gelegt wurden und sofort Milliardenbeträge für Spenden z. B. für die Entwicklung der ärmeren ländlichen Regionen bereitstellten, ist im Lande und weltweit schon registriert worden. Die Regulierung des Wohnungsbauriesen Evergrand ging in der Bevölkerung einher mit dem Spruch: „Häuser sind zum Wohnen da“ (und nicht zum Spekulieren: innerhalb von zehn Jahren haben sich die Immobilienpreise verdoppelt). Über Jahre haben die Privatunternehmer davon profitiert, dass Peking sie kaum regulierte. Weiter geht es um den Mindestlohn für die Beschäftigten und um schwerwiegende Verstöße beim Umgang mit personenbezogenen Daten. Ist ein chinesisches Großunternehmen mit seinen Aktien an einer westlichen Börse (z. B. New York), so besteht die Gefahr, dass westliche Aktionäre Einfluss auf China nehmen. Dem will Peking vorbeugen; Beispiele einer starken Veränderung gegenüber dem Ausgangspunkt einer Reform- und Öffnungsphase 1978 mit Deng Xiaoping. Doch gesellschaftliche Veränderungen können nicht einfach mal eben von oben angeordnet werden. Wie tiefgehend Xis Anstoß ist, muss sich erst noch erweisen: Geht es nur um Spenden der Reichen an die Armen oder um gesellschaftlichen Fortschritt? Und welche Rolle spielen dabei die Lohnabhängigen?

Da China nach dem Sieg der Revolution mit seiner Industrialisierung zu langsam voran kam, hatte Deng in den Achtzigerjahren eine Entideologisierung der Wirtschaft und Gesellschaft eingeleitet: „Hauptsache, die Katze fängt Mäuse“. Neben dem gewaltigen Wirtschaftsaufschwung wuchsen aber auch Korruption und Ungleichheit. Xi Jinping gewann den Kampf gegen die Korruption und will die Jugend wieder gewinnen. Der Erhalt der Natur gehört mit zu den großen Zielen. Zwar soll die Rolle der vielen Staatsunternehmen weiter gestärkt werden, für die Privatwirtschaft gilt jedoch auch weiterhin der Schutz von Eigentumsrechten und Unternehmerinteressen. Innerhalb von 15 Jahren soll sich das Bruttoinlandsprodukt verdoppeln. Sichere und verlässliche Industrie- und Lieferketten, die autonom und kontrollierbar sind, sollen geschaffen werden. Parteizellen in den Betrieben sollen die Personalpolitik erkennen lassen und beeinflussen (Gewerkschaften verbesserten die Verhältnisse der Arbeiter bisher nicht: Für sie stand der Aufbau der Wirtschaft im Vordergrund). Dadurch, dass die Arbeiterklasse erst geschaffen werden musste und deshalb nicht revolutionär sein konnte, entstanden für uns schwer verständliche Widersprüche.

Um den Kurs der Regierungspolitik ist eine öffentliche Debatte entbrannt, die auch auf den Webseiten ausgetragen wird: Wohin steuern Partei und Staatschef Xi Jinping? Die eine Seite will, dass noch schärfer gegen die Großunternehmer vorgegangen wird: gegen Auswüchse beim Streben nach höheren Profiten, wie auch gegen Missstände im Bildungswesen. Die Kampfschrift eines pensionierten Redakteurs wurde dann auch in der „Volkszeitung“ abgedruckt – ein Zeichen der Zustimmung von oben. Die andere Seite warnt vor einem Chaos wie in der Kulturrevolution der 60er und 70er Jahre, die – so Xi vor wenigen Jahren – die chinesische Wirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs gebracht habe. Klang beim Einstieg in die Phase kapitalistische Produktionsweise „bereichert euch“ mit, so steht jetzt die Frage: „Soll dieser Weg jetzt wieder eingefangen werden?“

Das Augenmerk auf die Zielsetzung einer stärkeren ökonomischen Autonomie und die Verbesserung der sozialen Verhältnisse sind nicht zuletzt auch eine Antwort auf die langjährige aggressive Politik der USA gegenüber China. Nur in der Geschlossenheit der Gesellschaft sieht die Führung Chinas eine Möglichkeit, sich der Kampfansage der kapitalistischen Weltmacht entgegenzustellen, die sich auch in dem im September 2021 mit Australien und Großbritannien geschlossenen Sicherheitspakt Aukus für den Raum Indopazifik zeigt. Die USA haben dabei zunächst Frankreich aus einem milliardenschweren Atom-U-Boot-Geschäft mit Australien verdrängt und sich dann mit den Franzosen verständigt: Frankreich ist mit im Boot gegen China. So wie die USA bei der russischen Pipeline in der Ostsee und nun beim Atom-U-Boot-Geschäft mit Australien gehandelt haben, können auch andere Staaten unter Druck gesetzt werden. Nicht nur Deutschland muss auch mit ins Boot gegen China, die ganze NATO. (Die BRD schickte die Fregatte „Bayern“ auf Wunsch der USA in Gewässer vor China und Kanzlerin Merkel schwächte die politische Bedeutung mit einem Telefonat mit China ab). Militärisch sind die USA bereits seit vielen Jahren auf allen Kontinenten – in 36 Staaten – mit Stützpunkten vertreten. Und nicht nur im Südchinesischen Meer kreuzen Atom-U-Boote der USA: Damit verleihen sie ihrer Politik Nachdruck. Nicht umsonst hat China die Neue Seidenstraße geschaffen: Sie soll auch Sicherheit im chinesischen Handelsverkehr geben – und gleichzeitig Entwicklungsländern eine Weiterentwicklung ihrer Wirtschaft ermöglichen.

In der Frage will die EU nun Paroli bieten: Bis zu 300 Milliarden Euro sollen in die Infrastruktur von Entwicklungsländern investiert werden. Weltweit geht es zunehmend um die Sicherung der eigenen Wirtschaftsentwicklung. Die USA und die EU bauen in einigen Bereichen gegenseitige Schranken im Handel ab, um sie z. B. beim Stahl gegenüber China zu verstärken: Chinesischer Stahl wird als unsauber deklariert – im Gegensatz zur eigenen Produktion. Wie scheinheilig die westliche Propaganda gegen China ist, zeigt das Verschweigen der Tatsache, dass die Ursache des Anwachsens der Erderwärmung durch den Ausstoß von Kohlendioxyd seit Beginn der Industrialisierung bei den führenden kapitalistischen Staaten zu suchen ist, und nicht erst in der Gegenwart.

Nach jahrelangen Gegensätzen haben Russland und China eine enge Partnerschaft bekräftigt, die Jahrzehnte nicht bestanden hatte. Sie weiten ihren gegenseitigen Handel aus. Ausdruck für die wachsende Partnerschaft war auch ein gemeinsames Manöver – eine Reaktion auf die internationale Lage. Beide Staaten pflegen auch eine Partnerschaft zum Iran. Im Gegensatz dazu hatte Trump das Atomabkommen mit dem Iran gekündigt. Wenn auch sein Nachfolger Biden mit Chinas Führung über die Gemeinsamkeiten im Kampf gegen die Klimaerwärmung spricht und verbesserte Arbeitsmöglichkeiten von Journalisten vereinbart worden sind: Er ist dabei, den ganzen Westen gegen Russland und China auszurichten – und damit die globale Vormachtstellung der USA herauszustellen.

Hat sich auch der Kapitalismus, ausgehend vom mittelalterlichen Venedig in Jahrhunderten bis zur Ablösung des Feudalismus entwickelt, in China hat die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise Jahrzehnte gebraucht. Heute kopiert das Land nicht mehr nur westliche Techniken: Eigene technische Entwicklungen gewinnen an Bedeutung. Bei E-Autos (gemeinsam mit Tesla), E-Bikes, Hochgeschwindigkeitszügen, Kraftwerksanlagen, neuen Energien sowie Telekommunikationsausrüstungen gehört China schon zur internationalen Spitze, doch nicht bei den elektronischen Chips, mit denen elektronische Geräte Steuerungen vornehmen. Als eine wesentliche Voraussetzung für diese Entwicklung wird die Unabhängigkeit in Wissenschaft und Technik gesehen. Zu den konkreten Zielen gehören die Künstliche Intelligenz, Quanteninformatik, integrierte Schaltkreise, Lebens- und Gesundheitswissenschaften, Neurowissenschaft, biologische Züchtung, Luft- und Raumfahrt, Tiefschichten- und Tiefseeexploration. Das Land ist dabei, sein Industriesystem weiter zu modernisieren und seine Klimapolitik zu intensivieren.

China ist nicht mehr vorwiegend exportorientiert. Doch liegt 1/5 des globalen Wirtschaftswachstums inzwischen im Lande der Mitte, im 3. Quartal 2021 waren es 4,9 %. Gegenwärtig stockt aber die Produktion verschiedenster Fabriken im Lande; wie auch ganze Stadtteile von Großstädten haben sie keinen Strom mehr. Der Strompreis ist vom Staat gedeckelt und viele Kohlekraftwerke haben keine oder zu wenig Kohle – z. Zt. eine weltweite Erscheinung. Wenn China auch global gesehen die meisten Wind-, Sonnen- und Wasserkraftwerke hat, ohne Kohle ist die Energiesicherheit des Landes noch nicht gewährleistet und (nicht nur) der Kohleimport aus Australien ist auf Eis gelegt: Es ist Chinas Antwort auf die Forderung Australiens, in China nach den Ursachen der Corona-Pandemie zu suchen. Während die Vorräte geförderter Kohle kleiner werden – auf abgesackten Bergbauflächen stehen jetzt Solaranlagen – wächst noch die Einfuhr russischer Kohle. Trotz des Strommangels sind die chinesischen Exporte nach Europa stark gewachsen, während die Einfuhren aus der EU und besonders aus Deutschland sich abschwächten. Auch in China ist das Thema Klimaschutz politisiert: Klimaschutz ja, aber zuallererst Energiesicherheit.

Deutschen Unternehmen ist es auf absehbare Zeit nicht möglich, sich aus der wachsenden Abhängigkeit von Chinas Wirtschaft zu befreien – ohne dass es hierzulande zu Wohlstandsverlusten kommt. Für diesen riesigen Binnenmarkt gibt es einfach keinen Ersatz, und durch große Investitionen sind deutsche Unternehmen dort auf viele Jahre gebunden. Mit den in China erzielten Gewinnen (z. B. VW 19 % – in Wolfsburg dagegen 3 %) werden in Deutschland auch Löhne bezahlt.

In China selbst müssen noch markante Unterschiede im Lebensstandard der Bevölkerung im Lande überwunden werden: Während mehrere hundert Millionen Chinesen bereits durch die industrielle Entwicklung einen höheren Lebensstandard erreicht haben, müssen die Wanderarbeiter noch darum kämpfen: Sie tauschen inzwischen Kampferfahrungen mit ihres Gleichen in ganz China aus. Die Webseiten im Internet machen es möglich. Dadurch wird die eigene Kraft in den sozialen Kämpfen gestärkt – und ein gewisses Selbstbewusstsein geht daraus hervor.

In Hongkong zeichnet sich eine besondere Entwicklung ab. Dort hat sich der Gewerkschaftsdachverband 2021 aufgelöst, nachdem sich Gewerkschaften und oppositionelle Organisationen selber aufgelöst haben. Aufgrund des Drucks von Peking sieht er keine andere Wahl. Im Mai 2020 hatte der chinesische Volkskongress ein Gesetz zur nationalen Sicherheit beschlossen, das auch für Hongkong gilt. Nachdem Hongkong ein Jahrhundert lang eine britische Kolonie gewesen und von den Interessen Großbritanniens bestimmt war, wurde es 1997 Teil der Volksrepublik: Ein Land – zwei Systeme hieß der Kompromiss, den die Volksrepublik mit den Briten geschlossen hatte. Die Freiheiten, die Hongkong durch den Kompromiss genoss, hatte es als Kolonie nie gehabt. Bis 2047 sollte der Vertrag eigentlich gelten. Nun kommt das Ende wohl früher.

Nach anhaltenden Beschuldigungen der Lehrergewerkschaft in Hong Kong, Professional Teacher’s Union (HKPTU), als Vaterlandsverräter durch Presseorgane der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), teilte ihr Vorstand nach 48 Jahren Bestehen der Gewerkschaft am 10. August den 95.000 Mitgliedern den Beschluss zur Auflösung mit. Er sah „keinen Weg mehr in die Zukunft“. Das Lehrpersonal in Hongkong ist nicht sonderlich politisch, weiß aber, dass es eine unsichtbare rote Linie gibt, die nicht überschritten werden darf. In den Bibliotheken bleiben nur die Bücher in den Bücherregalen, die dem offiziellen Verständnis der chinesischen Kultur und Geschichte entsprechen. Im Unterricht sollen die Lehrer auf Anweisung aus Peking ein Element der „nationalen Sicherheitserziehung“ hinzufügen. Dieser Punkt zeigt, wo die Ursachen des Konfliktes in Honkong zu suchen sind und worum es der Führung in Peking geht.

Die weltpolitischen Verhältnisse haben sich seit dem Kompromissvertrag Chinas mit Großbritannien stark verändert: Die aggressive Politik der USA (in Gemeinschaft mit Verbündeten) gegenüber China führt dazu, dass die chinesische Führung keinen politischen Einfluss kapitalistischer Länder in Hongkong dulden kann: Zwar hat sich China industriell in wenigen Jahrzehnten rasant entwickelt, doch Sozialismus („jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“) nur in einem Lande ist nicht möglich. Und in der sozialistischen Planwirtschaft muss die treibende Kraft das mitdenkende und solidarische Handeln der Mehrheit der Arbeitenden sein, was durch die agrarische Ausgangslage der Volksrepublik erheblich erschwert wird. Sozialismus muss international durchgesetzt werden.

Das ist der Hintergrund dessen, was sich jetzt in Hongkong abspielt. Was Xi Jinping will, ist innenpolitische Stabilität, um Chinas wirtschaftliche und politische Entwicklung abzusichern: hinsteuern zu Staat statt Markt, Partei statt Kapital, das ist seine Devise.


Zur China-Diskussion:

22.03.2021 – Warum besteht heute Interesse an der China Diskussion?

27.02.2021 – Die Wahrheit in den Tatsachen suchen

22.02.2021 – Die Staaten, an deren Anfang eine siegreiche Revolution mit sozialistischem Ziel stand, …

Buchbesprechungen:

31.05.2021 – China – Aufstieg eines neuen Imperialismus ?
zum Buch von Renate Dillmann: China – Ein Lehrstück

31.05.2021 – Machtverschiebungen im Weltsystem – der Aufstieg Chinas und die große Krise
zum gleichnamigen Buch von Stefan Schmalz

Außerdem möchten wir auf die fünfteilige Artikel-Reihe “Wie der Kommunismus nach China kam”unserer Schwesterzeitung Arbeiterstimme hinweisen.


 

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